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Winter ohne Schnee

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03.04.2003
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Winter ohne Schnee

Winter ohne Schnee

Langsam schlage ich die Augen auf. Ein stechender Schmerz lässt mich in meinem Bett liegen, meine Hände nicht bewegen.
Manchmal träume ich davon, mich umzubringen, mir die Pulsadern aufzuschlitzen. Aber ich habe es noch nie getan. Allerdings habe ich bereits überall Narben auf den Armen.
Nachts, wenn ich von meinem Tod träume, will ich ihn wahr werden lassen.
Ich nehme kein Messer, ich kratze nur.
Aber es ist nicht wichtig. Weh tut es nur die ersten Minuten beim Aufwachen.
Wenn sich die Wundflüssigkeit gehärtet hat stehe ich meistens auf.
Der erste Weg führt auf den Balkon.
Die Kälte bringt meine Finger zum Zittern. Ich habe Mühe, den Zigarettenfilter an den Mund zu führen.
Der Rauch scheint stärker aus dem Mund zu kommen als sonst. Es ist Winter.
Ich schaue über die Brüstung.
Springen müsste man. Ohne jemanden zu verletzen, mit reinzuziehen, ohne den Aufprall zu spüren. Einfach fliegen.

Auf der Straße laufen vermummte Gestallten nirgendwohin.
Alles um mich herum ist laut. Ich ziehe leise meines Weges.
Im Supermarkt kaufe ich eine Flasche Fusel und gehe zu meinen Freunden.
Meine beste Freundin starrt auf meine Arme, als ich die Jacke ausziehe.
Lange schauen wir uns in die Augen. Sie begreift wahrscheinlich nicht, warum ich das mache. Soll sie doch denken was sie will, ich weiß doch selbst nicht.

Ich stehe draußen, rauche eine. Da steht sie vor mir. Tränen in den Augen. Sie tut mir nicht leid. Ihre Arme umschließen mich. Ihre Tränen auf meiner Jacke. Sie kann es nicht verstehen.
Sie hat ihren Sinn gefunden, ich bin auf der Suche. Sie hat Freunde, die sich um sie kümmern, ich kümmere mich um andere. Sie liebt ihr Leben, ich nicht.
Aber über diese Gedanken kann ich nicht mit ihr reden.
Sie will mich nicht verlieren, sagt sie.
Aber sie tut mir nicht Leid.
Was ist sie für eine Freundin, was bin ich für eine Freundin?
Ich löse mich aus ihrer Umklammerung.

Mir ist kalt. Ich gehe einfach fort. Finde einen Rhythmus, höre nicht auf zu gehen.
Mitten in der Weite falle ich auf die Knie.
Schon so lange ist Winter. Früher wollte ich, dass die Zeit stehen bleibt.
Heute, wo sich alles verändert hat, steht sie still.
Regentropfen bedecken meine Tränen.
Ich bin alleine.
Ich will alleine sein.
Denn irgendetwas lässt mich auch ohne Mut Leben, hält mich in der Realität.
Ich muss den Schmerz aushalten, stehe auf und ziehe meine Bahnen durch die Felder.

Mir fehlt eine Freundin, die Sonne.
Aber es ist Winter, auch ohne Schnee.

 

Hallo Wiebke,

Deine Geschichte hat mich berührt. Ich denke, es ist dir gelungen, in wenigen Sätzen etwas über SVV zu schreiben, ohne das Thema zu sehr 'auszuschlachten' (blödes Wort).
Die Geschichte verzichtet auf Selbstbemittleidung, und man erfährt auch nichts über die Hintergründe für das Selbst-verletzende-Verhalten:
"ich weiß doch selbst nicht", sagt die Protagonistin, und meistens ist das ja auch so, wenn man selbst davon betroffen ist.
Auch der chronisch depressive Zustand, in dem sich die Prot. offensichtlich befindet, ist gut beschrieben. Dazu passt die Winterathmospähre, die Kälte - kein Sonnenschein eben. Nicht einmal Schnee liegt.

Aber was mich ein wenig befremdet hat: die Ruhe, die der Text ausstrahlt. Das passt zwar einerseits zur Depression, andererseits aber nicht ganz zum SVV-Bild, denn Betroffene haben oft: Ärger, Wut, Impulsivität, Reizbarkeit (auch Ängste).
Die Prot. scheint mir etwas zu gleichgültig und gelassen gegenüber allem zu sein. Ihre Wut und Agression (die sie letztlich gegen sich selbst richtet) - diese Gefühle werden nicht deutlich im Text.

Zur Sprache: Kurze Sätze, karg und schnörkellos geschrieben - gefällt mir. (Inhalt und sprachliche Ebene sind stimmig).


Lieben Gruß,
Wolf

Ein paar Anmerkungen:

Weh tun, tut es nur die ersten Minuten beim Aufwachen.
Weh tut es...
Der Rauch kommt viel stärker aus dem Mund als sonst. Es ist Winter. Ich schaue an mir herunter.
Springen müsste man. Ohne jemanden zu verletzen, ohne den Aufprall zu spüren. Einfach fliegen.
Den ganzen Absatz würde ich nochmals überarbeiten.
1. Rauch kommt nicht stärker oder schwächer aus dem Mund, nur weil Sommer oder Winter ist - aber ich weiß, was du meinst: man sieht ihn in der kalten Luft deutlich besser.
2. Wenn man 'an sich' herunterschaut, sieht man nur seine Beine und Füße. Vielleicht: "ich schaue am Balkongeländer herunter" o.ä.
3. "ohne jemanden zu verletzen" würde ich streichen. Andere Leute zu treffen, ist extrem unwahrscheinlich, wenn man nicht zufällig über einem Wochenmarkt wohnt - oder meinst du mit 'jemanden' die Prot. selbst?

 

Hallo kleiner Wolf,
vielen Dank für deine Kritik.
Diese Geschichte ist die erste, die ich seit einem halben Jahr geschrieben habe.

Ich wollte, dass meine Prot.ihre Wut nicht offen zeigt, da sie angst davor hat, ihren Mitmenschen weh zu tun. Sie verdrängt diese Wut und Ihre Angst, wirkt daher nach außen hin ruhig.
Innerlich hat sie sich schon aufgegeben.

Mit "Ohne jemandem wehzutun zu springen", meine ich eher die Art des Selbstmordes. Denn wenn man vor eine Bahn springt, ist es m. M. nach unfair für den Bahnfahrer, da man ihm weh tut. Wenn man vom Hochhaus fällt, zieht man wenigstens niemanden mit rein...

Werde den Absatz überarbeiten,
ich danke dir sehr für deine Kritik,
Wiebke

 

Liebe Wiebke!
Lange hab' ich nichts mehr von dir gelesen, aber dieser Text hat mich zutiefst berührt! Mit einer ruhigen Sprache schilderst du ein schwieriges Thema. Besonders gefallen haben mir:

Weh tut es nur die ersten Minuten beim Aufwachen.

Soll sie doch denken was sie will, ich weiß doch selbst nicht.
Weil es genau das schildert, was man fühlt, wenn man ritzt - danach weiss man die Gründe nicht mehr.

Gut beschrieben hast du das Unverständnis, auf das die Protagonistin stösst - niemand kann es wirklich nachvollziehen, aber "helfen" wollen sie alle.

Schon so lange ist Winter. Früher wollte ich, dass die Zeit stehen bleibt.
Heute, wo sich alles verändert hat, steht sie still.
Wunderschön ausgedrückt!

Mir fehlt eine Freundin, die Sonne.
Ich hätte eher "meine Freundin" geschrieben.

Ein ganz besonders starker Text von dir!
Herzliche Grüsse,
Manuela

 

Hallo,
ja, ich bin noch da!!!
Danke für die vielen positiven Kritiken und
danke Manuela, dass du meine Geschichten trotz halbjähriger Abwesenheit noch liest!!!

Schön, dass ich euch berühren konnte.

Wiebke

 

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