Willkommen im Leben danach
Ich hatte mir im laufe der Jahre ja verschiedene Theorien über meinen Tod gebildet, doch so hatte ich mir das wirklich nicht vorgestellt. Ich hatte immer gehofft heldenhaft zu sterben, von mir aus an Altersschwäche, doch so wie es nun gekommen war, so hatte ich mir das nie vorgestellt.
Meine eifersüchtige Ehefrau hatte mich auf der Hochzeitsfeier unserer Tochter vor versammelter Gesellschaft mit einem Revolver erschossen. Mitten ins Herz, ein richtiger Volltreffer könnte man sagen! Und das alles wegen dieser kleinen Affäre, die ich mit meiner Sprechstundenhilfe vor ein paar Jahren angefangen hatte. Zugegeben kein Kavaliersdelikt, aber deswegen gleich zu schiessen ? Verstehe einer die Frauen.
Ich erinnere mich noch gut, wie ich zu Boden sank nachdem sie abgedrückt hatte und wie ich in die erstaunten Gesichter der Gäste hinaufblickte, die sich im Halbkreis um mich versammelt hatten. Dann ging alles sehr schnell, ich fühlte ich mich mit einem Mal federleicht, ich brauchte eine Weile bis ich begriff, daß ich zu schweben begann. Doch mein Körper blieb regungslos am Boden liegen, nur mein "Ich", meine Seele löste sich und schwebte hinauf bis kurz unter die Decke.
Ich befand mich nun direkt über ihnen und konnte das Treiben eine Weile beobachten, ein paar der Gäste begannen unbeholfen an meinem Körper herumzufummeln, während meine Frau, die den Revolver noch immer in der Hand hielt, an der Theke ein Glas Sekt herunterkippte. Bei dem Anblick dieser Heuchler, Angeber und anderen Idioten, die ich mein ganzes Leben lang als Freunde um mich herum hatte, fand ich den Gedanken des Todes gar nicht mehr so schlimm, doch bevor ich diesen Gedanken richtig zuende gedacht hatte, fand ich mich in einem langen dunklen Tunnel wieder, an dessen Ende ein grelles Licht zu sehen war und auf das ich nun im schnellen Tempo zuschwebte. Im Tunnel war es kalt und unangenehm, doch das Gefühl, als ich beim Licht ankam war unglaublich. Es war ein warmes durchströmendes Glücksgefühl, das von diesem Licht ausging und ich hoffte, es würde nie aufhören. Ich kann nicht genau sagen, wie lange ich dieses Gefühl geniessen konnte. Es endete jedenfalls sehr plötzlich und ich fand mich in einer Art Büro wieder. Der ganze Raum war in ein goldgelbes Licht gehüllt, ähnlich wie bei einem Sonnenaufgang. Es befanden sich große Bücherregale an den Wänden und es sah alles etwas antik aus, ein paar Schritte von mir entfernt, ziemlich in der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch, dahinter ein großer gepolsterter Sessel, in dem Erich Honecker saß.
"Setzen sie sich doch bitte", sagte er und deutete auf einen Hocker, der vor dem Schreibtisch stand.
"Sie haben sicher einige Fragen, die ich ihnen gerne beantworten werde."
Ich setzte mich ihm gegenüber an den Schreibtisch, er hatte Recht, ich hatte eine Menge Fragen, doch ich brachte trotzdem kein Wort hervor.
"Willkommen im Leben nach dem Tod", begrüßte er mich und holte eine Akte aus der Schublade des Schreibtisches, er blätterte eine Weile darin herum und murmelte vor sich hin "Von der Ehefrau erschossen... mmhhh ist ja ein Jammer, lange Zeit als Arzt gearbeitet, ohhh ein Verhältnis mit einer ihrer Mitarbeiterinnen."
"Das steht alles da drinnen ?", ungläubig zeigte ich auf die Akte.
"Aber ja, wir wissen alles über sie, was dachten sie denn, was wir hier die ganze Zeit machen ?"
"Ich habe mir nie richtige Gedanken über den Tod gemacht", log ich. "Aber was ist mit Himmel, Hölle und der ganze Kram ? Wo bin ich gelandet ?"
Er sah mich überrascht an, "Ach du liebe Güte, sie sind in der Kirche ? Dann sind sie bei mir ja völlig falsch..."
"Nein, nein... ich bin nicht in der Kirche", versuchte ich ihn zu beruhigen.
Er sank erleichtert in seinen Sessel zurück, "Das hätte mir heute noch gefehlt, also ich will ihnen das mal erklären. Wer das irdische Leben verlässt, der kommt dann hierher und wir überprüfen dann ihr gelebtes Leben, um zu sehen für welches neue Leben sie sich bewährt haben oder was sie sonst für Aufgaben übernehmen könnten. Nehmen sie mich zum Beispiel, was für einen verdammten Job mir ein paar Jahre als DDR-Staatsoberhaupt eingebracht haben. Glauben sie mir, das neue Leben, dass ich bekommen hätte, wäre keines der angenehmsten gewesen, aber lassen wir das."
"Das heißt ich kann auf die Erde zurückkehren ?"
"Selbstverständlich behalten sie keine Erinnerungen an ihr früheres Leben. Es ist ein völliger Neubeginn."
"Was ist das für ein neues Leben?", wollte ich wissen.
"Eins nach dem anderen", sagte er mit erhobener Hand und begann wieder in der Akte zu blättern. „Hier stehen ein paar sehr negative Dinge. Wissen sie eigentlich welche seelischen Schmerzen sie ihrer Frau mit dieser Affäre zugefügt haben ?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Und wie sie ihren ehemaligen Kollegen über das Ohr gehauen haben wirft auch kein gutes Licht auf sie. Trotzdem sind da einige sehr lobsame Vermerke: Guter Vater gewesen, fleissig, einen Selbstmord vereitelt und dem Tierschutzbund jährlich einen nennenswerten Betrag gespendet. Alles in allem haben sie Anspruch auf ein neues leben der Klasse vier, das ist nicht schlecht, mein voller Ernst. Ich hatte damals einen Klasse9-Anspruch."
"Und wie genau sieht so ein Klasse vier-Leben aus ?"
Er nahm nun eine andere Akte hervor und blätterte erneut "Mal sehen was wir hier haben, da wäre einmal Frankreich, weibliche Existenz, vermögende Eltern, besonderes Talent für Musik und Kunst oder in Polen, männlich, Sohn eines alleinerziehenden Kfz-Mechanikers, physikalisches Interesse, sogar Chancen auf einen bedeutsamen Preis auf diesem Gebiet und nochmal weiblich, in Indien, homosexuelle Veranlagung, hochintelligent. Wahrscheinlich möchten sie jetzt erst eine Weile nachdenken, bevor sie sich entscheiden!"
"Bis wann muß ich mich denn entscheiden ?"
"Haben sie das vergessen, wir sind tot, sie haben die Ewigkeit zum nachdenken !"
Die Entscheidung war angesichts der geringen Auswahl gar nicht so schwer, wie ich zuerst gedacht hatte. Erich Honecker sagte mir noch, daß es sonst tatsächlich mehr Auswahl gebe und dies ein Zufall, der aber eben nicht zu ändern sei. Ich entschied mich schließlich für das Leben in Frankreich, da mir der Gedanke gefiel in einem reichen Elternhaus aufzuwachsen.
Als ich ihm die Entscheidung mitteilte, überreichte er mir ein Formular mit den Worten "Bitte ausfüllen". Eigentlich hätte mich ja nichts mehr wundern dürfen, aber bei dem Formular war ich doch überrascht und sah ihn verwundert an. Er zuckte mit den Schultern und sagte : "Bürokratie gibt es eben auch bei uns."
Nachdem ich das Formular ausgefüllt hatte, dachte ich "So schnell werde ich also schon zu den Lebenden zurückkehren" und war fast ein wenig traurig, gerne hätte ich mir die Vorgänge hier etwas angesehen, doch Herr Honecker meinte, daß das Unsinn sei, da ich mich in meinem neuen Leben sowieso nicht daran erinnern könnte und so verabschiedete er mich auch schon
"Viel Glück, geniessen sie es so gut sie können."