Wir dachten es sei Urlaub
Der dunkelrote Wein floss langsam ihre Kehle hinab, während sie auf die nächste Seite ihres Thrillers blätterte.
Irgendwo hier, an einem der unzähligen Seen im Süden Schwedens, nahe der kleinen Stadt Hyltebruk.
Gemeinsam mit ihrem Freund Chris, lag Chloe auf dem Boden der kleinen Hütte. Vor ihnen knisterte das brennende Holz im Kamin und verströmte diesen typischen Geruch, nach Wärme, Liebe, Natur und Freiheit.
Unter ihren Rücken die Decken, unter ihren Köpfen die Kissen aus dem Schlafzimmer. Auf dem Holztisch standen noch die Überbleibsel des Abendessen.
Zwei Wochen Auszeit hatten sie sich gegönnt. Waren mit dem kleinen, aber bis oben vollgepackten Renault von Hamburg nach Travemünde geheizt, um gerade noch rechtzeitig die Fähre nach Trelleborg zu bekommen. Schliefen auf dem Weg in der winzigen Kabine, nachdem Chris alle Notausgänge abgegangen und geprüft hatte. Der Stress und die Anstrengungen der letzten Tage gepaart mit dem sanften Schaukeln der Fähre hatte schnell dazu geführt, dass sie einschliefen. Dicht an Dicht, nebeneinander gekuschelt. Sich festhaltend.
Tatsächlich war es ihr erster gemeinsamer Urlaub, nachdem sie für fast ein Jahr ein Paar waren. Sie waren beide definitiv nicht die Pauschalurlauber und All-Inclusive Touristen.
Von Trelleborg waren sie in den frühen Morgenstunden noch knapp drei Stunden mit dem Auto gefahren. Vorbei an der Küste, an unzähligen Seen, über Straßen, deren Seiten von Bäumen begleitet wurden. FREIHEIT. Schon hier, auf den langgezogenen, fast leeren Straßen spürten sie die Ruhe und Entschleunigung, während die Sonne auf die Windschutzscheibe knallte.
Schon auf dem Weg zum Ferienhaus hatten sie unzählige Male angehalten, um Fotos zu machen. Hatten wartend gehofft einen Elch zu erblicken. Machten mit Hilfe des Stativ Bilder von sich vor angehäuften Baumstämmen. Stoppten für ein kleines Picknick bestehend aus selbstgebackenem Bot, Dips, Käse und Weintrauben. Über ihnen zwitscherten die Vögel. Die Luft war so klar, dass Chris und Chloe einfach da standen, den Duft durch ihre Nasenlöcher einzogen und ihre Lungen füllten.
Schließlich entdeckten sie die Auffahrt zu ihrem Gästehaus für die nächsten Tage und fuhren langsam den Pfad herunter. Neben dem blau / weiß gestrichenen Holz des Hauses, stand ein kleiner Schuppen. Das kleine Ruderboot, welches sie im Internet bereits auf Bildern gesehen hatten, schaukelte auf den Wellen des Sees hin und her.
Chris konnte es nicht fassen, als er am Nachbarhaus ein Auto mit deutschem Kennzeichen entdeckte. Hatte er sich doch so sehr nach Abgeschiedenheit, fernab von Menschen und Zivilisation gesehnt. Die Bilder auf der Webseite ließen nicht vermuten, dass so dicht bei noch ein anderes Ferienhaus sein würde. Solange das keine Partyclique war, oder eine Familie mit Kindern, die den ganzen Tag laut sein würden, wäre alles in Ordnung.
Abgesehen davon schienen die nächsten Nachbarn sehr weit entfernt. Zumindest hatten sie auf ihrer Fahrt hier her keine weiteren entdeckt. Na immerhin das.
Mittlerweile war es ihr dritter Tag hier. Regen. Anders als geplant. Doch das störte sie nicht. Waren sie doch gekommen, um abzuschalten. Sich noch besser kennenzulernen. Um zu kochen und zu lesen. Zu wandern, Fotos zu machen und im besten Fall ein paar Geocaches zu heben. Das hatten sie die letzten Tage ausgiebig getan. Hatten die Gegend erkundet. Waren durch die nahegelegenen Wälder gegangen. Durchgenässt „zuhause“ angekommen.
Wärmten sich mit heißem Tee. Mit leckeren Mahlzeiten. Unterhielten sich vor dem Kamin über ihre Vergangenheit. Ihre Wünsche. Ihre Ängste. Ihre Ziele. Ihre Leidenschaft. Hatten Sex. Viel davon. Lasen sich gegenseitig Märchen vor. Phantasierten über ihre gemeinsame Zukunft.
Die Dunkelheit hatte die Region umhüllt. Nur Spiegelbilder, wenn man von innen den Blick zu den Fenstern warf, wo die Flammen der Kerzen reflektiert wurden.
Chris verspürte den Drang eine zu rauchen. Er rappelte sich hoch, gab seiner Freundin einen Kuss, kramte in der Tasche nach seinen Zigaretten und trat vor die Tür. Fast schon gruselig erschien diese Stille. Diese tiefe Finsternis. Leise konnte man die kleinen Wellen hören, wie sie gegen die Steine klatschten. Konnte die Tropfen hören, wie sie auf die Baumkronen und den Boden darunter trafen. Keine Chance das gegenüberliegende Ufer zu sehen. Zu bewölkt für einen grandiosen Sternenhimmel. Auch, wenn ihm eigentlich bewusst war, dass sie hier zu südlich waren, hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, die Aurora Borealis zu sehen.
Nur vom Nachbarhaus kam ein wenig Helligkeit durch deren kleines Küchenfenster. Verwundert zog Chris an seiner Zigarette, denn er bemerkte, dass deren Auto nicht mehr dort stand. Abgreist? Nur einen Ausflug zu einem Restaurant und das Licht angelassen? Sollte er hinüber gehen? Mal prüfen, wie das Haus so war?
Energieverschwender, dachte er sich. Schnippte seine Zigarette in die Dunkelheit.
In seiner Jackentasche kramte er eine kleine Taschenlampe hervor und schlich zu dem Haus. Er wusste, dass er nicht leise sein musste. Schließlich war keiner
mehr dort. Und dennoch bewegte er sich vorsichtig, als wäre er auf geheimer Mission.
Er ging näher an das Haus. Betrat deren Terrasse. Das Holt knarrte unter seinen Füßen. Obwohl es aufgeweicht war durch den Regen. Geduckt kam er dichter. Streckte seinen Kopf und blickte mit den Augen durch eines der Fenster. Und erkannte...nichts. Der Lichtschein warf etwas Helligkeit in jeden Raum. Doch alles was Chris erkennen konnte, schien als wären die Nachbarn abgereist. Keine Taschen. Kein Müll. Kein Geschirr bei der Spüle. Er ging zur südlichen Seite des Hauses und schaute auch hier durch das Fenster. Das Bett abgezogen. Keine Reisetaschen. Keine Koffer.
Chris kam an einer der Türen. Wenn diese Hütte ähnlich aufgebaut war, wie die ihre, wäre dies die Hintertür durch die man zum Schlafzimmer und der Küche der kommen würde. Er legte seine Hand um den Knauf und drehte ihn. Ohne das sich etwas tat. Was ging denn bitte in ihm vor? War er komplett übergeschnappt?
Seine Finger verließen den Knauf und er machte ein paar Schritte zurück. Was, wenn einfach nur einer der Personen dort einkaufen gefahren wäre. Die anderen würden sich jetzt sicher fürchten.
Er stapfte die paar Meter zurück.. Weg von der Veranda. Weg von dem Licht. Ging zurück in die kleine Hütte, die sie gebucht hatten.
Er zog seine Schuhe im Vorflur aus, hängte seine Jacke an den Haken und kam in das kleine Wohnzimmer. Der Kamin strahlte soviel Hitze aus, dass es ihm vorkam, als würde er in eine Wand laufen. Chloe lag auf der Seite, hatte die Decke bis weit unter das Kinn gezogen. Die Augen geschlossen. Das Buch aufgeschlagen neben sich liegend.
Leise legte sich Chris zu ihr auf den Boden. Das Holz im Kamin glühte nur noch. Er versuchte noch ein paar Seiten über die Nimrod Expedition zu lesen,
allerdings fielen auch ihm immer öfter die Augen zu. Also legte auch er sein Buch zur Seite, drehte sich zu diesem unheimlich hübschen Wesen neben ihm und drückte sich fest an sie.
Es dauerte eine Weile bis er erkannte, wovon er wach wurde. Und mit ihm seine Freundin. Sein Kopf dröhnte von der Hitze im Raum. Vielleicht auch von der Flasche Rotwein. Sein Mund war trocken. Jeder Versuch zu schlucken schmerzte.
Erst jetzt realisierte er das Klopfen am Fenster. Wieder und wieder. Heftig. Fordernd. Unverständliche Laute dazu.
Schlagartig schoss sein Puls in die Höhe. Er war hellwach. Chloe rappelte sich hoch. Starrte zum Fenster. Erkannte ein männliches Gesicht. Drehte ihren Kopf schnell zu Chris. Besorgt. Griff seinen Unterarm. "Mach nicht auf!"
Christ rappelte sich auf und ging in Richtung Fenster, um die Gestalt besser sehen zu können.
Er sah ein Blutverschmiertes Gesicht. Ängstlich. Umhüllt von einer Kapuze, oder einem Schal. So genau konnte er das nicht erkennen. Die Augen schienen wässerig.
"HELFEN SIE MIR!" Panik in der Stimme.
Chris drehte sich zu Chloe. Sie schüttelte mit dem Kopf.
Erneut die Stimme von draußen: "WIR HATTEN EINEN UNFALL. MEINE FRAU... SIE... HELFEN SIE MIR!" Chris war sich unsicher. Die Finsternis da draußen, die Einsamkeit, der Blick seiner Freundin...alles machte ihm Angst. Er hatte zu viele Horrorfilme
gesehen. Zu viele Thriller gelesen. Er musste vorsichtig sein.
"Was ist passiert?" rief er der Person auf der anderen Seite der Scheibe entgegen.
"HELFEN SIE MIR! Mir ist kalt. Meine Frau... sie... sie braucht Hilfe. Lassen sie mich rein!"
Seine Stimme wurde leiser. Schien erschöpfter. Seine Hände stützten sich auf dem Fenstersims ab. Sein Blick in Richtung Boden gewandt. Seine Lunge außer Atem. Die Finger dreckig.
"Das kann ich nicht tun!" erwiderte Chris. Und setzte weiter an. "Warum haben sie nicht die Polizei gerufen?"
"Mein Handy ist bei dem Unfall scheinbar kaputt gegangen. BITTE. HELFEN SIE MIR! ICH BIN KEIN VERBRECHER. ICH BRAUCH HILFE. MEINE FRAU... sie ... sie stirbt. Sie ist eingeklemmt in dem Auto. BITTE!!!"
Chris war mulmig. Alles schien wie in einem Film. Chloe saß mittlerweile auf der Couch. Verängstigt schaute sie ihn an und schüttelte immer wieder mit dem Kopf. Hielt ihr Handy in der Hand.
"Baby. Ruf die Polizei. Sag denen wo wir sind. Und was passiert ist!"
"Wie ist denn hier die Nummer für die Polizei?"
"Kein Plan" antwortete Chris gereizt und drehte sich zu ihr. "Google das!"
"Darling, lass ihn nicht rein. Ich hab Angst!"
Chris bewegte sich vom Fenster weg, kniete sich vor sie. Seine Hände umfassten ihr Gesicht. Er schaute ihr tief in die Augen.
"Baby. alles ist gut. Wir müssen ihm helfen. Stell dir vor, dir passiert so etwas hier in der Region. Es regnet. Es ist kalt. Hör bitte auf, was schlimmes zu denken. Das ist kein Thriller."
"Du gehst da nicht raus, hörst Du? Ich trau der Sache nicht."
"Ruf den Notruf!" befahl er und drehte sich um.
Doch das Gesicht war verschwunden vor der Scheibe.
Lukas Herz schlug ihm bis zu den Mandeln. Alle seine Muskeln und Sinne waren angespannt. Das musste doch ein schlechter Scherz sein. Hatte es hier echt jemand auf sie abgesehen? So ein Quatsch. Niemals. Er musste sich zusammen reißen. Das war hier kein Film. Kein Buch. Hier brauchte jemand Hilfe. Er presste sein Gesicht an das Fenster. Sah nichts. Schaute auf den Boden. Sah nichts. Er hörte wie Chloe mit jemandem auf englisch sprach, bevor ihre Stimme stockte. Tränen ihre Augen verließen, während sie in den Gang zur Küche blickte.
Kalte strömte um seine Füße.
FUCK. DIE HINTERTÜR.
Chris machte einen Satz zu seiner Freundin. Stellte sich vor sie. Sah eine
Person am Ende der Küche. Vor dem Eingang zum Schlafzimmer. Blut tropfte auf den Holzboden. Der Wind wirbelte die Regentropfen in die kleine Hütte. Dann brach die Person vor ihnen zusammen.
Entschlossen machte Chris einen Schritt in die Küche. Griff eines der großen Messer aus dem Messerblock, drückte es Chloe in die Hand. Hielt ihre Handgelenke fest und schaute sie an. Er flüsterte ihr ins Ohr.
"Im Flur ist meine Jacke. Da drin ist der Autoschlüssel. Nimm ihn. Fahr los nach Hyltebruk." Sie schüttelte den Kopf.
"Ich lass dich hier nicht allein!" Ihre Worte waren kaum zu verstehen, weil sie so sehr weinte.
"FAHR! Hol die Polizei!"
Er riss sie von der Couch und drehte sie in Richtung Ausgang. Drückte sie sanft mit seiner Hand in ihrem Rücken in Richtung Tür. Begleitete sie, bis sie schließlich im Auto saß. In Trance startete sie den Motor. Er küsste sie ernst auf die Stirn. Dann auf den Mund. Griff den Erste Hilfe Kasten, der unter dem Fahrersitz lag.
"Fahr! Alles wird gut!"
Dann warf er die Fahrertür zu. Ohne zu warten, ohne ihr nachzusehen, ging er zurück in das Haus. Vernahm, wie sich der Wagen von der Auffahrt bewegte, den kleinen Berg herauf fuhr und die Lichter langsam in der Dunkelheit untergingen. Zitternd tippten ihre Finger auf dem Bildschirm ihres Handy herum, um sich den Weg in die Stadt anzeigen zu lassen.
Lachend lag diese Sichel des aufgehenden Mondes dort am Himmel. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 3:33 Uhr. Sie musste sich zusammenreißen, nicht zu schnell auf diesen Waldwegen und leeren Straßen zu fahren. Aber die Angst saß in ihren Knochen. Die Panik ließ sie schluchzen. Immer wieder tropften Tränen auf ihre Jogginghose. Der Handrücken verwischte das Mascara an ihren Augen, wie ein Scheibenwischer. Sorgte dafür, dass sie aussah wie ein Pandabär, aber immerhin besser sehen konnte.
Chris betrat die Hütte. Seine Schritte bedacht. Seine Sinne geschärft. Immer noch dröhnte sein Kopf. Griff in seine Hosentasche, führte das Spray zu seinem Mund, inhalierte tief den Wirkstoff, der seine Bronchien weiten würde. Verdammtes Asthma.
In dem Gang zum Flur lag noch immer die Person. Schon vom Wohnzimmer aus erkannte er, dass sich der Brustkorb hob und senkte. Ein gutes Zeichen. Bewusstlos, aber kein Kreislaufstillstand. Er wühlte in seinem Kopf zusammen, was er damals im Erste Hilfe Kurs gelernt hatte, bei der DLRG. Langsam näherte er sich dem Körper.
Chloe fegte über die Straßen. Zu schnell. Die Stämme und Wipfel fegten im Millisekundentakt vorbei. Die Wischblätter versuchten ihr Bestes, um für freie Sicht zu sorgen. Dann erkannte sie Blaulicht in der Ferne. Es kam dichter und dichter. Immer näher auf sie zu. Sie zog den Lichthebel links von ihr an sich heran. Die Fahrbahn vor ihr wurde durch das Aufflackern des Fernlichtes erhellt. Sie tippte auf den Knopf der Warnleuchte und reduzierte ihre Geschwindigkeit, bis der Wagen zum Stehen kam.
Der auf sie zukommende Wagen wurde ebenfalls langsamer und gab sich als Polizeiwagen zu erkennen. Er hielt neben ihr. Die Seitenscheibe fuhr
automatisch herunter. Chloe versuchte schnell auf englisch zu erklären, was passiert war.
"WHERE IS YOUR GUESTHOUSE?" schrie er sie an. Chloe zitterte, weinte. schluchzte und stotterte die Adresse heraus.
"STAY HERE. DO NOT MOVE AWAY!" wies der junge Polizist an und raste davon.
Nur er wusste bereits, dass ein PKW mit deutschem Kennzeichen unweit der Gegend gefunden wurde. Die Beifahrerseite eingedrückt durch einen Baum. Auf dem Sitz eine Frau. Tot. Ohne viel Blut im Innenraum. Umgekommen. Nicht durch den Unfall. Der Polizist vor Ort hatte die Zeichen an ihrem Hals erkannt. Strangulation. Vor dem Unfall. Die Tote auf dem Beifahrersitz wurde erwürgt. Ermordet. Vor dem Unfall hier auf einer der weiten, langen, einsamen Landstraßen.
Und der Fahrer war auf der Flucht. Irgendwo hier in der Gegend.