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Willkommen im Gemüse
„Oooma, Teeelefon!“ rief Viktoria.
„Ich kann jetzt nicht, wer ist dran?“ „Das Labor“, antwortete sie. „Frag was los ist, oder besser, sag ich rufe gleich zurück“.
„Liebe Frau Rettung, schön dass Sie es einrichten konnten von jetzt auf gleich für eine kranke Kollegin einzuspringen. Sie werden in Sektion S gebraucht“. Während der leitende Wissenschaftler, Herr Übelst sprach, schlüpfte sie in ihren Kittel, nickte kurz und machte sich auf den Weg zur Besenkammer. Vor Viktorias Geburt gehörte sie zum festen Personal, später kam sie regelmäßig als Aushilfe. Einige Laboranten winkten ihr zu und riefen - Hallo, Lottchen, schön dass Sie wieder hier sind -.
Es wurde ein anstrengender Tag, weil viel nachzuarbeiten war.
Am nächsten Morgen ging sie zügig ans Werk, wischte, fegte und entsorgte den Müll. Zur Mittagszeit setzte sie sich in ein sonniges Eckchen, schloss die Augen und döste ein wenig vor sich hin. War sie kurz eingenickt und hatte geträumt? Da rief doch jemand 'Lottchen'. Verwundert sah sie sich um, aber es war niemand zu sehen. Als sie aufstand bemerkte sie in unmittelbarer Nähe schwache Bewegungen. Langsam ging sie darauf zu. Unter einer mit Löchern versehenen Plastikbox lagen kleine, nackte Körper, die sich eng aneinander kuschelten. Erst als eines der Wesen den Arm hob, erkannte sie dass sie aussahen wie klitzekleine Menschen, in der Größe einer Zigarettenschachtel und bekam eine Gänsehaut. An der Box befand sich ein Aufkleber: Unbekannte Kultur, nicht berühren. Humanoid ähnliche Rasse, extremer Zwergenwuchs, ohne Intelligenz und Sprachvermögen. Fundort: Feld,- und Wiesengebiet. Vorsicht:
zappeln, kratzen und beißen! Außerdem ist mit plötzlichen Kotz- und Rotzattaken zu rechnen. Vorläufiger Name: Miniantus extremicus vulgares.
In der Hoffnung die Wesen können sie auch hören, nahm sie den Deckel der Box ab und flüsterte:
„Hallo, wer seid ihr, woher kommt ihr und warum seid ihr hier eingesperrt? Was ist passiert?“
„Oh, Lottchen, ein Glück das du uns gefunden hast.
Wir gehören zu den Ureinwohnern der Erde und sind das Volk der Wiesländer. Es gibt nur wenige Menschen die uns wahrnehmen können. Ein Hund hat uns erschnüffelt, aufgestöbert und verbellt. Wir konnten nicht weglaufen oder uns verstecken, waren dem Vieh schutzlos ausgeliefert und hatten große Angst.
Zwei junge Wissenschaftler die im Auftrag ihres Instituts Feldforschung betrieben, sammelten uns am Wegrand auf und so wurden wir verschleppt“.
Lottchen machte - Pst - stülpte schnell den Deckel auf die Box und setzte eine harmlose Miene auf als sie Stimmen hörte. Mit ihrem Arbeitseifer war es schlagartig vorbei. Bedrückt und nachdenklich verließ sie das Labor, kehrte wieder um und holte ihre Brotschachtel. Dann ging sie vor die Tür und atmete kräftig durch.
„Frau Rettung was ist los, Sie sind ganz blass. Geht es Ihnen nicht gut?“ fragte Herr Übelst besorgt.
„Mir ist plötzlich furchtbar schlecht, ich brauche nur ein bisschen frische Luft,“ stammelte sie.
Während des Nachmittags machte sie einen großen Bogen um die Box, weil sie den Anblick der leidenden Kreaturen nicht ertragen konnte. Sie war so aufgebracht über die Wissenschaftler, dass sie beschloss die Kleinen nicht ihrer Willkür zu überlassen und einem grausamen Schicksal auszuliefern. Nach einigen Tagen reiflicher Überlegung stand ihr Plan fest. Egal ob man sie erwischte und feuerte, oder sonst etwas schief ging, die Kleinen mussten da weg. Daraufhin hielt sie sich häufiger in ihrer Nähe auf und bald bot sich eine günstige Gelegenheit für ihr Vorhaben. Mit ihrer Brotschachtel unterm Arm schlenderte sie zur Box, nahm den Deckel ab, griff beherzt hinein und ließ, was sie gerade erwischen konnte, zwischen Leberwurstbrot und grüner Gurke verschwinden. Sie atmete auf als sie das Labor unbehelligt verließ. Jetzt war erst mal Wochenende und vor Montag würde niemand etwas bemerken.
Viktoria hatte einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen, das sie am Wochenende bei Freunden sei um ihre Biografie über Gott zu besprechen. Sie war stolz auf ihre Enkelin und dass sie sich an ein so schwieriges Thema wagte. Über Gott eine Biografie zu schreiben war ganz schön mutig. Lottchen lächelte zufrieden und öffnete die Brotschachtel.
Hustend und nach Luft schnappend landeten die Wiesländer auf dem Tisch. Überrascht riss Lottchen die Augen auf. Sie sah drei entzückende kleine Gestalten die wie Menschen aussahen. Nun zweifelte sie doch an ihrem Verstand, aber die Kleinen machten ihr klar das sie nicht verrückt geworden war. Lottchen gab ihnen ein Küchentuch damit sie sich ein wenig bedecken konnten. Dann begannen sie zu berichten, was sie seit ihrer Verschleppung erdulden mussten und was im weiteren Verlauf mit ihnen geschehen war.
„Nachdem sie uns gefangen nahmen fielen sie über uns her und untersuchten uns. Wir wurden grellem Licht ausgesetzt und man fummelte in unanständiger Weise an uns herum. Ätzende Flüssigkeiten und Strahlungen mussten wir ertragen, wurden mit Serum vollgepumpt und an Elektronen angeschlossen. Dann schnallten sie uns auf harten Unterlagen fest, damit wir still halten und sie ihr Teufelswerk ungehindert fortsetzten konnten. Wir sind ein freies Volk, warum behandelt man uns so unglaublich respektlos? Sie wissen nichts über die Vielfalt des Lebens. Ach, wie soll es nur weitergehen?“
Lottchen war entsetzt und versprach den verbliebenen Rest der Wiesländer in den nächsten Tagen auf die gleiche Weise zu holen. Jetzt wolle sie sich um einen Schlafplatz kümmern, morgen würde man weiter sehen. Flink leerte sie die untere Schublade in der Kommode, legte sie mit einer Decke aus und setzt ihre kleinen Hausgäste hinein.
Lange lag sie wach, tüftelte hin und her, dachte nur noch in Stichworten weil die Gedanken schnell durch ihren Kopf rasten und sofort wieder weg waren. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen, von wilden Träumen begleiteten Schlaf. Morgens hatte sie das Gefühl die vergangene Nacht keine Sekunde geschlafen zu haben.
Bisher war sie so mit ihrer Rettungsaktion beschäftigt, dass sie das Risiko bis jetzt erfolgreich verdrängten konnte. War ihr Tun nicht ebenso verwerflich wie das der Unholde? Was hatte sie gemacht? Sich in Dinge eingemischt die sie nichts angingen und nicht verstand. Trotzdem glaubte sie das Richtige getan zu haben als sie ein paar Forschungsobjekte vor der Nase der Übeltäter verschwinden ließ. Zusätzlich vertraute sie auf ein wenig Glück und ihren gesunden Menschenverstand das alles gut ausging, doch Falls nicht, na dann, gute Nacht Marie.
Versonnen schaute sie aus dem Fenster. Genau, das war eine gute Lösung! Umgehend schaffte sie die Asylanten in den Gemüsegarten und trug ihnen auf nicht wegzulaufen, sie sei gleich zurück. Freudig erregt rannte sie ins Haus und auf den Dachboden. Sie musste einige Kartons zur Seite schieben und da stand es: Das Puppenhaus von Viktoria. Es war so groß wie Viktoria damals mit sechs Jahren war als sie es bekam. Vom Maß her passten die Utensilien perfekt für ihre Schützlinge. Eifrig kramte und suchte sie nach brauchbaren Dingen und packte ein was ihr nützlich erschien.
Schon von weitem hörte sie rhythmisches Stöhnen. Als sie näher kam musste sie laut lachen. Drei Gestalten zerrten mit vereinten Kräften an einem Radieschen.
„Lottchen was ist das, kann man das essen?“
„Ja, ihr Süßen, kann man, es ist ein Radieschen, saftig, knackig und scharf.
Hier sind ein paar Sachen für euch, schaut mal was ihr davon gebrauchen könnt. Es gibt auch Kleider. Lasst euch Zeit es ist nicht eilig.“ Begeistert wühlten sie sich durch den Klamottenberg, anschießend bestaunten sie Geschirr, Töpfe und einen Herd. Unter einem Lavendel fanden sie einen Unterschlupf und hatten reichlich zu tun alles dort hinein zu tragen und sich einzurichten.
Gut vorbereitet ging Lottchen in den nächsten Arbeitstag, um ihr Werk zu vollenden. Ohne Probleme fischte sie die verbliebenen Wiesländer aus der Box. Dieses mal musste sie die Brotschachtel mit der sensiblen Fracht in die Kitteltasche stecken und warten, bis es Zeit war nach Hause zu gehen. Als sie mit den Neuankömmlingen im Gemüsebeet erschien lagen Lachen und Weinen bei allen nah beieinander.
In den folgenden Tagen herrschte Nervosität und Unruhe im Labor. Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen rannten die Mitarbeiter durcheinander, sahen in Papierkörbe und untersuchten jeden Winkel.
Lottchen vermutete inzwischen es dass hier nicht mit rechten Dingen zuging. Warum sonst machten sie kein Geschrei das ihnen die unbekannte Kultur abhanden gekommen war? Konnte es sein das hier etwas illegales stattfand und für ihre Schandtaten gar kein Forschungsauftrag vorlag, weil sie die Objekte nicht gemeldet hatten? Hatten sie verschwiegen was ihnen da in die Hände gefallen war? Dann war es noch viel schlimmer als illegal und kein Wunder dass sie unter diesen Umständen keine große Lippe riskieren durften. Innerlich frohlockte sie und steppte im Quadrat.
Zurück im heimischen Gemüsegarten erwartete sie eine Überraschung. Ihre Schützlinge hatten sich chic in Schale geworfen und empfingen sie feierlich mit Wurzelgebäck, Blättergemüse und Lavendeltee, schön serviert mit Geschirr aus dem Puppenhaus. Sie berichtete das alle Welt nach ihnen suchte und das Labor einige Tage Kopf stand. Das Verschwinden des kleinen Volkes blieb zwar rätselhaft aber niemand schöpfte Verdacht gegen sie und ihr eingreifen war für sie ohne böse Folgen geblieben.
Lottchen verbrachte ungewöhnlich viel Zeit im Gemüsegarten und Viktoria spöttelte:
„Na Oma, gibt es irgendwo den ersten Preis zu gewinnen, oder warum gestaltest du so viel um und rackerst dich ab?“ Lottchen war in Versuchung von den heimlichen Mitbewohnern zu erzählen, tat es aber doch nicht, die Zeit war noch nicht reif.
In ihrer Dankbarkeit betonten die Wiesländer mehrfach wie glücklich sie waren dass Lottchen sie vor Herrn Übelst und Co. in Sicherheit gebracht hatte. Sie drucksten ein wenig herum, fasten allen Mut zusammen und fragten ob sie hier wohnen bleiben dürften. Lottchen war gerührt von dem entgegengebrachten Vertrauen, erlaubte ihnen sich häuslich im Gemüse einzurichten und hieß sie
herzlich Willkommen.
Irgendwann würde sie Viktoria von der außergewöhnlichen Begegnung mit dem kleinen Volk erzählen.
©Frau A aus B