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Wiena und die wilden Tanten
Meine Mutter schaute in ihre Zeitung und schüttelte den Kopf. „Erdgas und Benzin werden immer teurer. Und ich hab noch nicht mal ein Auto.“ Sie kicherte und zog mich neben sich, so dass ich mit in die Zeitung schauen konnte.
„Aber die Rostlaube hast du doch“, sagte ich.
„Die muss zum TÜV. Das ist noch schlimmer als kein Auto.“ Sie seufzte und legte die Zeitung weg. „Man muss schon zur Heldin werden, um das zu kriegen, was man braucht.“ Sie rieb sich über die Augen, und hielt mich für einen Moment ganz fest, da wusste ich, sie war traurig, wieder einmal, und dachte bestimmt an ihren Mann, meinen Papa, den ich nie kennengelernt hatte, zumindest nicht als denkendes Kind. Neuer Mann, notierte ich innerlich. Vielleicht hat der ja sogar ein Auto. „Auto“ sagte Tante Elfie. „Mann“, sagte Tante Elena. „Kannst du“, sagte Elfie, „beides vergessen“, sagte Elena. „Aber Heldin …“, sagten sie wie aus einem Mund. Dann schwiegen sie vielsagend.
Jeder Mensch hat eine Tante, ich habe sogar zwei. Das Gute an ihnen ist, sie fragen nie nach meinen Noten oder so nervigem Zeug, sondern sie sagen mir, was wichtig ist, wenn ich was Wichtiges tun will, und ich will eigentlich immer was Wichtiges tun. Das Blöde an den Tanten ist, sie mischen sich in alles ein. Das Allerbeste aber ist, sie sind nur in meinem Kopf. Und manchmal ist das auch das Allerblödeste.
Ein paar Tage später grillten die Nachbarn und luden Mama und mich ein. Alle möglichen Väter scharten sich um den Grill und waren fachmännisch und für ein Kind nicht ansprechbar. Also flüchtete ich mich in meine persönliche Kuhle zwischen Hauswand und Magnolienbaum, ruckelte hin und her, bis ich es bequem hatte und durch eine Lücke zwischen den Zweigen linsen konnte, aus der heraus man alles sah, ohne selbst gesehen zu werden. Ich las „Wonderwoman: Die Lügen“ und aß Rosinenkuchen, den ich vom Buffet geklaut hatte. „Lasso der Wahrheit“, hatten Elena und Elfie gejubelt, als ich den dicken Comicband im Regal der Nachbarn entdeckt hatte. Und ganz schnell auf das schicke Kostüm und Wonderwomans Busen gedeutet, als ich zögerte, das Buch mitzunehmen. Gerade las ich, wie Wonderwoman ihren ehemaligen Liebhaber aus der Gewalt eines bösen Warlords befreite, als vor dem Haus gegenüber ein Umzugswagen hielt. Drei Männer stiegen aus, einer in einem Blaumann, dann folgte ein kleiner Mann, zuletzt ein großer, schlanker mit wild abstehenden Haaren. Lustig sah das aus. Er schloss das Gartentor auf, die Haustür, dann wies er den anderen Männern mit einer einladenden Verbeugung den Weg ins Haus. Der neue Mieter, auf den die halbe Straße gespannt war.
„Mann und Auto“, schrien Elena und Elfi laut, es fühlte sich an, als würden die Wörter wie Flummibälle im Inneren meines Kopfes hin und her knallen.
„Immer mit der Ruhe“, maulte ich, „das klang neulich noch ganz anders.“
„Neulich ist wurscht“, rief Elena, „Mach, schon, bevor er wieder weg ist.“
Und Elfie schrie: „Jetzt hol schon deine Mutter.“
Während die Männer weiter Kartons zum Haus trugen, krabbelte ich aus meinem Versteck und rannte zu den Erwachsenen.
„Oh, eine echte Sahneschnitte“, sagte die Nachbarin, als sie den neuen Mieter sah, was ihr einen bösen Blick von ihrem Mann Anton einbrachte und uns anderen jede Menge verbrannter Würstchen, weil Anton unbedingt prüfen musste, ob der neue Nachbar wirklich so gut aussah. Auch meine Mutter nickte anerkennend. Doch als ich sie gegen den Gartenzaun schubste, damit sie den neuen Nachbarn retten und dadurch Heldin werden und ihn kennen lernen konnte, meckerte sie. „Was soll das Wiena? Mein neues Kleid.“
„Tut mir Leid“, sagte ich, „das wollte ich nicht“, und starrte reumütig auf den dunklen Fleck. Ich schwor mir, Elena und Elfi für einen Tag im Kopfverlies einzusperren für den miesen Schubstipp.
Während die anderen ihre angebrannten Würstchen aßen, meine Mutter sich ihr Schienbein rieb und mich mit unmütterlichen Blicken bedachte, beobachtete ich weiter, was auf dem Nachbargrundstück vor sich ging. Als der Neue sich von seinen Freunden verabschiedete, sagte der in dem Blaumann: „Jetzt geht’s wieder aufwärts mit den Frauen.“
Der neue Nachbar schnaubte. „Bin froh, dass ich Bea los bin.“
„Ja, die war oberfies, aber sonst?"
„Nix da, Schnauze voll“, sagte der neue Nachbar.
„Bis zur nächsten“, lachte der Dritte.
„Nee, Frauen und ich, das passt nicht zusammen. Ja, wenn es mal eine gäbe, die nicht nur an sich denkt.“
„Okay, Wiena“, sagte Elena zu mir, „du musst übernehmen.“
„I agree“, sagte Elfie.
Gestern sah ich, wie der neue Nachbar einparkte. Ich rannte schnell raus, stellte mich neben sein Auto, sprang nach vorne und hinten, immer so, dass ich hilfreich sein konnte und wedelte dabei kräftig mit den Armen. Vielleicht versperrte ich dabei ein bisschen die Sicht. Jedenfalls stieß der Nachbar mit Wucht an die Stoßstange des hinteren Autos. Aufgeregt stieg er aus und kratzte sich am Kopf. Ich zupfte an seinem Jackett und sagte beruhigend: „Das macht nichts, das ist nur das Auto von meiner Mutter. Wir nennen sie Bea, die Rostlaube.“
Er blinzelte, fuhr sich durch das Haar, dass es noch mehr abstand, schließlich lachte er. Ein heiseres, prustendes Lachen, das Kränze winziger Falten um seine Augen legte. Dann fragte er, wo ich wohnte, und klingelte.
„Ich habe leider Ihre Bea angerempelt.“
„Wen bitte?“
Es dauerte ein bisschen, bis die beiden sich gegenseitig erklärt hatten, dass Mamas schrottiges Auto seit Neustem wie seine verflossene Verlobte hieß, und warum er es angerempelt hatte.
„Wiena liebt es, beim Einparken zu helfen“, sagte Mama und sah mich unfreundlich an. Der Nachbar hingegen verstrubbelte mir das Haar. Draußen begutachteten beide den Schaden.
Ich bekam Hausarrest wegen übertriebener Hilfsbereitschaft, aber den neuen Nachbarn brachte ich trotzdem noch nach Hause.
Auf dem Weg erfuhr ich nicht nur seinen Namen, Georg, sondern erklärte ihm auch die neuesten Trends bei der Partnerwahl. „Nach einer Trennung soll man sich schnell wieder binden.“
„Na so was“, sagte er. „Wie alt bist du denn, dass du so was weißt?“
„Elf. Ich meine, werde ich. In ein paar Tagen.“ Dabei wurde ich in einem halben Jahr neun. „Ich sehe jung aus für mein Alter. Irgendwann zahlt sich das aus, sagt meine Mutter, und die muss es wissen. Wenn du willst, kannst du sie heiraten, sie hat keinen Mann mehr.“
Im Inneren meines Kopfes quietschte es. „Wie plump“, sagte Elena. Dann quietschte sie noch einmal, weil Elfie ihr mit spitzem Knöcheln auf den Oberarm geboxt hatte. „Meine Mutter denkt ganz, ganz viel an andere“, sagte ich und dachte leider und daran, dass sie bestimmt noch nach meinen Hausaufgaben fragen würde. Und schon wieder ging das Kopfgeboxe los, nur diesmal umgekehrt. Schnell sagte ich: “Ich werde jedenfalls auch früh heiraten.“
„Dazu hast du noch jede Menge Zeit.“
„Nein, hab ich nicht. Meine Mama sagt immer, meine Seele ist ziemlich versaut für mein Alter. Mich interessiert ja auch nicht das Heiraten, sondern dass jemand den Müll runterbringt. Im Moment muss ich das machen. Die Mama sagt auch, aufs Heiraten kommt es nicht an, sondern auf die Zeit danach.“
„Deine Mama ist eine weise Frau.“ Und wieder lachte er, seine Augen funkelten dabei wie schwarze Schmucksteine. Er verwuschelte meinen Pferdeschwanz und zog ihn nach vorne, dass er wie ein Riesenpony in meine Stirne hing. Das fühlte sich nett an, aber leider nicht so, als würde man jemanden mit solch einem Pony ernst nehmen.
Meine Haare habe ich trotzdem nicht gewaschen. Ungefähr zwei Wochen lang nicht, bis meine Mutter einen Tobsuchtsanfall bekam und was von pubertierendem Schweinsferkel brüllte.
Die Sache stagnierte. Elena und Elfie langweilten sich und deuteten mindestens zehnmal täglich auf das Nachbarhaus. Als ihre Finger sich immer spitzer in die Wände meines Kopfes bohrten, bedrängte ich meine Mutter, mir ein Wonderwomankostüm zu kaufen. Endlich hatte ich sie so weit. Eine blaue Hose mit einem sehr weiten, roten Oberteil. Und einem dunkelblauen Tüllrock voller weißer Sterne. Um die Arme trug ich silberne Armbänder, mit denen ich Kugeln abfangen konnte. Ich sah sehr gefährlich aus. Aber als ich damit in die Schule gehen wollte, streikte meine Mutter. Sie fand, ich müsste erst mal hineinwachsen. Das dauerte mir zu lang, also klaute ich Mama einen BH. Elfie wählte den schönsten aus. Dunkelrote Spitzen mit ganz großen spitzen Körbchen. Elena popelte in der Füllung von Mamas Lieblingssofakissen, so einem kuscheligen Flokatidings, fand darin wunderbare Schaumgummikügelchen, die ich in Taschentücher knotete und in den BH stopfte. Darüber kam der Anzug, perfekt, und dann lauerte ich vor der Tür, bis Georg mit seinem Auto kam. Jetzt konnte er endlich sehen, dass ich aus einer Heldinnenfamilie kam. Ich hielt ihm die Tür auf.
„Ist denn schon Fasching?“
„Was für ein Deppchef.“ Das war Elena.
Und Elfie brummelte: „Blödheinz.“
Zum Glück hörte Georg das alles nicht, aber die beiden hatten Recht. Einem so netten Mann hätte ich eine klügere Frage zugetraut. Aber das war nicht das schlimmste.
„Wenn du Superman sein willst, beschützt du mich dann auch?“, fragte er.
Elfie jubelte, Elena brummelte: „So ein fauler Sack.“
Ich aber ärgerte mich über etwas anderes. „Superman? Bist du blind? Ich bin Wonderwoman.“ Ich rückte an dem BH meiner Mutter, doch irgendwie musste der verrutscht sein, denn eines der Körbchen beulte nun in Höhe meiner Taille einen Spitzbauch aus, das andere klebte eingedellt daneben, die knotige Taschentuchwurst baumelte im Hosenbein und auf der Straße kollerten Sofakissenkügelchen.
Was meine Mutter sagte, als sie das aufgeschnittene Sofakissen fand, haben nur Elfie und Elena gehört. Wahrscheinlich haben sie daher ihre neuen Schimpfwörter.
Na gut. Beschützt werden wollte er. Dann musste ich nur noch klarmachen, dass Mama Wonderwomans Mutter und also eine noch größere Heldin war. Elfie brauchte nicht lange für den neuen Plan. Nur Elena sagte im Minutentakt: „Nie klappt das. Nie.“ Einen Tag lang stritten sich die Tanten, bis ich mir die Ohren zuhielt, und beiden Kopfverlies androhte. Da hörten sie endlich auf. Nur manchmal purzelte ein „Nie, sage ich“ gegen meine Stirn. Auf Elfies Geheiß lieh ich mir schließlich Bruno aus, den Hund der Nachbarn von gegenüber. Bruno war eigentlich eine Hundedame und mochte weder Männer noch Gurken, seit Elena und Elfie mich mal überredet hatten, ihm eine in den Fressnapf zu legen. Jedenfalls war die Bruno wirklich giftig, Noch nicht mal ihr eigenes Herrchen fand Anklang bei ihr, den hatte sie schon zweimal gebissen. Ich würde Bruno also zu Georg führen, der gerade auf dem Heimweg vom Einkaufen war, die Gurke vor Brunos Schnauze halten, und wenn Bruno sich auf Georg stürzte, würde ich mich zwischen beide werfen und ihm das Leben retten. Dann musste er meine Mutter heiraten.
Auf dem Weg hob Bruno immerzu das Bein. An jedem einzelnen Pfahl. „Benimm dich Bruno, du bist eine Frau“, sagte ich, doch vielleicht hatte sie ihr Hundename kirre gemacht, jedenfalls hob sie das Bein nach dieser Ansage noch häufiger und höher.
Als Bruno sich endlich Richtung Rewe durchgepinkelt hatte und Georg in Sicht kam, zückte ich die Gurke. Aber Bruno würdigte das Gemüse keines Blickes und zockelte weiter. Ich hinterher. „Bruno, fass“, rief ich und wedelte mit der Gurke. So passierten wir Georg. Im Vorbeitraben sah ich, wie er stehen blieb und sich am Kopf kratzte. „Tu was!“, schrie Elfi. „Deine Idee“, keifte Elena. Und weil die beiden schon wieder mit ihrem Geschiebe und Geboxe begannen, und ich die Nase davon voll hatte, hieb ich Bruno mit der Gurke kräftig auf das Hinterteil. Schlagartig stoppte sie, drehte sich um, stierte auf die Gurke, auf mein blaues Wonderwomankostüm. Der schwingende Tüllrock beamte sie zurück in den Brunonormalmodus. Sie fletschte die Zähne und schoss los. Ich sprang zurück und raste davon, hinter mir die geifernde Bruno, die sich enthusiastisch in den blaubesternten Wonderwomanrock verbiss. Gurke, Kind in Tüllrock, Hund, vorbei an Georg, der uns mit entgeisterter Miene nachstarrte. „Hab ich es nicht gleich gesagt“, sagte Elena. Ich brauchte drei Tage, um mich zu erholen.
Hunde waren unzuverlässig. Kostüme auch. Was Todsicheres musste her. Die Eingebung kam den Tanten und mir, als ich die Mama und die Nachbarin belauschte.
„Jeden dritten Tag kommt der Anton betrunken nach Hause.“ Das war die Nachbarin. Sie sprach von ihrem Mann Anton, der hin und wieder Zuflucht in einer Kneipe namens „Bierkrug“ suchte. „Bierwanne müsste das Ding heißen. So viel, wie er säuft.“
„Bierwanne klingt gut.“
„Und die Bedienung, kennst du die Bedienung? Die hat sich bestimmt den Busen pimpen lassen.“
„Ich finde die Kneipe eigentlich ganz süß“, sagte die Mama.
„Süß? Bieder ist die“, sagte die Nachbarin, „mafiös bieder“.
Mafiös? Elfie googelte, wie das mit der Mafia und den Gefälligkeiten funktionierte, Elena half. Leider stritten sie gleich wieder, wer süßer war, Sonny Corleone oder Michael. Ein Spektakel, ganz schlecht war mir von dem Geschubse, endlich sagten sie: „Auf gehts Wiena, jetzt kämpfen wir verdeckt.“
Die nächsten Tage bereitete ich mich auf meinen Einsatz vor. An einem Samstag Abend war es soweit, meine Mutter dachte, ich wäre in meinem Zimmer, Fernsehen gucken. Ich schlich zum „Bierkrug“. Über dem Eingangstor hing ein buntes Schild. Ein Krug war darauf gemalt, auf dem obersten Schaumzipfel tanzte eine kleine Maus.
Ein Stimmengewirr empfing mich, die großen Holztische waren gut besetzt. Mitten im Raum stand ein alter Ofen aus Metall.
Die Leute sahen ziemlich normal aus. Ich hätte Schlipse erwartet und Sonnenbrillen, aber die Männer trugen Jeans und Pullis und Kapuzenshirts. Sie aßen Schnitzel und hatten Bierkrüge vor sich stehen.
„Tarnung“, flüsterte Elfie. „Typisch Mafia“, bestätigte Elena.
„Wo soll ich hin?“, fragte ich. Elena zog nach links, Elfie nach rechts.
„Ich rieche die Poesie der Angst“, sagte sie.
„Das ist Rotkraut", sagte Elena.
Bevor sich die beiden wieder stritten, lief ich zu einem Tisch in der Mitte des Raums. Zwei einzelne Männer saßen dort, einer blond und dickbäuchig, der andere hatte graumeliertes Haar und einen schmalen Schnurrbart. Er trug ein weißes Hemd. Was mich überzeugte, war die Orange, die auf sein Handgelenk tätowiert war.
Dass sie Sauerbraten aßen, machte mich zwar wieder stutzig, ich hatte mit Spaghetti gerechnet, doch vielleicht gehörte das auch zur Tarnung. Gerade, als ich zu ihnen gehen wollte, beugte sich die Kellnerin zu mir herunter. „Suchst du jemanden?“
Ich guckte ihr auf den Pullover und sagte: „Ich habe gehört, Sie haben sich den Busen aufgepumpt. Wo kann man sich das machen lassen?“
Die Kellnerin schüttelte den Kopf und schob mich zur Seite.
Entschlossen trat ich an den Tisch der beiden Männer.
„Pate, ich brauche Ihre Hilfe.“
Der Graumelierte nahm die Gabel aus dem Mund, ein Fleischstückchen rutschte auf den Teller. Soße bespritzte das weiße Hemd.
„Was?“
„Sie müssen jetzt fragen, was ich will. Und dann sagen Sie, Sie würden dem Kerl ein Angebot machen, das er nicht ausschlagen kann.“
„Meine Angebote sind immer so, dass man sie nicht ausschlagen kann.“ Der Graumelierte lachte vorsichtig, nahm einen Riesenschluck Bier und zwinkerte seinem Tischnachbarn zu, der mich wie ein seltsames Insekt beäugte.
„Waschbecken, Badezimmerarmaturen, alles Topseller, junge Frau.“ Wieder lachte der Graumelierte und spießte das verlorene Fleischstückchen zurück auf die Gabel.
„Was kosten Sie?“
„Das kommt darauf an.“
Der andere Mann beugte sich über den Tisch zu mir herüber. Er sah sehr müde aus. „Was willst du denn?“
„Können Sie jemandem Angst machen?“
„Na, das ist mal ein Auftrag“, sagte der Graumelierte. „Eigentlich muss ich aufpassen, dass mir keiner Angst macht. Die hier zum Beispiel.“ Er zog seinen Ärmel hoch und zeigte seinem Kumpel ein zweites Tattoo, auf dem Babsi stand. Sie lachten wiehernd und klatschten sich ab.
Der müde Mann sah wieder zu mir hin. „Die hat bestimmt Ärger mit jemand, die Kleine." Er sah mitfühlend aus, rief nach der Bedienung und bestellte sich einen Schnaps.
„Ja“, sagte ich, „so viel Ärger.“ Ich trat neben ihn und schaute ihm in die Augen. „Bitte kommen Sie heute Nacht. Bitte. Mein Leben hängt davon ab.“ Ich legte einen Zettel auf den Tisch mit der Adresse und dem Namen von Georg. „Zu diesem Mann.“
„Belästigt der dich?“
Einen Moment musste ich an die Mama denken, die die Sache bestimmt umgekehrt sah, und zögerte, dann hatte ich mich wieder im Griff. „Ich will nur, dass Sie den hauen.“
„Und wieso willst du das?“
„Das ist eine lange Geschichte,“ sagte ich und legte mein Sparschwein auf den Tisch.
„Lass mal stecken“, sagte der Graumelierte.
Der andere Mann las die Adresse laut vor: „Savignystraße. Unser Heimweg. Und da wohnst du? Und deine Mutter?“
„Ja. Wann läuft jetzt der Deal? Es muss noch heute Abend sein.“
Die Männer lachten, griffen zu ihren Bierkrügen und prosteten sich zu, dann riefen sie nach der Bedienung. Das Sparschwein gaben sie mir zurück.
Zwei Stunden bestimmt lauerte ich in meiner Kuhle auf die Mafia. Elfie und Elena stritten schon wieder. Ich hatte mein Wonderwomankostüm angezogen, einen Stock bereit gelegt. Sogar das Lasso des Vergessens war dabei. Alle fünf Minuten blickte ich auf meine Kinderarmbanduhr mit dem Hasen, dessen Schnurrbarthaare die Stunden und Minuten anzeigten. Aber ich hätte auch so gemerkt, dass es spät war, denn mir fielen die Augen zu. Endlich kam Georg nach Hause. Er pfiff eine schiefe Melodie und brauchte sehr lang, um den Schlüssel ins Schlüsselloch zu bugsieren. Fast wäre ich ihm zu Hilfe geeilt, aber gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass Hilfsbereitschaft nicht zu meinen besten Fähigkeiten gehörte. Drin ging das Licht an, die Vorhänge wurden zugezogen.
Dann hörte ich Schritte. Zwei Männer gingen das Trottoir entlang. Endlich.
„Guck mal, das muss das Haus, sein, von dem die Kleine geredet hat.“ Das war der Blonde, er sprach ziemlich undeutlich.
„Komm weiter, das Kind hat nur Unsinn erzählt.“
„Aber wenn der die Kleine belästigt?“
„Bodo lass, du bist besoffen. Wer weiß, was die Kleine wollte.“
Der Graumelierte packte den anderen am Arm, aber der Blonde streifte ihn ab und drückte auf Georgs Klingel.
„Ich schau mir den Kerl an.“ Er öffnete das Gartentor und schwankte in den Vorgarten. Der Vorhang ging wieder auf.
Ich schlich aus meiner Kuhle, in der einen Hand das Lasso, in der anderen den Stock.
„Komm, Bodo, halt dich da raus.“
Bodo hämmerte mit Schwung gegen die Haustür. „So einer wie Sie hat bei uns nichts zu suchen!“ Seine Stimme schallte durch die Nacht.
„Hör auf, Bodo.“
„Solche Typen kenne ich, schickes Auto und den Frauen schöne Augen machen.“ Er fiel gegen Georgs Haustür. Der andere eilte ihm zu Hilfe. „Lass jetzt, der Mann kann nichts dafür, dass deine Frau abgehauen ist.“
„Das ist mir scheißegal. Und dann auch noch Kindern Angst machen.“ Bodo bückte sich, griff eine Handvoll Kies und schleuderte die Steinchen gegen das Fenster. Es klirrte. Für einen Moment stand ich wie erstarrt, die beiden Männer auch. Die Tür öffnete sich, im Hauseingang stand Georg. Im Bademantel, das Handy am Ohr. Ich verstand die Welt nicht mehr, wieso brauchte dieser Mann eine Wonderwoman, der war doch selbst total mutig. Nie hätte ich mich getraut, im Bademantel der Mafia gegenüberzutreten. Und wo seid ihr jetzt, ihr obergescheiten Tanten, dachte ich, einmal, hätte ich euch gebraucht. Aber Elena und Elfie lungerten hilflos in meinem Kopf herum, die Beine über Kreuz und breiteten die Arme aus.
Mit Schmackes haute ich den Stock auf Bodos Kopf und vorsichtshalber auch auf den seines Freundes. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass meine Mutter den Radau hörte. So standen wir da, Georg im Bademantel, zwei abgeschossene Mafiatypen, und ich, die die beiden gerade in das Seil des Vergessens wickelte. Richtig überzeugen konnte ich niemanden von meinem Wonderwomaneinsatz. Noch nicht einmal die Polizisten, die mit Blaulicht um die Ecke kamen.
Alles wurde ein ganz furchtbares Kuddelmuddel, als die Kerle vor der Polizei sich gegenseitig und dann Georg und mich der schlimmsten Taten beschuldigten. Am ehesten freuten sich noch Georg und meine Mutter über die Situation, die schenkten sich nämlich verständnisvolle, warmherzige Blicke. Die Blicke allerdings, die meine Mutter mir zuwarf, waren unmütterlich hasserfüllt. Vielleicht hätte ich nicht gerade ihren neuen Brokatminirock über das Wonderwomankostüm anziehen sollen, als ich in der Kuhle gelauert hatte.
Viele Tage lang erklärte ich den Polizisten, warum ich die Mafia engagieren musste. Komisch, dass die Polizistin, mit der ich am liebsten sprach, immer anfing zu kichern, wenn sie mich sah.
Elena und Elfie bekamen Kopfarrest von mir, für mindestens drei Wochen, aber sie tuscheln schon wieder herum. Ich fürchte, sie planen Neues. Elfie jedenfalls will bei der Mafia bleiben, Elena dagegen hat sich in die Uniform der jungen Polizistin verguckt.