Was ist neu

Willst du wirklich schon gehen?

Mitglied
Beitritt
24.05.2003
Beiträge
4

Willst du wirklich schon gehen?

Sie begann zu zittern, ihre Händen fühlten sich trotz der ständigen Bewegung taub an. Als wären sie nicht Teil ihres Körpers. Hände wie flackernde Lichtblitze, die nicht in der Lage sind etwas zu empfinden. Die nichts empfinden müssen um zu existieren.
Gedankenlos sein ist der Traum, in dem alles andere untergeht. Sie wollte nur vor sich hintreiben: Gefühllos, schmerzlos. Befreit von körperlichen Empfindungen, von geheimen Wünschen und Ängsten, befreit von der Tiefe ihrer Seele. Der Gedanke an ein Leben am Rande der Existenz durchspülte sie wie ein glühender Lavastrom, brachte in ihr ein ungekanntes Feuer zum Brennen. Sie war berauscht von der Idee, ein voyeuristisches Leben führen zu können, wenn sie sich nur unter Kontrolle hatte. Die Gefühle anderer Menschen neutral, ja emotionslos, zu beobachten und zu wissenschaftlich fundierten Berichten zu verarbeiten war eine der anziehendsten Vorstellungen, die sie jemals hatte.
Amphetamine, schmerzstillende Medikamente, hochprozentiger Alkohol und starke Unterernährung begannen, ihren Verstand auszulöschen. Nichts wünschte sie sich in diesem Moment sehnlicher, als sich selbst nicht mehr zu spüren. Eine Seidenpapierpuppe wollte sie sein, die vom Puls des Lebens getrieben wurde wie eine achtlos weggeworfene Plastiktüte im Herbstwind.
Ihr war nicht bewusst, wie unweit sie davon entfernt war, tatsächlich vom Wind weggeweht zu werden. Unwiderruflich jedoch; ganz ohne die romantischen Denkansätze, in denen sie sich in dieser Nacht verlor.
Der Tod würde warm sein, dachte sie. Er würde sie erheben und ehren für ihre Leistung, dem Leben zu entsagen. Es gehört schließlich eine Menge Kontrolle dazu, seine Überlebenstriebe zu überhören, zu unterdrücken und letztendlich vollständig zu bezwingen, nicht wahr? Sie hatte es fast geschafft. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Ziellinie, von einem Überraschungssieg, mit dem keiner so schnell gerechnet hatte. Nur einige Tage lang würde sie sich noch zusammenreißen müssen, ihren Körper überlisten. Doch sie zweifelte nicht an ihrem Erfolg; die scheinbar allzu reichliche Belohnung war ihr jede Mühe wert.
Der Körper stirbt und die Seele sitzt mit baumelnden Beinen auf hellblauen Wolken, schreibt fantastische Aufsätze über Schriftsteller, Philosophen und die Komplexität des menschlichen Wertesystems.
Sie selbst war sich nichts wert, als sie so da lag und über ihr Leben nach dem Tod nachdachte. War nur ein unnutzes Ding, das aus Versehen, durch eine unglückliche Kombination von DNA-Strängen, Adenin und Thyosin entstanden war und daher keinerlei Lebensberechtigung auf dieser Erde hatte. Sie war ein Versehen, das rückgängig gemacht werden musste, und in dieses Reklamationsvorhaben steckte sie all die Kraft, die sie noch aufbringen konnte.
Nur noch 2 Wochen. Höchstens 2 Wochen nichts mehr essen, dann wäre sie weg. Leicht genug, um auf Drachenflügeln mit dem Tod davonzufliegen. Leicht genug um aus ihrer Knochenhülle zu entschweben, nur noch ein durchsichtiger, blasser Geist ohne Gefühle.
Sie ahnte in dieser Nacht nicht, wie schnell sich ihr Traum vom Entschwinden verwirklichen würde.
Ihre Eltern fanden sie am darauffolgenden Morgen leblos in ihrem Bett, ein Häufchen Knochen, das keinerlei Vertiefung in die zu weiche Matratze drückte. Ein Häufchen Knochen, überspannt mit kalter, blauer Haut.
Der Tod war nicht warm.

 

Ziemlich bedrückend, Deine Geschichte, schnufflsche. Aber mir gefällt sie. Das einzige, was mir nicht ganz einleuchtet, ist: Wie passt der Titel zum Rest? Nach der Überschrift hatte ich eigentlich eine Einmischung von aussen erwartet. Aber ich muss zugeben, dass das Finden eines passenden Titels nicht selten das Schwerste am ganzen Schreiben ist.

Gruss,

Jabberwock

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom