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Winterreise
Es ist Montag, 16 Uhr. Ich sitze ganz hinten im Hörsaal, vor mir der heruntergeklappte Tisch. Das ausgedruckte Skript liegt vor mir, Thema Resilienz. Ich male Gesichter an den Rand, mein Rücken tut weh vom Sitz.
„Gib dir das“, sagt der Kommilitone neben mir. Er trägt ein schwarzes Nike T-Shirt, ist groß und breit gebaut. Auf seinem iPhone sehe ich einen Snap, das Bild ist nach einigen Sekunden weg.
„Toll“, antworte ich sarkastisch.
„Nur, weil du keine hast.“
Ich wende mich ab, male ein neues Gesicht. Wenn ich nicht zuhöre, hat die monotone Stimme des Professors etwas Beruhigendes. Doch auf einmal wird es still. Ich schaue hoch.
In dem Moment öffnet sich die Tür vorne neben dem Professor. Normalerweise bleibt sie geschlossen, Studenten müssen den oberen Eingang nehmen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Professors kommt herein und hält die Tür auf. Ein elektrischer Rollstuhl fährt in den Saal, darin sitzt ein alter Mann mit Glatze. Um seine Brust ist ein Gurt geschnallt, der hinten an der Lehne festgemacht ist. Gemurmel setzt ein.
Ich stoße meinen Kommilitonen an. „Wer ist das?“
„Du hörst echt gar nicht zu. Hat er doch letzte Woche gesagt“, antwortet er.
„Ruhe, bitte!“, ruft der Professor. Es wird still, man hört nur das leise Summen des Rollstuhls. Dann stellt der Professor den Gast als Komponisten klassischer Musik vor. Zudem sei er Spezialist auf dem Gebiet der Resilienz. Einige klatschen, ich male meinem verunglückten Piratenkapitän eine Narbe über die Wange.
„Sie sind so freundlich“, sagt der alte Mann. „Keine Sorge, ich habe nicht vor, Sie allzu lange zu langweilen. Und stellen Sie gerne Fragen zwischendurch. Passt Ihnen das?“
Mein Kommilitone äfft den Alten leise nach: „Passt Ihnen das?“ Ich muss lachen, während ich die Augenklappe zeichne.
„Wer von Ihnen stand schon einmal vor einem Hindernis, das unüberwindbar aussah?“, fragt der alte Mann. Fehlt nur noch, dass er uns dazu auffordert, die Hand zu heben.
„In solchen Augenblicken hilft uns Resilienz. Es ist die Widerstandskraft der Psyche. Einer der Begründer war sicherlich Viktor Frankl. Er hat, nachdem er mehrere Konzentrationslager überlebte, die Logotherapie entwickelt. Kernaussage ist, dass uns Sinn im Leben widerstandsfähig macht.“ Seine Stimme klingt monoton, als hätte er den Text auswendig gelernt.
Er nimmt einen tiefen Atemzug. „Bei mir gab es auch so ein Hindernis. Ich war auf dem Höhepunkt meiner Karriere als Komponist. Wir waren zu dritt etwas essen.“ Seine Stimme beginnt leicht zu zittern, verliert den professionellen Klang. „Ich erinnere mich an das Gesicht der Kellnerin und an den Geruch von gebratenem Lachs. Als wäre es gestern passiert. Ich war Beifahrer. Wir waren nicht schuld.“ Er macht eine Pause.
„Der Arzt diagnostizierte Tetraplegie. Querschnittslähmung. Ich habe absolut keinen Sinn mehr gesehen. Alles war dunkel. Kennen Sie dieses Gefühl? Wenn alles sinnlos erscheint, man sich fehl am Platz fühlt?“ Seine Stimme ist leiser geworden.
Ich schaue auf das Piratengesicht vor mir mit Narbe und Augenklappe, drehe den Kopf zu meinem Kommilitonen. Er schaut auf sein Handy. Ich hebe meinen Blick erneut, lege den Stift zur Seite. Klein sieht er aus, wie er da in seinem Rollstuhl sitzt. Tiefe Falten ziehen sich durch sein Gesicht.
„Heute kommt es mir erstaunlich vor, wie schnell ich damals kopfüber ins Unglück gestürzt bin.“ Der alte Mann spricht davon, wie er nach dem Unfall im Schockraum aufwachte. Wie die Krankenschwester auf seine Frage, ob er je wieder am Flügel sitzen könne, den Kopf schüttelte.
„Hat mir die Hoffnung genommen. Nicht einmal hassen konnte ich. Habe sogar abgelehnt, als Zeuge gegen den Unfallfahrer auszusagen.“
Er berichtet weiter, dass danach das Selbstmitleid eingesetzt habe. Tagelang habe er sich in seinen negativen Gedankenschleifen verloren. Der Gipfel seines Selbstmitleids sei der Punkt gewesen, als er ein Buch von seiner Tante geschenkt bekam. „Sie hat mir doch tatsächlich ein Buch mit Liebesgedichten des Orients geschickt. Mit so einem kitschigen Titel. Gold auf Lapislazuli.“ Lachend schüttelt er den Kopf, dann wird er schlagartig wieder ernst. Sein Blick wandert ins Leere, wird ausdruckslos. Es wird still im Hörsaal.
Mir brennt eine Frage auf der Seele, die ich dem alten Mann stellen möchte, doch ich habe Angst davor, was mein Kommilitone von mir denken könnte. Scheiß drauf. „Wie haben Sie es geschafft?“, frage ich fast flüsternd. Der alte Mann schaut hoch, erwacht aus seinen schmerzhaften Erinnerungen.
„Bitte?“
„Wie haben Sie es geschafft?“
Er räuspert sich. „Meine Frau und Musik. Sie ist jeden Tag gekommen. Hat mich ermutigt. Manchmal sogar zu viel. Aber sie hat einen CD-Player mitgebracht. Einen altmodischen CD-Player. Und meine Lieblingsmusik angemacht. Mozart, Beethoven und Schubert. Ja, Schuberts Winterreise hat mich schwer getroffen. Er hat in 24 Liedern die Gedichte eines jungen, verzweifelten Wanderers vertont. Nichts drückt den existenziellen Schmerz des Menschseins besser aus. Mein Lieblingslied ist der Leiermann. In dem Lied steht ein alter Mann barfuß auf dem Eis. Er spielt unaufhörlich seine Leier. Keiner sieht ihn an, keiner hört ihm zu. Nur die Hunde knurren. Sein Teller für die Münzen bleibt immer leer. Damals habe ich mich wie der Leiermann gefühlt.“
Ich notiere mir schnell den Namen des Lieds und rutsche auf meinem Sitz nach vorne. Mein Rücken tut nicht mehr weh. Als mich mein Kommilitone antippt, schüttele ich den Kopf. „Später.“
„Da wusste ich plötzlich, dass ich nicht alleine bin mit meinem Schmerz. Schubert hat mich verstanden. Das war der erste Schritt.“ Er schaut mir direkt in die Augen und fragt: „Können Sie das nachvollziehen?“
„Sie waren nicht mehr alleine. Ja. Aber mir ist nicht klar, wie Sie es dann geschafft haben. Aus diesem Schmerz.“
Er nickt. „Gute Frage. Ich habe angefangen mitzusingen. Habe zu Schuberts Musik den Text gesungen. Erst heimlich, nur für mich. Dann vor meiner Frau. Es gibt da diese Stelle beim Leiermann.“ Er atmet tief ein und beginnt behutsam zu singen. Es hört sich ganz natürlich an:
„Und er lässt es gehen
alles, wie es will,
dreht und seine Leier
steht ihm nimmer still.“
Seine tiefe, angenehme Stimme berührt etwas in mir. Ich erinnere mich an meinen Vater, wie er mir vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorlas. Jeden Abend bis auf montags, die besten Erinnerungen an meine Kindheit. Ich durfte die Bücher immer selbst aussuchen. Die gesamten sieben Bände von Harry Potter trug er mit seiner tiefen Stimme vor. Den siebten Band übersetzte er sogar aus dem Englischen, damit ich nicht so lange warten musste. Später, nach der Trennung, bekam ich mit, dass er nichts von J. K. Rowling hielt, die Harry Potter Bücher als gut zusammengeklaute Schundliteratur bezeichnete. Jetzt lebt er mit seiner neuen Frau und einem kleinen Sohn in einer Doppelhaushälfte. Er hat kaum noch Zeit für mich. Ob er ihm auch Harry Potter vorliest?
„Dieses Lied war der Wendepunkt. Wissen Sie, als ich erkannte, dass ich sehr wohl noch singen konnte, habe ich nach und nach wieder einen Sinn gesehen.“
Dann spricht er davon, wie Stephen Hawking ihn inspirierte und dass er heute per Computer komponiere, den er über seine Gesichtsmuskeln steuere.
„Das erste Mal wieder komponieren. Nach dem Unfall. Sie können sich das nicht vorstellen. Damals hätte ich das nie geglaubt.“ Er sieht glücklich aus, seine Augen leuchten. Dann dreht er den Kopf und schaut auf die Uhr an der Wand. „Aber ich rede schon viel zu lange. Lassen Sie mich Ihnen abschließend noch mitgeben: Suchen Sie sich liebevolle Partner oder Partnerinnen.“ Ein verschmitztes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Es gibt Gelächter. „Nein, im Ernst. Und lernen Sie, alles so gehen zu lassen, wie es ist. Akzeptieren Sie die Situation und dann werden Sie aktiv. Glauben Sie mir, es gibt immer eine Möglichkeit.“
„Was für ein Vortrag“, sage ich zu meinem Kommilitonen.
Er schaut mich an, schüttelt den Kopf.
„Spinner. Gib dir das“, antwortet er und zeigt mir wieder einen Snap auf seinem iPhone. Diesmal antworte ich nicht.
- Verwendete Wörter
- Rollstuhl, Zeuge, Lapislazuli, Flügel, kopfüber