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Wilder Hengst, 23cm
Ja, es ist ein schöner Tag. Spätsommer. Obwohl der Oktober die Bäume schon mit buntem Outfit überzogen hat, kann man heute Menschen in T-Shirts durch die Alleen flanieren sehen, denn die Sonne verleiht der Stadt ein ausgesprochen freundliches Klima. Während ein kleines Kind auf einem Bürgersteig gerade einen funkelnden Katzengoldstein aufhebt und die Mutter vergeblich versucht, es aus seiner begeisterungsbedingten Starre heraus zu ziehen, sitzt Werner in der gleichen Kleinstadt eine Parallelstraße weiter und dann links in einem dunklen Raum.
Wir sehen sein Gesicht. Der Ausdruck enspricht dem schlechten Standbild eines Videorekorders. Es tut sich nicht viel daran außer etwas statischen Rauschens, die Augen sind geweitet und fixieren zeitweise einzelne Punkte, bevor der Blick über den Bildschirm springt. Die Haut wird als Projektionsfläche der Monitorstrahlung genutzt, das bunte Lichtspiel, das über Mund, Nase und Kinn irrlichtert, hat die Qualität eines Videokünstlerhappenings. Werner chattet.
In einer Ecke seines Bildschirms ist ein Fenster geöffnet, das die Daten einer Webcam anzeigt. Am Balkongeländer ist der zugehörige Datenlieferant befestigt. Werner hat das Gerät selbst mit einem kleinen Servomotor ausgestattet, der die Kamera langsam von links nach rechts und wieder zurück bewegt. Sieht man die Bilder, die sie liefert, erkennt man nicht mehr, als den Garten des Vermieters, Apfelbäume und den Himmel darüber.
Im Prinzip mag Werner Wetter. Er ist ihm nur nicht gerne ausgesetzt. Darum sind die Rollos bis auf den letzten Spalt heruntergelassen, er beobachtet meteorologische Gegebenheiten lieber auf dem Monitor. Um in herum liegen, scheinbar um das Klischee zu unterstreichen, leere 5-Minuten-Terrinen, die davon zeugen, daß der Esser nicht gerne seinen Stammplatz verläßt, weder zur Essenszubereitung, noch zum Aufräumen.
Im Chat hat BlondeBombe17 ihn angesprochen.
BlondeBombe17: ”Hi Du! Wo kommst Du denn her und was machst Du gerade?”
Normale Menschen sitzen gerade in der Arbeit oder Schule, Werner zog es allerdings heute vor den Unterricht wegen anstehender Deutschklausur entfallen zu lassen.
Werner: ”Hallo auch! Heiße Werner und bin Softwareentwickler in einem geheimen Regierungsprojektprojekt. Sitze gerade in meinem dunklen Büro und warte auf einen Upload, da dachte ich, geh ich kurz in den Chat.” Naja, denkt er, das macht die Sache irgendwie interessanter. Er tippt nicht mal, mittels Drag and Drop kopiert er die Floskel aus einer geöffneten Textdatei, die alle möglichen Sätze dieser Art enthält. Er hat echt lange gesammelt.
BlondeBombe17: ”Du sitzt im Dunkeln? Wieso das denn? Weißt Du eigentlich, wie geiles Wetter hier in München ist?”
Werner: ”Du kommst aus München? Ich auch fast. Sehe das Wetter schon, habe eine Webcam draußen installiert, da ich im 5. Untergeschoß sitze. Habe dann weniger Probleme damit, mich zu erinnern, was real ist: Da draussen oder hier.” Er fügt der Bemerkung noch ein Semikolon, Minus und Klammer geschlossen hinzu.
O.K., mit dem Untergeschoß hat er gelogen, denn er muß nicht mal den Arm ganz ausstrecken, um das Fenster zu berühren, doch mit den 2 Realitäten hat er nicht ganz unrecht. Wie mit dem Wetter kann Werner auch mit Menschen nicht allzuviel anfangen. Dies beruht – im Gegensatz zum Wetter - auf Gegenseitigkeit. In der Schule ist er unbeliebt. Er schafft es nicht, sich mit Mitschülern zu unterhalten, das einzige Gesprächsthema, das er einigermaßen vertreten kann, sind Computer. Doch selbst langjährige C´T-Abonnenten pflegen, sich nach einigen Minuten von ihm abzuwenden, da er die Technik auf eine perverse Art vergöttert oder, wie sie meinen, sich einfach falsch ausdrückt. Ist ihnen aber auch egal. Seine Spitznamen reichen von eher einfallslosen Bezeichnungen wie ”Vollspinner”, ”Nerd” und ”Weichkeks” bis hin zu virtuosen Verunglimpfungen wie ”Kommunikationsspastiker”, ”Computerficker” und ”Internetjunkie”.
Anders hier: Im Chat ist er “DoktorLove”. Schon bevor sonst irgendjemand in Chats herumgurkte, hatte sich Werner jede Menge Nicknames gesichert: ”SilverSurfer”, ”A.Nomym” und und eben DoktorLove waren nur einige davon. Im Netz ist er der Macker, der Überflieger und immer gern gesehene Gesprächspartner. Sosehr er Schwierigkeiten mit der Konversation hat, wenn ihm jemand gegenübersteht, so redegewandt, charmant und pfiffig ist sein Umgang mit virtuellen Abbildern von Leuten um die ganze Welt. Während er im Leben ”da draussen” – wie er es nennt – noch nie eine Frau nackt gesehen hat und allein beim Gedanken, von einer solchen angesprochen zu werden, vor Scham wie eine Tafel Schokolade in der Hosentasche zerfließt, ist ihm der Begriff Cybersex nicht fremd. Während er zuerst nur Bilder mit nackten Frauen herunterlud um sich dann vor dem Bildschirm einen herunterzuholen, ging er später dazu über, Frauen im Chat in Separees abzuschleppen und mit Ihnen DirtyTalk abzuhalten, bis ihm einer abging. Ein Nickname für solche Gelegenheiten ist z.B. ”WilderHengst23cm”. Doch umsomehr seine Fähigkeiten im Netz zunahmen, desto weniger behielt er die Fähigkeiten im richtigen Leben. Sogar seine Deutschnote sank in den Keller, was die Sache mit der Klausur erklärt.
BlondeBombe17: ”Das klingt ja fett! Und Du kannst mir sicher nicht sagen, an welchem Projekt Du arbeitest? Ach komm! Bütte, bütte!”
Darauf wartet Werner jedesmal nur. ”O.K., weil Du es bist. Kennst mich ja eh nicht… Ich versuche, eine virtuelle AI, also künstliche Intelligenz, zu programmieren, mit der ich meine komplette Persönlichkeit in das Internet einspeisen kann.”
Eine Weile erschien nichts neues auf dem Monitior. Dann:
BlondeBombe17: ”Das klingt ja hammermäßig. Und was ist der Zweck des ganzen? Willst Du Dich klonen?”
Werner: ”Nein, nicht Reproduktion ist das Ziel. Ich könnte den Körper sinnlos machen. Den starken Geist vom schwachen Fleisch trennen. Ich würde im Internet weiterbestehen.”
BlondeBombe17: ”Und was wäre mit Deinen Freunden?”
Werner: ”Manchmal muß man dazu bereit sein, Opfer zu bringen.”
Die Sache mit der Unfähigkeit, mit Menschen umzugehen, ließ er mal lieber unter den Tisch fallen.
Wie auch den letzten hatte Werner diesen Satz aus seiner Liste vorbereiteter Konversation eingefügt. Er hatte mal eine Idee, ein Programm zu entwickeln, das sich automatisch auf so einer Liste basierend in Chats unterhalten könnte. Er selber hatte schon ganze Gespräche mit seiner Sammlung geführt, ohne ein Wort selbst einzutippen. Drag and Drop, ohne daß es sein Gegenüber merkte. Allerdings machte ihm diese Idee auch Angst, denn was, wenn dieses Programm schon erfunden worden wäre? Was, wenn er sich die ganze Zeit nur mit einem Programm unterhielte, das seine Copy-Paste-Methode lange durchschaut hätte? Es würde sich kalt und desinteressiert ausschließlich Log-Einträge in Form von Statistiken zur Häufigkeit der Verwendung einzelner Phrasen machen. Und irgendwo würde sich ein programmierender Spaßvogel über ihn schlapplachen. Werner machte sich ein gedankliche Notiz, sich die Idee patentieren zu lassen.
BlondeBombe17: ”Aber… was ist denn mit Sex? ich bin 17, bin blond und habe eine Wahnsinnsfigur. Ich sitze hier nur mit einem Morgenmantel bekleidet. Könnte ich Dich nicht ein bisschen von Deinem Projekt ablenken? Ich habe gehört, daß Du unter einem anderen Nickname ganz schön scharfe Sachen drauf hast…”
Darauf hatte Werner gewartet: ”Du gehst ja ran! O.K. Bombe, ich machs uns ein bisschen gemütlicher…”
Während er mit einer Hand die Worte ”go Kuschelcorner” in die Tastatur hackte, die das gleichnamige Separee öffneten, öffnete er mit der anderen Hand die Hose, um sie mittlerweile stehend bis zu den Knöckeln herunterzulassen. In seiner Gesprächsvorlage kopierte er den Satz ”Ich dimme das Licht und lege sanfte Musik auf. Dann kuschel ich mich auf das Sofa, das mit Leopardenfall überzogen ist. Komm, kuschel Dich zu mir!”
Gerade als er den Satz im Chatmodul einfügen wollte, betrat BlondeBombe17 den Raum.
BlondeBombe17: ”Ha, Du Vollidiot, endlich habe ich Deine IP-Adresse rausgekriegt. Ich bin weder weiblich, bin 23 und programmiere Computerviren. Und bei dem Bockmist, den Du erzählst, hast Du das Privileg, Betatester für meinen neusten Virus zu werden. Ich speichere ihn gerade auf Deiner Festplatte! Schönen Tag noch, DoktorLove!”
Werners Hand tatstet panisch nach der Maus.
Schnell, die Firewall!
Doch zu spät, der Zugriff ist nicht mehr zu blocken. Werner schaltet die Firewall, die Ihn vor fremden Zugriffen schützt, ab und zu aus, da sie Speicher beansprucht und er glaubt, das würde die Datenübertragung beeinträchtigen. So wie eben jetzt.
Sein Bildschirm wird blau.
Es erscheint eine Nachricht:
”Willkommen zum Code Violett 2! Dieses Programm löscht in 5 Sekunden Ihre Festplatte und macht sie komplett unbrauchbar. Es sei denn, sie geben bis dahin die ersten beiden Zeilen von Schillers Glocke ein. Ansonsten wünschen wir Ihnen noch einen schönen Nachmittag.”
Scheisse. Schiller. Die Glocke. Genau deshalb war er heute zuhause geblieben. Die Klausur über dieses Gedicht.
4, 3, 2, 1. Die Festplatte rattert, klingt nicht gut. Dann Stille.
Der Bildschirm ist jetzt weiß und leer. Werner steht noch immer vor dem komplett formatierten Computer: Die Hosen heruntergelassen, die eine Hand an der Maus, in der anderen seinen Pillermann und den Blick mit weit offenem Mund auf den Bildschirm gerichtet. Hätte jemand diesen Moment fotografieren können, er wäre wahrscheinlich mit dem wahnsinnig dämlichen Bild berühmt geworden.
21.11.2002, 16.14 Uhr