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Wir alle fallen tief
Wir alle fallen tief
Angst hatte sie. Große Angst. Obwohl es ihr Haus war, hatte sie Angst. Es lag nicht an der Kälte und nicht an der Dunkelheit, die durch die Zimmer schlichen, dass ihr die Gänsehaut über den Rücken lief. Sie hatte einfach nur Angst. Und diese Angst breitete sich aus.
Sie huschte aus ihrem Schlafzimmer, in dem ihr Mann lag, hinaus und schloss die Tür.
Weg musst du, hörte sie die Stimme in ihrem Kopf, weit weg, bevor es zu spät ist!
Es war die Stimme ihrer Mutter, die seit einigen Tagen in ihrem Kopf spukte. Sie war nicht plötzlich gekommen. Sie hatte sich an ihren Verstand herangeschlichen wie ein Jäger an seine Beute und hatte ihn schließlich erlegt. Zuerst war es nur ein Hauchen, das sie gehört hatte, dann ein Flüstern und schließlich die Stimme, die ihr Denken in den letzten Tagen dominierte.
Sie hüpfte auf Zehenspitzen durch das Haus. Durch den Flur vorbei an den Türen, hinter denen sich das Badezimmer, die Toilette und das Gästezimmer befanden. Sie musste an die schöne Zeit denken, die sie mit ihrem Mann hier verbracht hatte. Die vielen Male, die sie gemeinsam gebadet, sich gegenseitig eingecremt und massiert und sich stundenlang in den Armen gelegen hatten.
Und als er dich gegen den Türstock geworfen hatte, ertönte die Stimme ihrer Mutter und entriss sie ihren Erinnerungen. Sei jetzt bloß keine blöde Göre und verschwinde von hier! Was trauerst du ihm nach? Er hat dich, bei Gott, schlecht behandelt und du trauerst ihm nach? Bist du eine so blöde Göre? Dann bleib doch bei ihm, denn dann hast du es nicht anders verdient.
„Ich bin keine blöde Göre“, sagte sie zu der Stille des Hauses und schwor sich zugleich, nichts mehr zu sagen. Es war schrecklich. Die ganze Luft füllte sich mit dem Klang ihrer Worte und wollte sie nicht loslassen. Es schien, als hätte ihre Stimme die Richtung gewechselt und würde nun auf sie einschlagen.
Bleib nicht stehen! sagte ihre Mutter in ihren Kopf. Du musst weiter, verdammt noch ´mal! Gib jetzt nicht auf, auch wenn du es nicht anders gewohnt bist, als aufzugeben. Du bist das Opfer und musst fliehen!
Sie holte tief Luft und ging weiter, sie hatte nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben war.
Ihre Mutter hatte recht. Sie war gewohnt aufzugeben, und sie war hier wirklich das Opfer. Wie konnte sie einen solchen Mann nur lieben? Einen Mann, der nicht nur einmal fremd gegangen war. Einer, der sich nächtelang mit seinen Freunden betrank, um bei schwachsinnigen Kartenspielen und billigen Horrorstreifen die letzten Gehirnzellen zu vernichten, die sein kleiner Schädel beherbergt hatte. Einer, der ihr regelmäßig die Nase blutig schlägt.
Er ist tief gefallen, erzählte die Stimme, und du machst das Richtige. Fliehen, bevor er dich mitreißen konnte. So ist´s recht.
In der Dunkelheit konnte sie bereits die Haustür erkennen, jene Tür, die ihr die Freiheit schenken würde. Nur noch das Wohnzimmer musste sie überwinden, dann war es geschafft. Vorbei an den Kästen, dem Esstisch und der großen Wanduhr. Bevor sie zum Türknauf griff, blieb sie noch einmal stehen.
Mach sie auf und renn weg! befahl ihre Mutter. Oder willst du wieder zu ihm? Möchtest du dir etwa wieder etwas brechen lassen? Die Nase vielleicht? Oder willst du dir wieder sagen lassen, wie groß dein Arsch geworden ist? Willst du ihm vielleicht am Ende noch einmal beiwohnen? Schäme dich, du Nutte!
Nein, das wollte sie nicht. Es war wohl der richtige Weg, den sie gewählt hatte. Sie durfte nicht immer nur das Opfer sein. Nicht ihr ganzes Leben lang. Vier Jahre waren genug, nun musste sie etwas unternehmen. Und das hatte sie getan. Sie lächelte.
Sie öffnete die Tür. Am Horizont sah sie bereits die ersten Anzeichen des neuen Tages, das erste Hallo eines neuen Lebens.
Weißt du, was du noch zu tun hast? fragte ihre Mutter.
Das wusste sie. Die Freiheit genießen. Sie lief hinaus in den Garten, grub schnell ein Loch und warf das blutige Messer hinein, das sie in der Hand gehalten hatte.
Braves Mädchen, hörte sie ihre Mutter in ihrem Kopf sagen und lief in die Freiheit.