Winterzauber
Reglos steht er vor dem Wohnzimmerfenster seiner Erdgeschosswohnung und sieht dem Treiben der Schneeflocken zu. Langsam schweben sie zur Erde, als seien sie nicht überzeugt davon, dass sie wirklich dorthin wollten. Einige von ihnen werden von den Bäumen oder den Dächern der Häuser aufgefangen.
„Es ist schön heute“, bemerkt seine Schwester aus der Küche. Die kleine, rundliche Frau steht mit dem Rücken zu ihm und spült das Geschirr. „Begleitest du mich gleich zu einem Spaziergang?“
Für einen kurzen Moment erwacht er aus seiner Starre, zuckt zusammen. „Nein, nein. Lieber nicht.“
Nun dreht sie sich doch zu ihm um und mustert ihn prüfend von oben bis unten. Dann sieht sie ihm gerade heraus in die Augen. Dabei überkommt sie ein seltsames Gefühl, denn es ist, als ob ihr Blick durch ihn hindurchginge. Als seien es keine Augen, in die sie guckt, sondern zwei kleine, nahezu symmetrische Löcher.
Wo ist es bloß hin, dieses lebenslustige Funkeln in den Augen ihres Bruders, das früher so selbstverständlich war? Sie fühlt sich unwohl, aber sie nimmt eine aufrechte Haltung an.
Ist er geschrumpft, denkt sie plötzlich, denn der weißhaarige Mann vor ihr kam ihr sonst immer viel größer vor.
„Ich denke, du solltest ruhig einmal mitkommen. Wenigstens für ein halbes Stündchen. Die Bewegung und die frische Luft werden dir gut tun.“
Er schüttelt den Kopf. Entschieden, aber kraftlos.
Der Winter ist ihm die liebste Jahreszeit. Alles erscheint nur in weiß, schwarz, eventuell noch braun und dunkelgrün. Früher wirkte das alles auf ihn nur trostlos. Doch das Wissen darum, dass unter der Schneedecke in all dieser Trübnis neues, farbenprächtiges Leben entsteht, macht ihn froh. Die Schneedecke erscheint ihm wie das Tuch eines Zauberers, der darunter wunderliche Dinge geschehen lässt. Der Winter ist die Zeit, in der die Natur die nötigen Vorbereitungen trifft, um den kahlen Bäumen grüne Blätter, den Wiesen bunte Blumen zu verleihen. Er haucht all dem leblos Erscheinendem wieder Leben ein.
Wie also könnte er es wagen, hinaus zu gehen und ohne jeden Respekt Löcher in das weiße Zaubertuch zu stapfen? Wer konnte garantieren, dass er die Entstehung von Leben damit nicht behinderte? Vielleicht würde das Gras an dieser Stelle eine Spur weniger grün sein, oder nicht so hoch wachsen.
Doch diese Gedanken behält er für sich.
„Nein, ich werde nicht mitkommen. Geh du nur, ich werde hier auf dich warten.“
Sie lacht kurz auf. „Warten, ja. Aber nicht auf mich. Du wartest auf Berta, Helmut. Aber sie kommt nicht mehr. Akzeptier es doch endlich!“ Er sackt zusammen. Mit dem runden Rücken wirkt er sehr alt und gebrechlich. Jetzt ist sie wirklich genauso groß wie er. Sie, die kleine Schwester. Er steht da, wie festgewachsen. Als wüsste er nicht, wohin er sich bewegen könnte. Sein Gesicht blickt traurig, die Augen stumpf. Kein Funkeln, keine Tränen. Leer.
Seit vier Monaten sind sie leer.
Vor vier Monaten hat Berta ihm den Glanz aus den Blicken genommen. Mit ins Grab genommen, hat sie ihn. Berta, seine Frau, die er bis zum letzten Moment geliebt hat.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dreht er sich wieder dem Fenster zu.
Sein Blick schweift in die Ferne, zurück in die Vergangenheit. Berta. Dass sie sich kennen lernten ist nun fast genau 42 Jahre her. Er weiß es noch ganz genau. „Damals blühten schon die ersten Krokusse“, sagt er mit monotoner Stimme zu sich selbst. Das erste Blumensträußchen für Berta hatte aus Krokussen bestanden. Es wirkte mickrig gegen das Lächeln in Bertas Gesicht, dieses zauberhafte Lachen, mit dem sie sein Geschenk annahm.
„Hier ist dein Mantel“, ertönte die Stimme seiner Schwester unerbittlich neben ihm. „Komm jetzt mit. Tu es wenigstens für mich!“
Geschlagen schlüpft er in die Ärmel, das Zuknöpfen vergisst er. Sie macht ihn nicht darauf aufmerksam. Nachher weigert er sich doch wieder rauszugehen, dabei ist sie sicher, dass es ihm gut tun wird. Sie schubst ihn ein wenig durch die Haustür und während sie abschließt, sieht sie ihn einige Schritte vorausschlurfen. Den Blick stetig auf den Boden gerichtet. Er konzentriert sich darauf, den zugeschneiten Plattenweg nicht zu verlassen. Seltsam, denkt sie, sonst ist er immer direkt über die Wiese gegangen. Langsam legt sie den Riemen der Handtasche über die Schulter und geht ihm nach. Fast stößt sie mit ihm zusammen, als er unverhofft inne hält und sich aufrichtet. „Sieh nur, der Zauber hat schon stattgefunden! Ich habe es noch nicht bemerkt!“. Er deutet auf eine gelbe Krokuspflanze, die neben den Platten aus der Erde sprießt. „Es ist ein Zeichen!“
Verständnislos schüttelt sie den Kopf. Doch sie hält die Worte zurück, denn plötzlich scheint Helmut zu wachsen. Sie sieht die Träne in seinem Augenwinkel, sieht sie glitzern. Und dann sagt er wie aus heiterem Himmel: „ Na, komm schon, lass uns weitergehen!“
Er ist schon ein komischer Kauz, denkt sie, schüttelt den Kopf und setzt sich dann energisch in Bewegung. Arm in Arm marschieren sie los und hinterlassen nichts als ein paar Stapfen im Schnee, die von neuen Schneeflocken sofort entdeckt werden.