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Wintermelodie
Schneeflocken wirbelten durch die Luft und spielten mit dem Wind. Awanata hatte unter einem Felsvorsprung Schutz gefunden, wo ihr ein Feuer Wärme spendete. Kräuter flogen in die Flammen und die vielfarbigen Funken lockten einen Geist an, doch die Frau aus dem Volk der Miwokindianer sang unbeirrt weiter ein Lied ihrer Vorfahren. Die durchsichtige Gestalt schwebte inmitten des Rauchs, formte daraus ein Kanu und verschwand. Awanata nickte und bedankte sich mit wenigen Worten bei der Erscheinung. Sie erstickte das Feuer und packte ihre Habseligkeiten zusammen.
Das Rauschen eines Flusses durchbrach die winterliche Stille. Der wohlvertraute Klang brachte ein Lächeln auf das faltige Gesicht Awanatas. Ihr Ziel lag am Fluss des heiligen Bären. Jedes Jahr kehrte Awanata dorthin zurück, um ihren Geburtstag in Ruhe zu verbringen.
Der Fluss schlängelte sich durch eine verschneite Ebene und verschwand in einem waldbedeckten Hügel. Viele versteckte Wege führten in diesen Berg. Awanata kannte die meisten Zugänge und die dahinter verborgenen Geheimnisse. Sie zwängte sich durch eine Felsspalte und gelangte in eine Höhle. Ein verträumtes Brummen empfing sie und sie musste lächeln. Ein alter Grizzlybär hielt seinen Winterschlaf. Awanata tastete sich mit Vorsicht voran. Der Bär schnupperte und öffnete seine Augen.
»Ah, ist das Jahr schon wieder um?«, fragte er.
»Ja es ist vorbei. Ich habe Lachs und Walnüsse dabei. Gleich gibt es ein gemütliches Feuer«, sagte Awanata.
Der Bär hatte vor seinem Winterschlaf bereits Holz gesammelt und zu einem Haufen gestapelt. Awanata nahm ihren Feuerbohrer und kniete sich neben den Holzstapel. Sie kämmte dem Bären das Fell, der dabei zufrieden brummte. Die im Kamm hängengebliebenen Haare legte sie zusammen mit getrocknetem Gras auf eine Birkenrinde. Mit Bogen und Spindel entfachte sie Glut auf dem Feuerbrett. Es dauerte nicht lange, bis das Feuer brannte.
Wohlige Wärme breitete sich in der Höhle aus. Der Rauch zog durch eine Felsspalte in der Decke.
»Was bedrückt dich so?«, fragte der Bär.
»Ich habe mir in diesem Jahr viele kleine Wünsche erfüllt. Stell dir vor, ich bin auf einen hohen Baum geklettert. Den hatte ich als Kind gepflanzt. Es ist, als ob es erst gestern gewesen wäre. Die Zeit ist so schnell vergangen, mein lieber Bär. Hundert Winter habe ich hinter mir«, seufzte Awanata.
»Weißt du noch, wie du diese Höhle hier gefunden hast?«, brummte der Bär.
»Lange ist das her. Es war das letzte Jahr, in dem ich mein Alter mit den Fingern zeigen konnte. Die Mutter meiner Mutter war in den Wald gegangen, um Feuerholz zu sammeln. Ich hatte verschlafen und wollte ihr unbedingt helfen. Es war nicht schwer, sich davonzuschleichen. Die meisten Stammesmitglieder waren mit Wintervorbereitungen beschäftigt.
Der Wind wehte mir ins Gesicht und ich ging zu ihrem Lieblingsplatz. Ein großer Felsen am Ende des Waldes. Dahinter konnte man ungestört zu den fernen Bergen schauen und mit seinen Träumen fortschweben.
Ich schlich um den Felsen und erstarrte zu einem Eiszapfen. Da schnarchte ein gewaltiger Bär. Damals war mir die Sprache der Tiere noch nicht bekannt gewesen. Meine Großmutter hatte mir aber eines beigebracht. Krach machen und mit den Armen rudern. Vor Schreck hatte ich vergessen, dass man sich so nur wachen Bären gegenüber verhält. Ich schrie und ruderte um mein Leben. Natürlich erschreckte sich der Bär zu Tode und brüllte zurück, dass mir die Zöpfe flatterten. Fürchterlich stank er aus dem Maul und ich fiel vor Angst in Ohnmacht. Aufgewacht bin ich in dieser Höhle. Dein Urgroßvater hatte mich an diesen Ort gebracht. So habe ich das große Geheimnis viel früher erfahren, als es üblich ist.«
»Warte, da ist jemand«, unterbrach der Bär.
Er stellte sich auf die Hinterbeine und schnupperte.
»Deine Enkelin hat sich hierher verirrt«, sagte der Bär.
»Komm ruhig her, es ist alles in Ordnung«, rief Awanata.
Eine kleine Gestalt kam hinter einem Felsen hervor.
»Du hast deine Flöte vergessen. Ohne die gehst du nie weg«, sagte Malinka und streckte Awanata das Instrument entgegen.
»Ach Kind was machst du nur für Sachen? Na, setz dich erst mal und wärm dich auf. Der Bär ist freundlich und bewacht die Medizinfrauen unseres Stammes. Bald wird er auch auf dich aufpassen«, sagte Awanata
Malinka setzte sich ans Feuer und aß sich satt. Awanata war in Gedanken versunken und dachte an ihre Großmutter, die sie vor vielen Jahren hier in der Höhle traf. Sie war ihren Fußstapfen gefolgt und hatte eine kleine Trommel dabei gehabt.
»Du musst gehen Malinka. Es ist bald Zeit für meine große Reise«, sagte Awanata.
»Wann kommst du wieder und wo gehst du überhaupt hin? Dein Abschiedsfest war ja noch größer, als das von Großvater und der ist auch noch nicht wieder da.«
»Der Fluss fließt hier durch die Höhle und verschwindet in der Erde. Dort muss ich hin. Den großen Wasserfall hinab. Wir Menschen sind wie die Jahreszeiten. Du bist der Frühling und ich der Winter. Wie meine Großmutter habe ich hier ein Kanu gelagert und mich lange auf diesen Moment vorbereitet. Auch du wirst eines Tages hierher kommen und deine Reise antreten. Wo diese Reise endet, weiß niemand genau. Aber ich werde immer bei dir sein«, sagte Awanata.
Malinka fing an zu weinen.
»Das heißt, du kehrst nie wieder und lässt mich einfach im Stich. Ich will doch so viel von dir lernen. Du hast mir noch nicht alle Pflanzen erklärt und ich werde bestimmt fleißig lernen. Komm doch einfach wieder mit«, bettelte Malinka.
»Man sucht sich den Moment der Reise nicht aus, sondern man spürt ihn irgendwann kommen. Es sieht so aus, als würde man schlafen. Aber man atmet nicht und das Herz hört auf zu schlagen. Trotzdem kann ich dich besuchen kommen. Einen Körper brauche ich dazu nicht. Großvater spüre ich jeden Tag bei mir und er denkt sehr oft an dich. Niemand lässt dich allein. Wir sind nur woanders.«
Malinka beruhigte sich ein wenig.
»Dann möchte ich noch einmal mit dir eine Schneeballschlacht machen. Der Bär darf auch dabei sein«, sagte Malinka.
Alle drei gingen hinaus in die Winterlandschaft. Mit seinen riesigen Pranken konnte der Bär beide mit Schnee zuschaufeln, während er beworfen wurde. Awanata fühlte ihr Alter nicht mehr und für einen Moment hatte sie ihre Reise vergessen.
Nach einer Weile fiel sie erschöpft in den Schnee. Alle hörten auf mit Toben und gingen zu ihr.
»Bringt mich bitte in die Höhle«, sagte Awanata.
Der Bär trat neben sie und mit letzter Kraft kletterte sie auf seinen Rücken.
In der Höhle ließ Malinka das Feuer zu neuem Leben erwachen.
Awanata sog die Wärme in sich auf. Sie sah auf das betagte Kanu und nickte.
»Malinka es ist so weit. Ich muss los«, Awanata schleppte sich in das Kanu und wickelte sich in ihre Decken ein.
»Aber es war doch so schön im Schnee, kannst du nicht noch hierbleiben?«, fragte Malinka.
Der Bär legte seine Tatze sanft auf Malinkas Schulter.
»Spiel noch einmal unser Lieblingslied für mich Malinka. Bär, mach dann bitte das Seil los und bring die Kleine nach Hause zurück. Versprich, dass du immer auf sie aufpassen wirst«, sagte Awanata.
Der Bär nickte und Malinka nahm die Flöte. Unter Tränen fing sie an, die ersten Töne zu spielen. Eine makellose Melodie schwebte durch die Höhle. Der Bär löste das Seil und schob das Kanu sorgsam ins Wasser. Der Fluss nahm sich der alten Frau an und trug sie zu ihrem Ziel. Begleitet von ihrem Lieblingslied trat Awanata ihre letzte Reise an.