Wintermärchen
Wintermärchen
Klirrend kalter Winter. Eine von einer glitzernden Schneedecke verhüllte Gegend mitten auf dem Lande. Zwischen Feldern steht abgelegen ein kleines Bauernhaus. Die Natur ringsum schweigt. Stille liegt über allem.
Doch plötzlich vernimmt man helles Lachen. Zwei Kinder sind aus jenem Haus gestürmt, stürzen sich begeistert in den Schnee. In ihrem kleinen Eimerchen tragen sie zwei schwarze Kohlen, eine Mohrrübe und ein schmales Stöckchen mit sich. Sie wollen einen Schneemann bauen. Mit Feuereifer begeben sie sich an die Arbeit. Sie rollen Bälle. Als Erstes einen sehr dicken, danach einen mittelgroßen, dann einen noch kleineren. Sie klopfen und streichen die Bälle mit rotgefrorenen Händen zu glatten Kugeln. Anschließend setzen die eifrigen Baumeister diese Kugeln aufeinander. Jetzt erkennt man den Schneemann. Als Augen drücken sie ihm die Kohlen, die Mohrrübe als Nase, das schmale Stöckchen darunter als Mund ins Gesicht. Und formen noch zwei Arme für den Eisgesellen. In die eine Armbeuge klemmen sie einen langen, etwas dickeren Stock. Wie ein Wanderstab schaut der aus.
Kurz noch bewundern sie stolz ihr Werk, freuen sich daran, wie toll der Schneemann ihnen gelungen ist. Dann wenden sie sich zufrieden ab und rennen durch das köstliche weiße Nass davon.
Vor wenigen Augenblicken noch hat er den Blick der ihn anstrahlenden Kinderaugen genossen. Aber nun schaut der Schneemann traurig hinter den Kleinen her. Denn er bleibt ganz allein zurück. Steht dort mutterseelenallein auf dem weiten Feld. Nur ein wenig getröstet von der Wintersonne, die ihn leicht glitzern lässt. Die Einsamkeit betrübt ihn immer mehr. Er wird ganz melancholisch. Die Menschen leben in Familien oder auch als Paar zusammen, auch die meisten Tiere fühlen sich an diesem kalten Tage geborgen in der Gemeinschaft mit Ihresgleichen.
„Und ich...was ist mit mir?“ Er seufzt.
Es ist Vorweihnachtszeit. Ob er sich etwas wünschen dürfte?? „Ach, wenn ich doch nicht so verlassen hier stehen müsste, was wäre das schön!“ flüstert er vor sich hin.
Die Stunden vergehen. Ihm kommt es vor, als wären es Tage. Langsam bricht die Dunkelheit herein. Es wird noch kälter. Was der Schneemann nicht ahnt: Seine wehmütigen Gedanken hat jemand gehört und Mitleid mit diesem einsamen Gesellen. Es wird Mitternacht. Plötzlich erleuchtet ein goldener Schein die in unheimlicher Schwärze liegende Landschaft. Unser Eisgeselle reißt in ungläubiger Fassungslosigkeit seine Augen weit auf. Vor ihm in diesem warmen Licht steht ein Himmelswesen, ein Engel. Und sagt zu ihm: „Sei nicht länger traurig. Dir soll dein Wunsch erfüllt werden. Schon sehr bald...!“ Der Engel lächelt geheimnisvoll.
Was ist das(!)? ?
Im nächsten Moment spürt unser kalter Freund, wie er sich vom Untergrund löst. Ein Gefühl von Freiheit bemächtigt sich seiner. Aufgeregt stellt er staunend fest, dass er auf zwei ganz normalen Beinen steht. Beinen, mit denen er sich vom Fleck bewegen kann. Er probiert zögerlich erste Schritte, ist noch etwas unsicher. Schließlich gehört es nicht zu den üblichen Gepflogenheiten eines Schneemannes, selbstständig durch die Welt zu spazieren. Aber nach wenigen Minuten verfliegt die Ängstlichkeit. Er wird mutiger, läuft immer selbstbewusster umher. Dann fest entschlossen, endlich dem Alleinsein zu entfliehen, begibt er sich voller Euphorie ob der neu gewonnenen Freiheit schließlich auf die Suche nach Gesellschaft. Guten Mutes stapft er munter durch die Nacht.
Lange braucht er nicht zu suchen. Erst an zwei lang gestreckten Feldern ist er vorbei marschiert...da sieht er sie von weitem! Täuschen ihn seine Augen? Kaum wagt er es, seinem Blick zu trauen. Dort am hinteren Rande des nächsten Ackers hebt sich gegen den Nachthimmel der Umriss einer Gestalt ab. Je näher er kommt, umso mehr wächst seine Freude. Da steht doch wahrhaftig ein Schneemädchen. Nicht so groß wie er. Ein eher winziges, sehr schlankes Schneemädchen. Auch ihm haben die Kinder große Kulleraugen aus Kohlen eingesetzt, eine Mohrrübe als Nase und ein Stöckchen als Mund. In seinem Arm hält es ebenfalls einen kleinen Wanderstab. Und, was dem Schneemann dann vordringlich auffällt: Dieses Schneemädchen guckt genauso traurig wie er noch einige Minuten zuvor.
Doch schon bemerkt es den Schneemann. Vor Freude fängt es zaghaft an zu lächeln: „Ich bin soo allein. Bitte, bleib bei mir!“ flüstert es flehend mit Sehnsucht und Hoffen in der Stimme. Nichts in der Welt tut der Schneemann lieber als das. Sein Gesicht leuchtet. All sein Kummer ist verflogen. Ganz dicht stellt er sich neben sie, so dicht, dass ihre Arme sich berühren. Froh sehen sie sich an.
Nun sind sie nicht mehr einsam.
Sie gehören zusammen.
Jetzt sind sie glücklich.
Und wenn sie nicht geschmolzen sind, schwelgen sie auch noch heute im Glück!