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Winter
Die Arbeit war eine gewöhnliche Forderung des Alltags. Er setzte erneut an und stach mit der Kante seiner Schaufel in des Schnees Tiefe. Was war ein Mensch schon, der nicht arbeitete?
Er nahm einen Atemzug, so tief und frostig und hob Schaufel samt Ladung, um die Fuhr auf die weiße Festung hinter seiner Schulter zu katapultieren. Und für einen Moment schneite es über diesem winzigen Fleck der Stadt. Er sah nicht, wie Flocken, pulverfein und zart, hinter ihm auf die weiße Festung, die sich mit jeder Fuhr ein Stück höher aus dem Schnee emporhob, nieder schwebten. Was kümmerte es ihn? Es war nicht die Schönheit dieser Welt, dieses Winters, die ihm an jenen Tagen Anlass gab, nach Draußen zu gehen. Die Nächte brachten Schnee und mit ihm die Arbeit.
Wieder stach er zu und die Festung wuchs heran. Er fluchte bei der Anstrengung, die ihm die Kraft aus den Armen zog. Verfluchte den Schnee, der ihm eine Plage war, wie nichts in seinem Leben.
Dieser Teil der Welt stand unter der weißen Flut. Gärten und Dächer, Wege und Zufahrten der Stadt. Jeden Morgen dasselbe Spiel.
„Würde es denn nie enden?“ fragte er im Stillen und ließ die Schaufel niedersinken.
Der Schnee war tief und immer noch stand er am Anfang seiner Arbeit. In diesem Jahr hatte der Winter kein Erbarmen: Er kam früh und würde lange bleiben, mit jeder Nacht tiefer werden. Trotz der Kälte legte sich der Schweiß in einem dünnen Film auf seine Stirn. Er schnaufte. Es war ein Schnaufen, das von einem inneren, plötzlich züngelnden Wutfeuer, erzwungen wurde. Seine Stirn glänzte und das Frieren schwand ganz und gar. Mit einem heißen Tritt verbannte er die Schaufel tiefer in den Schnee. Er keuchte, trat ein zweites, ein drittes Mal zu. „Nun gehört sie dem Winter“, dachte er bei sich und als er den Satz gedanklich wiederholte, zwang er sich zur Erkenntnis: Auch er gehörte dem Winter. Beim nächsten Atemzug war ihm nun wieder, als wäre ihm die Luft in der Lunge zu Eis gefroren - der stechende Reiz ließ ihn husten.
Er gehörte dem Winter.
Auch diesen Satz wiederholte er in Gedanken, bewegte dabei stumm die Lippen. Er war zu einem stummen Sklaven geworden, arbeitete fügsam, während ihn die Kälte mit ihren winddünnen Peitschen zum Schweigen zwang. Jeden Morgen dieselben Regeln. Der Ärger fachte seine Flammen erneut an. Er würde dem Winter trotzen. Er würde nun endlich dem Winter trotzen.
Da packte er seine Mütze und schleuderte sie in den Schnee. Danach den Schal. Er würde ihn nicht länger brauchen. Wozu? Er fragte sich an dieser Stelle, wie sich Kälte anfühlt, für einen der nicht weiß, was sie anrichtet. Wie fühlt sich der Winter an, für den, der sich selbst ein Bild davon zu machen hat, was andere den Schmerz nennen?
Er legte nun auch den Mantel ab, das letzte das ihm Schutz bot, vor dem Weißen und dem Nagenden, dessen Namen er vergessen hatte - vergessen wollte. Das schwere Stück fiel zu Boden wie abgeworfene Haut. „Die Hülle eines alten Lebens“, dachte er und stellte sich triumphierend auf das Stück Erde, auf das der Mantel gefallen war.
Das Hemd behielt er am Leib. Es war ein einfaches Kleidungsstück, kein Versteck, wie der Mantel es gewesen war. Es durfte bleiben. Nun war er bereit, zu berühren, wovon ein anderer sich versteckt und dabei zu vergessen, was man ihm gesagt und was er in seinem Leben gelernt hatte.
Wieder saugte er die Luft ein, die er zum Atmen brauchte. Frisch fühlte sie sich an und fremd. Ein Fremdkörper auf seiner Lunge, in Nase und Mund. Er atmete tiefer, spürte dabei wie die Luft seinen Körper durchzog, wartete auf den Reiz der ihn würde husten lassen, und als er ihm den Hals empor kroch, spuckte er ihn aus, ohne sich der brennenden Kraft hinzugeben. Der Reiz kam zurück, setzte sich von außen auf seine Haut, drängte durch das Hemd hindurch. Er war der Strom, unter dem sein Körper bebte, der sich in seine Adern setzte und ihn mit dem Blut durchströmte. Er hielt den Atem an: Ein scharfer Windzug schlich von hinten heran und wirbelte vereiste Flocken auf. Ein Geräusch, als würde er ihm mit heiserer Stimme eine Drohung ins Ohr hauchen.
Es war der Winter, der ihn an seinen Namen erinnern wollte.