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Winkende Käfer
WINKENDE KÄFER
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Es war einmal eine kleine Maus, die lebte in einem großen Wald in einem kleinen Haus in einem großen Baum in dessen Wurzelwerk. Morgens - nach dem Aufstehen - beschloss sie, einen Ausflug zu machen. Zu diesem Zweck packte sie ihren Rucksack und steckte dort ihre Mauspuppe hinein.
Der rote Rucksack leuchtete in der Morgensonne bei jedem Sonnenstrahl, der sich durch die dichten Blätter der Bäume bis zum Mäusepfad stahl. Frohgemut schritt sie pfeifend dahin. Die Mäuseschuhe liefen fast von alleine auf dem weichen, moosbedeckten Waldboden. Die Lichtung, die hell durchflutet auf unsere Mäusedame wartete – so schien es – gab den Blick auf den glitzernden Bach frei. Und dieses fließende Wasser war immer schon ein Labsal für die kleine Mäuseseele gewesen. Auch dieses Mal freute sich Mausi auf ein kleines Zwiegespräch am Bachufer mit den Heuschrecken, Fröschen und Vögeln des Waldes.
Doch was war das! Auf dem Bach ein Boot! Und in dem Boot ein winkender Käfer! Wieso winkte der? Und woher kam er? Noch bevor sie ein Wort hervorbrachte, trieb ihn die Kraft des Stromes so schnell voran, dass er lautlos ihrer Reichweite entschwand. Taumelnd vor Verwunderung, die Augen starr auf den nun leeren Horizont gerichtet, setzte sie sich ans Bachufer. Sie bemerkte nicht die Feuchtigkeit, die sich schnell von Haar zu Haar ihren Weg bahnte. Die Frage nach dem „woher“ ließ sie ihren Kopf nach links in die entgegen gesetzte Bachrichtung wenden. Doch da: erneut ein Boot! Dieses Mal brachte sie, konzentriert auf ihre Neugier, es fertig, die Beschaffenheit des Gefährts zu begreifen. Ein aus Schilf und Weide gefertigtes Oval glitt da durch die sanften Wellen. Obwohl schon die Wasserkante bedenklich an den Rand des schalengleichen „Treib-mich-durchs-Wasser“ schwappte, schien der Käfer darin unberührt von allem zu winken. Jetzt, jetzt sprach sie ihn an. Doch wie sie sich auch mühte – der Käfer glitt wie der vorhergehende lautlos an ihr vorüber. In aufgeregter Erwartung schnellte ihr Kopf, nachdem die ergebnislose Ansprache sie aufgeben ließ, in Richtung Bachanfang. Und tatsächlich: wieder ein Käfer mit gleichem Verhalten! Mit gleichem Boot! Mit gleichem Gesichtsausdruck. Und wieder das gleiche Ritual: warten, bis er auf gleicher Höhe mit ihrem Köpfchen war, ansprechen und - keine Antwort. Weniger als das: ein monotones Winken, unbeeinflusst von jeglichem Geschehen auf diesem schönen Fleckchen Erde. Jetzt reichte es ihr. Sie sprang hoch und wollte der Sache auf den Grund gehen.
Der Pfad entgegen der Stromrichtung war hügelig, krumm und nass. Einzelne Morgentautropfen sprangen von hohen Gräsern, die sich zu ihr neugierig in den Weg beugten, auf ihre Kleidung. Doch all das bemerkte sie nicht: sie, die immerzu bemüht war, ihre Umgebung auf zu saugen wie ein hungriger Wolf, hatte nur eines im Kopf: woher kamen diese Käfer und wieso verhielten sie sich so nutzlos! Endlich war sie am Anfang des Bachlaufs angekommen – enttäuscht hielt sie an. Der Bach, jetzt nun schmal wie ein dünner Ast, entsprang einer Felsformation, die es nicht erlaubte, dass eine im Verhältnis doch beträchtlich große Maus wie sie dort eindrang. Und schon schoss ein Boot mit Käfer aus diesem dunklen Loch! Winkend! Sie konnte es nicht fassen.
Nachdem sie dieses Treiben eine Weile beobachtet hatte, kam in ihr eine schleichende Verzweiflung auf: sie konnte das Problem nur erkennen, wenn sie bis an den Ursprung vordrang und der lag zweifelsohne im Innern dieser Felsen! Bloß - wie dort hineingelangen? Auch die kleine Erkundungstour rundherum, die sie mittlerweile unternommen hatte, verstärkte das Gefühl der Aussichtlosigkeit.
Sie setzte sich. Auf einen Stein. Plötzlich fühlte sie eine Wärme in sich aufsteigen, die all ihre Gedankenketten wie aufbrechendes Eis, das sich um sie gelegt hatte, auseinander bersten ließ. Sie schaute sich um. Da stand ein Zwerg! Einen Hut mit rotem Samt hatte er auf, an dessen Ende ein durchsichtiger Stoff im Wind seinen Tanz vollführte. Seine Kleider aus rotem Samt glitzerten in der Sonne so, als ob Glimmer aus Gestein ganz fein darin eingestreut wären. „Woher kommst du?“ Die Maus presste ihre Lippen, durch die sie diese Worte voller Neugier gehaucht hatte, wieder fest zusammen. „Oh, ich glaube du hast mich gerufen! Da – du sitzt auf meinem Stein! Und wer sich darauf setzt, das Gemüt voll schwerer Gedanken, der ruft mich!“ Sie schaute verdutzt auf den Stein und sprang auf. Der Zwerg aber war noch immer da. Gut oder böse, das war hier die Frage. Er plapperte einfach rastlos weiter: “Du möchtest in die Felsen? Es gibt nur einen Weg: du musst klein werden, und weil Du dich nicht so klein machen kannst, muss ich es tun. Und warum tue ich es? Weil ich nicht anders kann, ich bin ein Helferzwerg.“ Das Tuch am Ende seines Hutes vollführte gegen die Windrichtung einen rhythmischen Tanz und berührte dabei die Maus, die sich augenblicklich fünf Mal um sich selbst drehte und während dieser Drehung auf eine Größe schrumpfte, die der der winkenden Käfer glich. Verdutzt und glücklich zugleich betrachtete sie sich selbst. „Wenn du innerhalb einer Stunde wieder kommst, erhältst du deine normale Größe wieder. Du musst dich nur auf den Stein setzten!“ Mit diesen Worten löste sich dieses kleine Wesen in eine gelbe Staubwolke auf.
Da stand sie nun in ihrer ungewohnten Größe. Die Grashalme beugten sich wie Riesenrohre im Wind, der plötzlich so laut war. Was war, wenn sie nicht innerhalb der Zeit zurückkam? Flugs machte sie sich auf den Weg.
Der Sprung in das Wasser war kalt aber erfrischend. Eilig drang sie bis zum Eingang der Höhle vor, klammerte sich mit ihren zarten Händen an den Felsvorsprüngen fest und zog sich daran nach innen. Das Innere war zu ihrem Erstaunen hell erleuchtet. Eine große Flotte von Booten schimmerte im Licht der Fackeln, die am Ufer den Weg bis hinauf ins Nichts säumten. „Dieses Nichts, das ist es, was ich erreichen muss.“ dachte sie vor sich hin und schwamm vorsichtig hinter das letzte Boot, das da vor Anker lag. Eine endlose Reihe von Käfern wand sich in das Unsichtbare hinauf. Die Kühle der pflanzenlosen Steingrotte ließ sie erschauern, als sie, leicht außer Atem, dem Wasser entglitt. „Was machst du hier?“ Die Frage an den ersten Käfer, der bereits bereit war, ins Boot zu steigen, blieb unbeantwortet. Mausi hätte ihn schütteln mögen, um ihn aus dem antwortlosen Schlaf aufzuwecken, aber sie wusste schon, dass es keinen Sinn hatte. Suchend wendete sie ihren Kopf. Ein besonderer Käfer fiel ihr ins Auge: am Rande dieser lebenden Kette stand er hoch erhobenen Kopfes und – sprach! Die Worte zwar im Befehlston hervorgebracht – aber er sprach! Auch mit ihr? Aug` in Aug` stand sie ihm schnell gegenüber: “Sag mir, was macht ihr hier?“ Er wendete den Kopf und starrte sie mit seinen klaglosen Augen kühl an: “Was machst du hier?“ „Ich frage!“ „Aha.“ Das Gespräch drohte zu ersticken. “Sag mir, was ihr hier tut, und warum diese Lebewesen keinen Ton sprechen?“ Gnädig senkte er den Kopf und im Flüsterton flossen folgende Worte zur Maus herüber: “Unser Käferkönig sitzt gefangen im Gedankenpalast, eingesperrt aufgrund des Befehls eines ruchlosen Beutetiers. Alle sind seither unterjocht und alle freien Gedanken gesperrt. An jedem Knotenpunkt der Gedanken- und Empfindungsströme sitzt ein Wächter. Schert jemand aus, wird er sofort vernichtet.„ Dabei blickte sich der Chefkäfer lauernd um: “Wir sind sehr unglücklich. Viele von uns vergessen schon die alten Zeiten – das ist das Schlimmste!“ „Was tun, was tun!“ Die Maus hüpfte vor Erregung drei Mal auf der Stelle, hatte sie doch das Traurigste in ihrem Leben - diese Kette von bezwungener, totgestellter Lebensfreude sehr stark empfunden! „Wo ist der Gedankenpalast?“ Eine abrupte Kopfbewegung wies ihr den Weg - zum Nichts.
Je näher sie kam, desto mehr verlängerte sich dieser Weg und je schneller sie lief, entlang dem steinigen Weg nach oben an den Käferreihen entlang, desto schneller raste der Endpunkt von ihr weg!
Sie konnte nicht mehr. Nicht mehr denken, nicht mehr rennen, nicht mehr wollen. Sie hielt inne. Nicht mehr wollen? Hoppla! War da nicht der Virus, der Gedankentöter unterwegs? Schnell presste sie sich in einen Felsvorsprung, in der Hoffnung, den Strömen zu entkommen, die da offensichtlich den Tunnel herunter glitten. Aufgeregt holte sie tief Luft: also - musste sie dem Käferkönig auf den Gedankenstrassen begegnen? W e l c h e Strasse, welchen Weg musste sie nehmen? Einen, der nicht mit den Füßen zu begehen war? Waren die Verzweigungen nicht gesperrt durch die Wächter? Bei diesem Gedanken presste sie ihren Rücken noch stärker gegen den Fels, der zunächst so hart war, wie ihr Wille, die fürchterliche Tatsache der Unterdrückung aus der Welt zu schaffen. Doch die Härte des Steins wich zunehmend einem weichen Gefühl, in das sie einzutauchen schien. Tatsächlich verschlang sie der Fels und entließ sie in ein kleines Felsenzimmer. Atemlos drehte sie sich um. Viele Käfer arbeiteten hier. Sie sortierten. Kleine runde Fenster, in denen Gedankenabläufe, sichtbar gemacht und beweglich wie Filme, eingebracht waren, hingen auf einer Art Kleiderbügel und diese an langen Stangen. Und - sie wurden immerzu von den Arbeiterkäfern neu bestückt! Die Gedankenfilme sahen aus wie mit Wasser befüllt, der weißlich transparente Rahmen war zum Anfassen glibrig. Alles wurde ordentlich beschriftet. „Lebenslaufänderung“ stand da und „Lebensverdummungsformel“ aber auch „Verknüpfungen der Gedanken Nr. 1“. Mausi wurde ganz schwindlig. War sie etwa in der Gedankenwerkstatt des Palastes eingedrungen? Und durch was war dies geglückt? Und - wenn diese verdammten Gedanken in diesen Rahmen hingen, war dann nicht der Rahmen das Gefängnis? Und warum bemerkte sie eigentlich niemand? Sie wendete ihren Blick, der von der Gedankenfilmstange gebannt war, sofort zu den Käfern. Jetzt erst bemerkte sie, dass diese sie mit jener grausamen Gespanntheit anstarrten, die keine Hilfe leistet. Eine dünne wabbelige Masse, gefasst in eben diesen Rahmen, kam auf sie zu, bereit, sie zu verschlingen, aufzusaugen! Für immer wäre sie, die lebensfrohste Maus auf Erden, ein Teil dieser Rahmenreihen geworden, wenn ... Sie schrie voller Inbrunst und kräftig wie nie zuvor auf: „Ich will nicht! Ich liebe das Lebeeeen!“
... Stille ... Dann der Nachhall. Der Ton kroch gleich einer Krake mit tausend Fangarmen das Tunnelsystem hinauf und hinab und schien sich dabei tausend Mal zu verstärken, schwoll zu einem ohrenbetäubenden Lärm an. Alles vibrierte. Die Käfer, die Wände, die Rahmen. Vor allem sie selbst! Gepeinigt vor Angst, aber dennoch stark in ihrem Lebensdrang fixierte sie den Wabbelrahmen, der spontan angehalten hatte und nun vor ihr in der Luft schwebte. Langsam aber sicher schien er sich aufzulösen - den Rändern entwich ein weißlicher Rauch, die Filme darin verblassten und verschwammen bis zur Unkenntlichkeit. Der bissige Rauch quoll aus allen Rahmen, die Felsen wurden biegsam, ihre Füße sanken in watteweichen Boden. Die ganze Höhle war voll von der Vibration! Die Maus verlor ihr Bewusstsein und sank hilflos in sich ein.
Die Sonne, die jetzt prall am Himmel stand, piekste in ihr Gesicht. „Wach auf! „ , die piepsige Stimme kam ihr bekannt vor. Sie schlug die Augen auf. Da stand der Zauberzwerg. „Ja, ja, die Liebe!“. Die Maus verstand den Sinn der Worte nicht. Sie schnellte hoch. Wo waren die Käfer und die Höhle und wo war die Welt, die sie eben noch bedroht hatte? Der Bach plätscherte aus der Erde, so, als ob nie etwas gewesen sei und alles nur ein schrecklicher Alptraum gewesen wäre. Und dennoch: die Felsformation existierte nicht mehr. „Wo sind die Käfer?“ „Schluss, Aus, Ende. Alles vorbei! Geliebt, gerettet und ... Freiheit!“ „Wie bitte?“ „Sie haben sich aufgelöst, vielmehr die, die so verseucht waren, dass sie nicht mehr mit dem natürlichen Leben zurechtgekommen wären.“ „Aber warum?“ Der ganze Mausekörper streckte sich gespannt der Antwort entgegen. „Du hast geliebt! Dieser Liebe gleicht nichts, sie ist einzigartig und gewaltig und nichts konnte ihr widerstehen. Wir haben selten hier jemand auf diesen Planeten, der den Kern aller Dinge lebendig hält!“ Der Zwerg drehte den Kopf, das Tuch folgte flatternd dem Hut. Er schaute aus verschmitzen Augen in ihre Welt hinein, und hob zum Abschied die Hand - er winkte! Und weg war er.
© Pierra Kayser / Berlin den 11.Juni 2003
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