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Winter ohne Schnee
Winter ohne Schnee
Langsam schlage ich die Augen auf. Ein stechender Schmerz lässt mich in meinem Bett liegen, meine Hände nicht bewegen.
Manchmal träume ich davon, mich umzubringen, mir die Pulsadern aufzuschlitzen. Aber ich habe es noch nie getan. Allerdings habe ich bereits überall Narben auf den Armen.
Nachts, wenn ich von meinem Tod träume, will ich ihn wahr werden lassen.
Ich nehme kein Messer, ich kratze nur.
Aber es ist nicht wichtig. Weh tut es nur die ersten Minuten beim Aufwachen.
Wenn sich die Wundflüssigkeit gehärtet hat stehe ich meistens auf.
Der erste Weg führt auf den Balkon.
Die Kälte bringt meine Finger zum Zittern. Ich habe Mühe, den Zigarettenfilter an den Mund zu führen.
Der Rauch scheint stärker aus dem Mund zu kommen als sonst. Es ist Winter.
Ich schaue über die Brüstung.
Springen müsste man. Ohne jemanden zu verletzen, mit reinzuziehen, ohne den Aufprall zu spüren. Einfach fliegen.
Auf der Straße laufen vermummte Gestallten nirgendwohin.
Alles um mich herum ist laut. Ich ziehe leise meines Weges.
Im Supermarkt kaufe ich eine Flasche Fusel und gehe zu meinen Freunden.
Meine beste Freundin starrt auf meine Arme, als ich die Jacke ausziehe.
Lange schauen wir uns in die Augen. Sie begreift wahrscheinlich nicht, warum ich das mache. Soll sie doch denken was sie will, ich weiß doch selbst nicht.
Ich stehe draußen, rauche eine. Da steht sie vor mir. Tränen in den Augen. Sie tut mir nicht leid. Ihre Arme umschließen mich. Ihre Tränen auf meiner Jacke. Sie kann es nicht verstehen.
Sie hat ihren Sinn gefunden, ich bin auf der Suche. Sie hat Freunde, die sich um sie kümmern, ich kümmere mich um andere. Sie liebt ihr Leben, ich nicht.
Aber über diese Gedanken kann ich nicht mit ihr reden.
Sie will mich nicht verlieren, sagt sie.
Aber sie tut mir nicht Leid.
Was ist sie für eine Freundin, was bin ich für eine Freundin?
Ich löse mich aus ihrer Umklammerung.
Mir ist kalt. Ich gehe einfach fort. Finde einen Rhythmus, höre nicht auf zu gehen.
Mitten in der Weite falle ich auf die Knie.
Schon so lange ist Winter. Früher wollte ich, dass die Zeit stehen bleibt.
Heute, wo sich alles verändert hat, steht sie still.
Regentropfen bedecken meine Tränen.
Ich bin alleine.
Ich will alleine sein.
Denn irgendetwas lässt mich auch ohne Mut Leben, hält mich in der Realität.
Ich muss den Schmerz aushalten, stehe auf und ziehe meine Bahnen durch die Felder.
Mir fehlt eine Freundin, die Sonne.
Aber es ist Winter, auch ohne Schnee.