Willkür
Ein Mann zündete eine Zigarette an und schrieb ein Gedicht.
Dazu setzte er sich an den Schreibtisch, denn hier war das Licht
gerade so, wie er es für gut befand. Nicht zu dunkel, nicht zu hell,
zwielichtig sollte es sein. Er schrieb schon lange und auch recht schnell,
denn über die Jahre hatte er Übung darin bekommen, seine Seele zu Papier zu bringen.
Zeile um Zeile, Strophe um Strophe wuchs die Erzählung zu einer Harmonie heran,
die er selbst, der schon lange dichtete, nicht für möglich gehalten hätte. Ihm war, als singen
und jubeln die Fantasien in seiner Brust ein Lied der Freude und Zufriedenheit. Sodann
aber wurde er nachdenklich und betrübt. So wundervoll sein Gedicht auch war,
so vollkommen und perfekt: es schmerzte ihn, diese wundervolle Vollkommenheit
und Perfektion zu betrachten. Tief in seiner Seele, da spürte er das Leid,
da hörte er die Stimmen klagen. Und er hörte ihnen zu und erkannte alsbald und sah
auch ein, dass er dieses vollkommene Gedicht, das an Wahrheit und Schönheit
unerreicht und einzigartig war, zerstören müsse. Er brauchte einige Zeit,
bis er bereit war.
Dann aber zündete er sich erneut eine Zigarette an und starb einige Jahre später an Lungenkrebs.
*
Ein anderer Mann zündete sich eine Zigarette an. Nach jahrelanger Forschungsarbeit war es nun an der Zeit, die Früchte des Erfolgs zu ernten. Er wusste um die Revolution, die seine Arbeit im wissenschaftlichen und praktischen Denken und Handeln auslösen würde. Es war eine dieser Sternstunden, die nur alle tausend Jahre einmal im hellsten Licht erleuchteten. Ruhm, Ehre, Anerkennung, materielle Sicherheit bis ans Ende des Lebens waren in diesem Fall nur das Mindeste, was er zu erwarten hatte. Er ging noch einmal die Wege durch, rechnete die Formeln nach, vergewisserte sich dessen, was er selbst kaum glauben konnte. Da war sie nun, stand geschrieben auf hundert Seiten vor seinen Augen: die kalte Fusion.
In einer Zeit, da alle Öl- und Gasressourcen erschöpft, alle Kohlen abgebaut waren, regenerative Energien längst nicht mehr die Welt versorgen konnten und durch ausgebrannte Stäbe der Kernenergie weite Teile der Erde radioaktiv verseucht waren, war diese Arbeit, die er geschaffen hatte, mit der Wiedergeburt Christi zu vergleichen. Retter der Menschheit und ihrer Art zu leben.
Er machte die Ergebnisse seinem Land zugänglich, das bald darauf zu einer Weltmacht avancierte, die nun willkürlich über die Preise für Energie bestimmen konnte.
Länder, die nicht zahlten, mussten zusehen, wie sie zurechtkamen.
Länder, die kriegerisch wurden, hatten gegen die neuen Technologien nichts entgegen zu setzen.
Der Wissenschaftler wurde in Stein verewigt und zu einem Nationalhelden, an dessen bahnbrechende Leistung jeweils am 4. Juli jedes Jahres gedacht wurde.
*
Die Frau zündete sich eine Zigarette an und hustete schwer. Sie wusste um den Krebs in ihrer Lunge, wusste, dass sie nicht mehr lange zu Leben hätte – jedenfalls nach dem aktuellen Stand der Medizin. Doch bald würde alles anders werden, da war sie sich sicher.
All die unheilbaren Krankheiten dieser Zeit – Krebs, AIDS und ein mutierter, hochgradig ansteckender und tödlicher Grippevirus – könnten schon bald nur noch in Geschichtsbüchern zu finden sein. Dass ihr Bild daneben stehen würde, war ihr mehr oder weniger egal. Ein wenig stolz würde sie sein, sicherlich. Auch das ein oder andere Kompliment zur Anerkennung ihrer Leistung würde sie gerne entgegen nehmen. Aber mehr noch als der persönliche Erfolg war ihr wichtig, dass endlich keine Väter und Mütter sterben und ihre Kinder zurück lassen müssen. Sie betrachtete das Foto von Robin, ihrem Sohn, das sie in einem kleinen Amulett stets um den Hals trug.
Als sie ihre Arbeit mit Erfolg abgeschlossen hatte, erklärte sie dem Leiter des Institutes, was sie geschafft hatte: Durch eine Kombination aus alten und neuen Wirkstoffen sowie resistenter Zellen aus den Körpern von immunen Menschen konnte sie einige Medikamente synthetisieren, die gegen eben jene Krankheiten wirkten. Dabei war sie auf ein Grundmuster der Krankheiten gestoßen, an dem die Mittel ansetzten. Sie ersparte ihm lange Vorträge in Fachsprache und bestätigte zum Schluss die Wirksamkeit aller Stoffe.
Ihre Arbeit wurde in inoffiziellen Versuchsreihen überprüft und bestätigt.
Der Pharmakonzern hielt nun das Elixier des Lebens in Händen.
Doch er meldete den Erfolg nicht, ließ die Wundermittel nicht produzieren, half keinem der kranken Menschen, auch nicht der Wissenschaftlerin. Sie starb kurze Zeit später an ihrem Krebs. Zuvor hatte man darauf geachtet, dass sie nichts von ihrem Ergebnissen an die Öffentlichkeit bringen konnte. Schließlich stand viel auf dem Spiel: viel, sehr viel Geld.
So aber verkauften sich auch weiterhin all die anderen Medikamente und spülten weiterhin Profit in die Kassen.
Die Wundermittel aber blieben gut verschlossen im Tresor.
Im Konzern entwickelte man genetisch optimierte Krankheiten für Tier und Mensch, gegen die nur die Wundermittel Hilfe versprachen. Getestet wurden die Erreger in kleinen, afrikanischen Dörfern, aus denen es dann hieß, Ebola sei ausgebrochen. Wer prüfte das schon nach außer bestimmten Wissenschaftlern, die leicht mit entsprechenden Finanzspritzen zu der erwünschten Überzeugung gebracht werden konnten. Wer sich dagegen wehrte, musste damit rechnen, sich eines Tages mit einer unbekannten Krankheit infiziert zu haben.
Der Konzern wurde schnell reich, als eben eine dieser unbekannten Krankheiten, die schon bald den Namen Gehirnpest bekam, in den Großstädten ausbrach und er das einzige Gegenmittel entwickelt hatte.
Auf mysteriösen Wegen infizierten sich in der nächsten Zeit auch einflussreiche Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik. Und immer war es der Konzern, der die entsprechende Medizin bereitstellte.
Journalisten, die eine Verschwörung witterten, erkrankten schnell an Vogelgrippe oder ähnlichen Krankheiten.
Innerhalb von fünf Jahren hatte der Konzern in allen einflussreichen Positionen Abgesandte sitzen. Er hatte Einfluss in allen politischen Feldern und allen wirtschaftlichen Bereichen.
Und die Macht wuchs von Tag zu Tag.
Dies bemerkte schließlich ein Land, das durch einen genialen Wissenschaftler die kalte Fusion entwickelt hatte. Es forderte entsprechende Zahlungen des Konzerns, ansonsten sei man gezwungen, neu entwickelte Waffentechnik einzusetzen.
Der Konzern zahlte nicht, sondern wehrte sich mit seinen Mitteln.
Daraus entwickelte sich ein Krieg, der bald schon auf der ganzen Welt ausgefochten wurde. Menschen starben entweder an den Folgen von Krankheiten oder durch die Kraft von Neutronenbomben.
Der dritte Weltkrieg dauerte gut einen Monat.
Die Welt, wie man sie gekannt hatte, existierte nicht mehr. Großstädte waren Ruinen und Massengräber.
*
Das Licht erlischt, die Ahnung liegt in der Vergangenheit.
Die Zeit brachte Tod und der Tod brachte unsagbares Leid.
Die Welt hört auf zu existieren,
hört auf zu rotieren,
stirbt im kalten Grab.
Der alte Mann sank auf seinem Schreibtisch zusammen und starb.