Winterwald
Winterwald
Die Sonne am Horizont ging langsam unter und in der Abenddämmerung wurden die Tiere des Waldes hungrig. Wie jeden Tag verließen sie das Unterholz, um auf der Wiese frisches Futter zu suchen.
Aber irgendetwas war heute anders. Wo war der Gesang der Grillen? Schmetterlinge flogen aufgeregt durch die Lüfte. Wo waren das Gras, die Kräuter und Wildblumen wie Margariten, Glockenblumen und Löwenzahn?
Aufgeregt versammelt schauten Rehe, Hasen und andere Tiere auf die freie gemähte Fläche. Hier war alles weg. Kleine Mäuschen schauten aus den jetzt ungeschützten Mauselöchern, immer auf der Hut vor Feinden.
Herannahende Wolken verdunkelten den Himmel und leichter Regen setzte ein.
Es war wie ein Weinen der Natur um das Zerstörte.
Dann zeigte sich kurz die Abendsonne und ein wunderbarer Regenbogen ließ seine satten Farben strahlen.
Der große Hirsch schaute traurig umher und sprach: „Lasst uns weiter ziehen, die Wiese braucht Zeit, um nachzuwachsen.“ So setzten sich die Tiere in Bewegung und verließen das Revier.
Gina ging mit ihrem Opa wie jedes Wochenende in den Wald spazieren. Der Opa wusste so viel und jedes Mal entdeckten sie neue Pflanzen und auch kleine Tiere. Dazu sangen die Vögel und der Wind fuhr auf seiner Reise leise durch die Bäume. Jetzt Anfang Herbst verfärbte sich das Laub und es sah so schön bunt aus. Gina hatte schon viele Blätter gesammelt, gepresst und in ein Album sortiert. Dahinter stand fein säuberlich der Name der
Bäume.
„Oh, wo ist die schöne Wiese?“, fragend sah sie ihren Opa an.
„Gemäht…“ antwortete der Großvater und sein Blick schweifte umher.
Es war so still hier, sah so trostlos aus.
„Die Wiese war so schön. Wo sind die Grashupfer, Insekten und der Duft der Gräser?“
Gina verstand die Welt nicht mehr. Hier war es immer toll gewesen. Es würde dauern, bis alles wieder nachgewachsen war.
Der Großvater zuckte verlegen mit den Schultern.
„Da kann man wohl nichts machen, Gina. Die Wiese gehört dem Großbauern und der braucht
das Gras für seine Tiere als Futter und Heu.“
„Die armen Tiere des Waldes!“, entfuhr es Gina traurig.
„Weißt du was, Gina. Wir werden Kastanien und Eicheln sammeln, auch Tannenzapfen und das Gras von unserer kleine Wiese vor dem Haus lassen wir nach dem Mähen trocknen und
dann bringen wir alles im Winter den Tieren als Wiedergutmachung.“
„Oh ja! Dann bauen wir einen riesengroßen Schneemann, der auf alles aufpasst.“, zwinkerte sie und lachte den Großvater an.
So wurde es gemacht. Gina und ihre Freunde sammelten Kastanien, Eicheln und waren stolz, wie sich der Schatz für die Tiere vermehrte. So verging die Zeit, es wurde kalt, die ersten
Schneeflocken fielen vom Himmel und die Menschen bereiteten sich so langsam auf das
Weihnachtsfest vor. Der Wald verwandelte sich in einem wunderschönen Winterwald.
An einem Samstag kurz vor dem Weihnachtsfest wurde der Schlitten beladen. Heu, Kastanien und Eicheln, sogar einige Möhren und Mais. Dann ging es in den Winterwald hinein.
Die Lichtung der Wildblumenwiese war das Ziel. Hier sollte jetzt die Futterstelle für die Tiere entstehen. Schön sah alles aus. Die Bäume waren mit Schnee bedeckt, der wie Zuckerhäubchen erschien und die Wiese glich einem weißen Teller. Großvater fing an, einen Teil der Fläche vom Schnee zu befreien. Die Kinder lachten, halfen und bauten einen wunderschönen Schneemann. Es war gar nicht so einfach, Steine für die Augen und Mund zu finden. Eine schöne dicke Möhre diente als Nase. Einige Zweige wurden seitlich in einen Schneearm gesteckt. Ja, eigentlich fehlte nur noch ein Hut, aber auch ohne sah dieser schön dick und rund mit seinem lachenden Mund aus.
Die Kinder waren mit ihrem Werk zufrieden und das Futter würde bald die Tiere des Waldes anlocken. Fröhlich schritten sie von dannen.
Still wurde es auf der Wiese. Still? Blinzelte da nicht unser Schneemann? Die Möhrennase
bewegte sich und es war ein Lächeln, dass ihm entglitt. Ja, die Kinder hatten ihn erschaffen und er freute sich darüber.
Ein Rabe flog herbei und setzte sich auf einen Zweig, der im Schneearm befestigt war.
„Krah, krah, was bist du denn für einer?“, krähte er heraus und blickte neugierig auf die
riesige Möhrennase.
„Ich bin nur der Schneemann und würdest du bitte nicht auf meinem Besen so rumzappeln! Der geht noch kaputt, oder die Zweige brechen und das finde ich gar nicht so gut.“
„Dann setze ich mich eben auf deinen Kopf oder deine Nase. Du kannst eh nichts machen. Stehst hier wie angefroren, kannst dich nicht bewegen, du bist eigentlich arm dran.“
„Da magst du zwar Recht haben, aber ich freue mich, dass ich hier sein darf. Mein kurzes Dasein werde ich jedenfalls genießen.“
„Was heißt kurzes Dasein?“
„Nun ja, wenn es wärmer wird, werde ich wohl schmelzen.“
Inzwischen fanden sich mehrere Waldbewohner ein und alle bestaunten den Neuankömmling.
„Hast du das Futter gebracht?“, wollte ein kleiner Hase wissen.
„Nein, aber ich werde euch Gesellschaft leisten.“
So fraßen die Tiere friedlich nebeneinander und die Kunde, dass es hier im Wald einen Schneemann gab, verbreitete sich superschnell im Wald.
Am Abend, als es dunkel wurde, zogen sich die Tiere wieder zurück und unser Schneemann blieb alleine und blickte zu den Sternen. Der Mond erhellte den Wald und alles sah wunderschön aus.
`Schade, das ich nicht laufen kann`, dachte er, sah, wie eine Sternschnuppe vom Himmel fiel, wünschte sich…
Irgendetwas kitzelte. Eine heiße Nase ließ etwas Schnee schmelzen.
Meister Fuchs, der auf Jagd war, begutachtete den weißen Mann. Dann schlenderte er zur Futterstelle und schnüffelte, konnte ja sein, dass hier auch etwas Fressbares für ihn dabei war.
Enttäuscht blickte er auf – kein Aas, keine Würmer –nichts.
Durch das Rauschen des Windes blickten beide in den Himmel.
Ein Schlitten mit sechs Renntieren flog direkt auf die Lichtung zu und sie trauten ihren Augen nicht, als dieser Schlitten zur Landung ansetzte.
Der Fuchs versteckte sich gleich in einem nahe liegendem Gebüsch.
„Ho, ho, ho…“, erklang eine tiefe Stimme. Ein alter Mann mit einem roten Mantel und weißen langen Bart sprang aus dem Schlitten und streckte sich. Der Schlitten war voll beladen mit vielen Geschenken für die Kinder.
„Ich muss ein bisschen ausruhen.“, sprach er und streichelte seine Tiere.
Der Schneemann traute sich kein Wort zu sagen. Erst als sich der Weihnachtsmann umdrehte, entfuhr ihm ein kleiner Seufzer.
„Ich weiß, du willst laufen“, bemerkte der Weihnachtsmann. „Ich kann dir diesen Wunsch
nicht erfüllen, es sei denn, es passiert etwas Ungewöhnliches. Du sollst hier im Wald bleiben und den Tieren Gesellschaft leisten. Das ist deine Aufgabe und ich, ja, habe noch so viel zu tun. Die Kinder warten und wollen ihre Geschenke.
Aber hier habe ich auch etwas für dich.“
Er kramte in seinem Schlitten und zog einen wunderschönen schwarzen Zylinder heraus. Diesen setzte er dem Schneemann auf dem Kopf und dann war er auch schon wieder im Schlitten und flog von dannen.
Kurz danach kam der Fuchs aus seinem Versteck heraus, umkreiste begutachtend den Dicken. „Nicht übel. Ich wusste, dass an dir etwas fehlt.“
Auch die Eule, die gerade auf den Jagd war, kam herbei geflogen und bewunderte das gute Stück.
Stolz rekelte sich der Schneemann.
Aber was war das? Dort im Schnee glitzerte etwas.
„Schaut dort, der Weihnachtsmann hat etwas verloren.“
Der Fuchs und die Eule eilten gleich hin.
Ein Geschenk lag im Schnee.
Der Weihnachtsmann hatte ein Geschenk verloren. Ein Kind würde nun traurig am Weihnachtsbaum stehen und vergeblich auf das Gewünschte warten.
„Für wen ist das Geschenk?“, wollte der Schneemann wissen.
„Wir können doch nicht lesen.“, antworteten die Tiere auf das schöne Paket sehend.
„Wir müssen doch etwas tun!“, sprach der Weiße.
„Bitte lieber Weihnachtsmann, es ist Ungewöhnliches geschehen. Lasse mich laufen und lesen!“
Dann versuchte er es und die Eule und der Fuchs wurden Zeugen über ein Wunder - der Schneemann konnte gehen, nahm das Geschenk und las: „Gina.“
Oh, ausgerechnet Gina, die ihn erschaffen hatte. Nein, es durfte nicht sein, dass Gina ihr
Geschenk nicht erhielt. Viel Zeit blieb nicht mehr, das Weihnachtstag war morgen.
„Ich weiß, wo Gina wohnt.“, sprach die Eule. „Wir werden dich begleiten.“
So zogen die Drei los, um Gina das Geschenk zu bringen.
Es war gegen 4.00 Uhr Morgens, als sie das Haus erreichten.
Der Schneemann staunte nicht schlecht über die wunderschön geschmückten Straßen und
Häuser. Überall brannten kleine bunte Kerzen, die den Schnee glitzern ließen.
Am Haus angekommen, legte er das Paket vor die Tür und bevor der Rückweg angetreten wurde, schaute er in das Fenster. Dort stand ein Weihnachtsbaum, prächtig herausgeputzt mit bunten Kugeln, kleinen Kerzen und Lametta. Es war wunderschön.
Ein leises „Oh, wie schön“, entfuhr ihm. Dann wandte er sich um und beeilte sich wieder in den Winterwald zu kommen.
Als die Sonne am Horizont aufging, stand er wieder auf der Waldwiese.
Was für eine aufregende Nacht hatte er erlebt. Schnell hatte sich das Erlebnis bei allen
Tieren im Wald herumgesprochen.
„Du kannst gehen?“, sprachen sie und forderten den Schneemann auf, ein paar Schritte zu laufen.
Das wollte er auch tun, aber er konnte nicht. Schon fing er an zu zweifeln, dachte, dass er Alles geträumt hatte, aber sein Hut war Zeuge über das Erlebte.
Doch er war nicht traurig. Er hatte diese Nacht Gutes getan und sein Wunsch, einmal zu laufen, war auch in Erfüllung gegangen.
Hier war jetzt sein Platz und für die Waldbewohner war er Treffpunkt, Ruhepol und guter Freund bis der Frühling ihn zum Schmelzen bringen würde.