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Winter
Winter
Sophie sitzt am Fenster und schaut auf die kalte Straße. Die Kaffeemaschine brüht surrend Nescafé und unten suchen ein paar aufgeplusterte Spatzen nach Brotkrumen. Ein paar Kinder mit bunten Mützen bauen einen kleinen Schneemann, zu mehr reichen die weißen Flocken nicht. Noch nicht. Es schneit. Das Kinderlachen hört Sophie wie durch Watte, aber sie hört es durch das spaltbreit geöffnete Fenster und lächelt jetzt auch. Ein Auto hupt.
Der Wind wiegt das Gras zwischen den Bäumen. Noch einmal ist Sommer, doch es riecht schon nach Sommerende. Sophie klettert ohne Leiter in den Apfelbaum. Ihre schlichtes Kittelkleid weht im plötzlichen Wind um ihre sonnengebräunten Beine und einer ihrer Zöpfe löst sich. Sie sitzt auf einem Ast nicht weit über dem Boden und schaut auf die gemähten Felder. Jan klettert nicht. Seine Füße stehen still, seine Hände und Augen stehen still. Still hält er den Apfel, den Sophie ihm zugeworfen hat und still schaut er zu ihr hoch. Das feine Gesicht ist ganz ernst. Eines Tages wird Sophie ihn lieben, ein unbestimmtes Gefühl in ihr weiß das schon jetzt. Jans Mutter ist im vergangenen Winter gestorben und kommt nie zurück. Seitdem ist er oft zu Besuch. Er lacht selten laut, dafür kann er auf unendlich viele verschiedene Arten lächeln. Die meisten davon sind nur für Sophie, aber das muss sie noch herausfinden. Sie haben im Frühsommer die ersten Erdbeeren gepflückt, nur die kleinen Roten, die sich unter den Blättern verborgen halten und ganz süß schmecken. Sie haben Geheimnisse geteilt und in der Speisekammer genascht. Sie haben gemeinsam um die im Eimer ertränkten Katzenbabys geweint und über die Ferkel gelacht. Wie fette Sahne ist die Zeit dahingetropft. Nun endet der Sommer.
Im Herbst glänzt die Straße vom Regen. Wie unpassend erschiene Sophie jetzt gutes Wetter. Es riecht vertraut nach nassem Laub und den letzten Äpfeln. Sophie hat soviel Wut im Bauch, dass sie nicht weiß, wohin damit. Im letzten Frühjahr ist ihr sanfter Jan eingezogen worden. Seitdem schreibt er ihr immer seltener. Die wenigen Briefe kommen mit wochenlanger Verspätung und viel Wut auf die Welt und werden immer wieder gelesen, bis das Papier abgegriffen ist und der Umschlag zerknittert. Seit kurzem gibt es keine Post mehr und keine geteilt verstandene Wut. Sophie möchte brüllen und zertritt stattdessen auf dem Pflaster eine Schnecke, die unter ihren Füßen zermatscht. Es ist zu still. Sophie möchte schreien und geht bloß langsam über den Hof zurück, wo das große Scheunentor von dem die Farbe blättert im Wind knarzt. Sie hebt in einem trockenem Winkel ein ebenso vertrocknetes Blatt auf und lässt es zwischen den Fingern knisternd zerbröseln. Langsam geht sie ins Haus zurück. Sophie wartet. Sie möchte schlafen bis Jan zurück ist.
Sophie steht wieder im Flur und zieht sich die kratzende Wollmütze über beide Ohren. Jan wartet geduldig, während sie die unförmigen Fäustlinge herausnimmt und einen davon überstreift. Die Deckenlampe flimmert. Sie wollen Schlittschuhlaufen, der Wunsch nach dem Eis war schon lange stark und nun trägt der See. Mit noch warmen Fingern verknotet Sophie die Mütze und nimmt die hölzernen Schlittschuhe in eine Hand, Jans Fingerspitzen in die zweite. Deshalb nur ein Handschuh. Er trägt auch nur einen. Die schwere Haustür fällt ins Schloss, ein Geräusch das der Schnee kaum noch dämpft. Alles ist festgefroren und ihre Stiefel hinterlassen kaum Abdrücke im weißen Boden, auch wenn Sophie ab und zu zurückschaut. Sie liebt Jan und er liebt sie. Sie hat es immer gewusst und weiß nicht ob es ihm auch so geht. Ein letztes Gefühl von Unsicherheit ist da noch. Aber Jan hält ihre Hand und das macht sie sicherer und sicherer. Es fühlt sich an wie eine Art Seelenverwandtschaft. Doch, das gibt es. Die Wollmütze kratzt, aber sie lässt seine Hand nicht los. Der See ist schnell erreicht, die Bank am Ufer ganz neu. Das Dank- dem- edlen- Spender Schild glänzt noch. Das Metall ist kalt und bevor ihre Finger es auch werden, schnüren sie die Schlittschuhe. Sophies Wangen glühen trotz der Kälte. Aufs Eis. Tanzen, fliegen, sich selbst vergessen. Jan sehen und das warme Gefühl genießen, dass es sie immer geben wird. Jan und Sophie. Klebrig wie ein Karamellbonbon scheint dieser Gedanke allen, die nicht an derartige Dinge glauben, aber in Wahrheit ist er nur süß. Zusammen wagen sie sich ein Stück hinaus, küssen sich kurz als es keiner sieht. Doch Sophie allein bemerkt den Riss, der sich im Eis auftut und alles zu verschlucken droht. Die schwarze Leere, die vor den Füßen beginnt und größer und größer wird, bis sie den Halt verliert.
Lächelnd betrachtet Jan die alte Fotografie, die ihn und Sophie am Apfelbaum zeigt. Er hat sie vor einiger Zeit mit alten Händen aus einem Album gelöst und trägt das verblichene Bild seitdem in der Hemdtasche. Manchmal holt er es vor und betrachtet es. Dann steht er mühsam auf und stellt sich neben seine geliebte Frau. 47 Jahre sind sie jetzt verheiratet. Es hat Höhen und Tiefen gegeben, sicher. Auch Liebe ist nicht bedingungslos, aber sie kann Kompromisse eingehen. Durchgestanden haben sie alles gemeinsam. Seelenverwandte geben sich nicht auf und Sophie war Jans größtes Geschenk. Zitternd streicht er ihr übers Haar. Sophie hat Alzheimer. Es wird noch schlimmer werden, sagen die Ärzte. Sie erkennt ihn schon lange nicht mehr, sie redet kaum. Ihr leerer Blick trifft ihn immer wieder mitten ins Herz. Sie schaut durch ihn hindurch, durch die Wand, über die Straße, durch den Himmel und die Erde gradewegs ins Nichts. Manchmal lächelt sie, so wie jetzt. Es macht Jan wütend und traurig, dass er nicht weiß weshalb. Sie lächelt nie für ihn. Er schließt das Fenster und merkt, wie sie heftig erschrickt. „Eis“ sagt sie plötzlich ganz deutlich, dann folgen leise, gemurmelte Phrasen die Jan nicht versteht. Er bemerkt nur ihren für einen kurzen Moment veränderten Blick, nicht weniger schmerzend in seiner leeren Verzweiflung und Gefangenheit. Er möchte Sophie halten, festhalten. Und kann es doch nicht. Still ignoriert Jan seine schmerzenden Gelenke und hockt sich neben seine Frau. „Wo bist du nur?“, fragt er die bedrückende Stille des Zimmers und legt einen Arm um Sophies Schulter. Auf diese Frage wird es niemals eine Antwort geben. Sophie schläft. Bald wird sie nicht mehr im Rollstuhl sitzen können. Vielleicht holt Jan zum letzten Mal die alte Mütze seiner Frau aus dem ebenso alten Schrank. Den Knoten können seine steifen Finger nicht mehr binden. Er schiebt Sophie mühsam nach draußen in den Schnee. Die Flocken fallen auf ihr Gesicht.