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Wig Wam Bam
Unsere Clique traf sich immer bei den Jordanovs. Wir konnten kommen, wann und mit wem wir wollten. Irgendeiner war immer zuhause und öffnete, oder wir gingen gleich hinten rein, da war sowieso immer auf. Im Vorübergehen warfen wir nur ein kurzes 'Hallo' ins Wohnzimmer und gingen direkt nach oben in Rolfs Zimmer. Meist lag er total verschlafen im Bett. Aber nie war er sauer, wenn wir einfach hineingingen und uns irgendwo in dem Chaos von alter Wäsche, vollen Aschenbechern und nicht abgeräumten Essenstellern einen Platz suchten. Dann holte jemand ein Päckchen Zigaretten heraus und wir begannen zu rauchen.
Jetzt kam auch Toby, ein braunweißer Border Collie unter der Decke hervor, streckte sich gähnend, ging schwanzwedelnd von einem zum andern und ließ sich streicheln. Während wir über Autos und Mädchen redeten, kam Dirk dazu, Rolfs kleiner Bruder. Obwohl er ein paar Jahre jünger war und aussah wie ein Siebenjähriger, ließ er sich die Butter nicht vom Brot nehmen. Er rauchte und redete wie wir. Er hatte gelernt sich durchzusetzen. Schließlich war er der Jüngste von sechs Geschwistern. Die beiden Mädchen waren zwar schon aus dem Haus, aber es gab ja immer noch drei ältere Brüder. Mit einem 'pfft' und einer ruckartigen Bewegung des Kopfes, blies er sich die Haare aus dem Gesicht und inhalierte.
Mehr brauchten wir nicht, damals, nur uns selbst und ein paar Zichten.
Zu den beiden älteren Brüdern gingen wir nur, wenn sonst keiner da war. Die waren irgendwie lahm. Da begaben wir uns doch lieber ins Wohnzimmer zu den beiden Alten. Die saßen meist vor der Glotze. Liesette, eine herzensgute, korpulente Seele, war vollkommen mit dem Haushalt überfordert. Aber niemand störte sich daran. Und dann war da noch der alte Jupp. Er wirkte neben seiner stattlichen Frau total verloren, denn er war klein und schmächtig. Wir kannten ihn nur besoffen und mit Kippe auf dem Sofa. Er war Spieß bei der Bundeswehr und ernährte die Familie so recht und schlecht. Da es finanziell an jeder Ecke am kneifen war, ging Lisette jeden abend bei Erb kochen. Das war eine Gaststätte ein paar Straßen weiter. Obwohl heruntergekommen, war es dort immer voll. Lisette gab ihr Bestes, aber wenn sie spät nachts heimkam, lief gar nichts mehr. Morgens kam sie dann einfach nicht hoch, Rolf und Dirk verpassten regelmäßig die Schule.
Wenn wir uns dann also im Wohnzimmer breitgemacht hatten, dauerte es keine zehn Minuten, da flog uns der Autoschlüssel vor die Füße.
„Holt mir mal 'n Bier!“, meinte Jupp dann und gab uns ein paar Münzen. Darauf hatten wir nur gewartet und liefen wie eine Trampelherde den Hofeingang hinaus zu der alten Familienschlorre. Keiner hatte einen Lappen, aber alle wollten fahren, wir waren vierzehn oder fünfzehn.
Jupp interessierte nur sein Bier und Lisette hielt sich raus, sonst wäre er in seinem Dunas noch selbst gefahren. Die beiden älteren Brüder bekamen das alles nicht so mit. Die saßen meist allein in ihren Zimmern. Sie hätten auch nichts gesagt, höchstens einen halben Liter abgestaubt.
Der alte Taunus hatte vorn eine durchgehende Sitzbank für drei Personen, dank Lenkradschaltung. Hinten nochmal drei und wenn das nicht reichte, dann krochen die Kleineren in den durchgehenden Kofferraum des Kombis. So waren wir meist zu acht unterwegs und der Wagen knarzte in den Federn.
Wir stritten uns nie, wer ans Lenkrad durfte. Das entschied Rolf und es wurde akzeptiert. Wenn es losging, hatte sofort jeder eine Kippe im Hals. Der Motor brummte und wir fühlten uns frei und unbesiegbar, schließlich hatten wir den Segen der Erwachsenen.
In jeder Kurve flog alles durcheinander, vor allem vor der Werkzeugkiste musste man sich in Acht nehmen.
Der Nachbarshop war nur ein paar Häuser entfernt, aber vor Ablauf einer Dreiviertelstunde kamen wir sowieso nicht zurück. Der Qualm biss in den Augen, das Radio überschlug sich und hinten polterte es in jeder Kurve. Muss ich erwähnen, dass es damals weder Gurte noch Kopfstützen gab? Wir waren anerkannt wie Erwachsene, aber ohne Verpflichtungen.
Am Samstag abend ging es regelmäßig nach Tespe in den Schnuckenstall, einer kleinen Diskothek am Elbdeich, kurz vor Hamburg. Das war eine längere Tour. Wir hingen kreuz und quer in den Sitzen, vor allem, wenn Mädchen mit an Bord waren. Die Straßenlaternen ließen Schatten durch das Wageninnere tanzen. Das hat die Mädchen wohl irgendwie hypnotisiert. Und wir Jungs suchten Körperkontakt, ...so ganz zufällig, versteht sich. Rolf übernahm dann meistens die undankbare Rolle des Chauffeurs, er hatte das Lenkrad, wir die Mädchen.
Vor dem Schnuckenstall war ein kleiner Wiesenparkplatz, auf dem ein paar Käfer herumstanden. Der lange Kombi hing schwer in den Ferdern als Rolf majestätisch einbog. Damit ernteten wir schon neugierige Blicke der Draußenstehenden. Als wir uns dann noch zu acht aus dem Wagen pellten und unsere schlacksigen Körper reckten und streckten, waren wir schlechthin die Angeber aus Bardowick. Aber den Mädchen gefiels.
Manchmal drehte sich die ramponierte Spiegelkugel an der Decke. Tierfelle an Holzbänke getackert, ein paar bunte Glühbirnen hier und da, das war die Einrichtung. Geld hatten wir nur wenig, Eintritt, zwei Cola-Rum, das wars für den ganzen abend. Von draußen hörten wir dann schon Lady Bump, ach ja , der Bump: Zwei Mädels hüpften im Takt und stießen dann mit einem sexy Hüftschwung mit ihren Pos aneinander. Penny McLean wurde hoch- und runtergespielt. Zwanzigmal am abend. Und jedesmal aufs Neue rannten die Mädchen auf die Tanzfläche, um zu Bumpen. Die Jungs machten Platz und schauten ihnen zu.
Kaum hatten wir den Rückweg angetreten, rümpfte jemand die Nase:
„Sag' mal, hat sich ein toter Iltis in deine Heizung verirrt, oder was stinkt hier so?“
„Booaah! Das ist ja voll eklig, wo kommt das denn her?“
„Da hat sich doch wohl einer von den Jungs die Schuhe ausgezogen. Wer hat denn hier solche Schweißmauken?“
„Ach, du Scheiße, das bin ich ja! Igitt, ich bin voll in die Scheiße getreten! Oörcks! Halt mal an, Rolf! Oh nein, meine schönen Stoffturnschuhe, die hab' ich heute zum erstenmal an.“
Alle Blicke richteten sich auf die Füße des Mädchens. Soweit das im Dunklen zu erkennen war, hatte sich die Scheiße um den Turnschuh des Mädchens gewunden und kam über dem Vorderfuß schon fast wieder zusammen.
Rolf war einfach weitergefahren und sagte:
„Schmeiß' die Dinger aus dem Fenster, ich hab' hier gerade so schön Strecke vor mir.“
„Ja toll, und ich lauf' denn in Socken hier rum?“
„ … fährst ...“
„Sehr witzig, du Arsch!“
„Ach, nun reg' dich nicht auf, bei uns im Keller stehen bestimmt noch irgendwo welche rum.“
„Von Lisette – hahahahaha!“
„Ihr seid gemein!“
Sie öffnete mit spitzen Fingern das Schuhbändchen und zog den Turnschuh vorsichtig vom Fuß.
„Und jetzt?“
„Wickel das Ding in die Fußmatte ein.“ Rolf dachte immer praktisch, denn die war ja auch beschmiert. Das Mädchen hielt jetzt das ganze Paket mit beiden Händen hoch. Ich beugte mich drunterdurch, um das Fenster herunterzukurbeln. Dabei rieb meine Schulter an ihrer Brust, … so ganz zufällig, versteht sich.
„Oohhh, Holger“, flötete sie gereizt, „das ist ja soooo romantisch. Das müssen wir unbedingt nochmal wiederholen.“
„Ja, was glotzt ihr so, das wollte ich eben schon immer mal machen!“
„Raus mit dem Ding!“, rief Rolf.
Kaum war das geschehen, quietschten hinter uns Reifen.
„Was fährt der auch so dicht auf“ schimpfte Rolf. Die Köpfe flogen herum und sahen einen grünen Käfer mit weißen Kotflügeln, der schlingernd dem auseinandergeplatzten Paket auswich.
„Fahr mal lieber rechts ran, so richtig mit Blinken und so. Und wenns geht auch schön majestätisch, das sind nämlich die Bullen.“
Da kam auch schon die Blechkelle am kurzem Holzstiel. Der Polizeikäfer stellte sich quer vor uns.
„Den Führerschein, bitte.“
Der Mann verdunkelte mit seinem Kreuz das Licht der Straßenlaterne und sein Bauch wollte ins Wageninnere fallen. Unsere Herzen klopften bis unter die Schädeldecke. Jeder von uns hatte jetzt nur einen Gedanken. 'Rolf hat keinen Lappen.'
So gern wie wir ihn alle mochten, aber jetzt war jeder froh, nicht an seiner Stelle zu sein. Ausgerechnet - so selten wie er fuhr, er hatte uns sonst immer vorgelassen. Er saß nur am Steuer, weil er als einziger nichts getrunken hatte. Tragisch.
Während Rolf im Handschuhfach kramte, schritt der Kollege des Dicken gemächlich an uns vorbei und untersuchte den Turnschuh.
„Wird's bald!“, bellte der Dicke und Rolf zuckte zusammen.
„Ah!“, rief er mit zittriger Stimme, „Hier ist der Fahrzeugschein.“
„Das ist doch schon mal was!“ rief ich von hinten. Alle sahen mich an, auch der Polizist lugte kurz durchs Fenster ins Heck. Er stutzte, als er sah, dass wir zu sechst waren. Er hielt den Schein in das Licht der Straßenlaterne.
„Ja, brat' mir doch einer 'n' Storch, der Wagen ist ja tatsächlich für sechs Personen zugelassen. Hmm.“
„Komm mal schnell her!“, rief der Kollege von hinten, „Das musst du dir ansehen.“
Bevor sich der Dicke umwendete, hielt er seine Pranke in den Wagen.
„Schlüssel!“
Dann sahen sich die beiden das Objekt des Anstoßes genau an.
Entschlossen ergriff Pechmarie die Initiative, sprang aus dem Wagen und lief in Socken zu den Polizisten. Wir schauten uns verwundert an. Das Mädchen redete auf die beiden ein. Wir konnten nicht alles verstehen, nur so Fetzen, wie ...das ist alles meine Schuld ... Reingetreten … dicht hinter uns rumgedrängelt … konnten nicht halten … überholt … hochgehalten … fing an zu rutschen … tut leid ... kommt bestimmt nicht wieder vor. Dann schluchzte sie zum Herzerbarmen.
Die beiden standen da und nickten mit den Köpfen. Alle drei kamen zum Auto.
„Wenn jetzt noch eine Klitzekleinigkeit dazukommt, dann gibt’s richtig Ärger. Da vorne ist ein Abfalleimer, dort entsorgen Sie ihren Müll vorschriftsmäßig, ich will das sehen!“ Der Dicke gab Rolf die Fahrzeugpapiere und Schlüssel zurück.
Rolf sprang selbst aus dem Wagen, tat alles vorsichtig in eine Plastiktüte und ließ sie in einen blechernen Abfallkorb vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft fallen, ich glaube es war 'Thams und Garfs'.
„Jetzt hat Thammel und Gammel das Problem!“, sagte Rolf beim Einsteigen.
Der zweite Polizist machte den Weg frei und Rolf fuhr langsam an. Sein Kollege mit dem breiten Kreuz, war am Fenster stehengeblieben und sah von außen in den Innenraum, der sich Fenster für Fenster langsam an ihm vorbeischob. Im Kofferraum hob sich vorsichtig eine graue Bundeswehrdecke und zwei Gesichter sahen darunter hervor. Dirk und seine Freundin. Sie nickten freundlich in ein rundes Gesicht mit Polizeimütze.
Während Rolf majestätisch weiterfuhr, stand der Bulle wie versteinert. Dann stemmte er die Fäuste in die Hüften.
„Ja, brat' mir einer 'nen Storch.“
Rolf brauste jetzt doch eher sportlich davon, wir waren ja offiziell entlassen. Im Rüchspiegel sah er, wie der Polizist kopfschüttelnd, aber ohne Eile zum Peterwagen ging.
Sofort brach ein ohrenbetäubendes Gejohle los. Das war knapp gewesen.
Nach so einer Tour waren wir hungrig. Wieder zuhause, machten wir uns in der Küche der Jordanovs, Pfannkuchen. Das erste Mal hatte Lisette uns noch Anweisung gegeben, aber das war lange her. Als kleines Dankeschön soffen wir ihnen auch noch den letzten Kaffee weg. Es wurde aber nie wirklich geschimpft, über Lisettes Lippen kam höchstens ein resolutes:
„Ihr hättet ja wenigstens bescheidsagen können!“
Abends saßen wir dann mit belegten Broten und Gurken aus dem Glas im Partykeller und legten Platten auf. „Wig Wam Ba - Wig Wam Ba - Wig Wam Ba ...“ Die Nadel sprang zurück, als wollte sie die Zeit anhalten. The Sweet und Renate Kern, alles völlig zerkratzt. Warum, zum Teufel, hat das niemanden gestört? Ich weiß es nicht. Wir haben viel gelacht, damals.
So ging es eine lange Zeit und bald waren die ersten von uns mit der Schule fertig, gingen in die Lehre oder mussten für zwei Jahre zum Wehrdienst. Einige hatten auch schon eine feste Freundin. Da saßen wir alle noch einmal im Dunst der Zigaretten zusammen bei Rolf oben, redeten über den Bund und Autos, als es unten ein Geschrei gab.
Wir rannten zur Treppe und sahen hinunter. Da stand Jupp im Flur. Offensichtlich völlig abgetreten, hielt er die Hundeleine am gestreckten Arm so hoch, dass der arme Toby in der Luft zappelte und jämmerlich schrie und jappste. Mit der anderen Hand hielt er Lisette auf Abstand.
Wir trauten unseren Augen nicht und waren völlig entsetzt, aber auch gelähmt. Es nahm kein Ende. Der Hund wurde immer stärker stranguliert und erlahmte in seiner Gegenwehr. Er gab nur noch ein ersticktes Quietschen von sich. Lisette schrie ihren Mann an, aber der stand wie ein Fels. Der kleine schmächtige Mann hatte uns alle in der Gewalt. Wir erlebten wie in Zeitlupe unser aller Demütigung und er kostete das aus.
Nach ein oder zwei endlosen Minuten ließ er die Leine unvermittelt los, woraufhin sich der Hund benommen und völlig verstört unter dem Sofa verkroch. Jetzt drehte Jupp sich zu Lisette um und trat ihr mit aller Kraft, die er aufbringen konnte in den Unterleib. Dabei verlor er einen Pantoffel und fiel der Länge nach hinten über. Liesette schrie auf und krümmte sich. Eine Hand im Schritt und mit der anderen Halt suchend, flüchtete sie mit einem durchdringenden Klagelaut in die Küche.
Während wir wie erstarrt heruntergafften stand Jupp auf und schleuderte den zweiten Puschen auch noch fort. Bedächtig, wie es Betrunkenen so zu eigen ist, begab er sich zum Sofa, setzte sich und trank weiter. Er würdigte uns keines Blickes. Wir gingen hoch und hörten Lisette unten in der Küche wimmern.
Wir waren jetzt alle Feiglinge, das hatte Jupp uns klargemacht. Beschämt saßen wir noch eine Weile oben bei Rolf, bevor wir nach Hause gingen, jeder für sich. Als ich ein paar Schritte vom Haus entfernt war, hörte ich von drinnen Türen knallen.
Die Pforten des Paradieses hatten sich für immer geschlossen.