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Wiedersehen
Hundemüde ließ ich die Post auf den Tisch und mich selbst auf die Couch fallen. Ich legte einen Arm über die Augen und lehnte mich seufzend zurück.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich einen handschriftlich adressierten Brief in dem Stapel. Neugierig griff ich danach. Mir stockte der Atem als ich las, wer ihn geschrieben hatte. Ungeduldig riss ich den Umschlag auf und las hektisch den Inhalt. Dann schaute ich auf die Wanduhr mir gegenüber. 18.30 Uhr. Der 23. Dezember.
Ich schnappte mir meinen Mantel und meine Tasche und stürzte zur Tür hinaus, immer noch den Brief in der Hand haltend. Ich hatte noch dreißig Minuten und der Weg war nicht weit, trotzdem beeilte ich mich, um mein Ziel zu erreichen. Mein Herz sprang vor Freude und Aufregung. Endlich würde sich mein Wunsch erfüllen. Natürlich würde es einige Zeit dauern, aber ich war mir sicher, dass ich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hatte. Endlich würde alles gut werden. Ich war glücklich. So unglaublich glücklich.
Schneeflocken wehten mir ins Gesicht. Ich setzte die Kapuze des Mantels auf. Wie schön. Der erste Schnee des Jahres. Kein Wunder, dass es schon den ganzen Tag so kalt gewesen war. Ich lächelte vergnügt.
Ich blieb an der Straßenecke stehen und wartete darauf, dass die Ampel auf grün umsprang. Ich war ganz hibbelig. Wie ein kleines Kind. Doch heute gestattete ich es mir.
Ganz in meiner nähe hörte ich die ersten Töne des Weihnachtsliedes „Guten Abend, schön Abend“. Fröhlich summte ich die Melodie mit. Die Ampel sprang auf Grün. Ich trat auf die Straße. Heute würde der glücklichste Tag meines Lebens werden, da war ich mir sicher.
Das Fell an meiner Kapuze und die Melodie in meinem Kopf verhinderten, dass ich das rasende Auto bemerkte. Das hohe Geräusch quietschender Bremsen und Schreie machten mich erst auf die nahende Gefahr aufmerksam. Ich drehte den Kopf, doch es war zu spät. Der Lastwagen erwischte mich frontal. Ich wurde in die Luft katapultiert, krachte gegen die Fahrerkabine, landete noch einmal auf dem Anhänger und dann hart auf dem Asphalt.
Zuerst spürte ich die Schmerzen noch, doch dann schienen sie immer schwächer zu werden. In meinem Kopf drehte sich alles und das Denken fiel mir schwer. Nur mit einiger Mühe schaffte ich es, den Kopf in Richtung des Briefes in meiner Hand zu drehen. Er war voller Dreck und Blut und zusammengeknüllt, doch ich hielt ihn fest wie einen Rettungsring. Tränen liefen meine Wangen hinab, doch ich bemerkte sie kaum. Ich musste aufstehen. Jetzt. Ich hatte nicht die Zeit, hier liegen zu bleiben. Ich musste da hin. Er wartete auf mich.
Mein Blick wurde glasig, alles um mich herum verschwamm. Ich richtete meine fast blinden Augen zum Himmel und bemerkte den Vollmond. Wie schön. Als würde er auf mich herablächeln. Ich hatte das Gefühl, dass er mir neue Kraft gab.
Eine Gestalt schob sich vor den Mond und nahm mir die angenehmen Mondstrahlen. Etwas warmes lief mir aus dem Mundwinkel und mein Herzschlag verlangsamte sich.
Ich schloss die Augen und stellte mir sein lächelndes Gesicht zum letzten Mal vor. Mein Herzschlag verstummte. Ich starb.
Später fand man heraus, dass der Fahrer des Lastwagens die rote Ampel und mich nicht bemerkt hatte, weil er das Eis auf der Windschutzscheibe seiner Kabine nicht sorgfältig entfernt und dazu noch während der Fahrt mit seinem Handy am Ohr telefoniert hatte. Ich hatte keine Chance gehabt. Uns so kam es, dass der eigentlich glücklichste Tag meines Lebens, gleichzeitig auch mein letzter wurde.
So bleibt mir nun nichts anderes mehr übrig, als über jenen Menschen zu wachen, der mir mein Herz stahl, der mich verletzt hatte und von mir verletzt worden war. Vielleicht waren wir einfach nicht füreinander bestimmt gewesen. Vielleicht war dies die Strafe für jeden Fehler, den ich während meines Lebens begangen hatte. Oder es war einfach nur Ironie des Schicksals.
So oder so, ich kann diese Welt noch nicht verlassen. Ich werde bis zu seinem Tod bei ihm sein, auch wenn er mich nicht mehr sehen, mich nicht mehr hören und mich nicht mehr sehen kann. Ich werde auf ihn warten, bis auch seine Zeit gekommen ist.
ich weiß, dass wir unsere Vergangenheit nicht mehr ändern können, genauso wenig wie die Ereignisse, die zwischen uns vorgefallen sind. Doch ich weiß auch, dass wir unsere Zukunft gemeinsam ändern können um uns ein Leben zusammen aufbauen zu können. Es wird mit Sicherheit einige Zeit dauern, doch ich bin mir sicher, dass wir alle Schwierigkeiten, die vor uns liegen, meistern können, wenn wir es nur versuchen. Daher bitte ich dich, höre mich an, dann werde ich auch dir zuhören.
Treffe mich um 19.00 heute in dem Park, in dem du damals in den Brunnen gefallen bist. Doch auch wenn du nicht kommst, ich werde warten, solange bis du zu mir kommst. Für immer. Denn ich habe dich schon immer geliebt, seitdem du mir die erste Ohrfeige verpasst hast, erinnerst du dich?
Bitte, komm.
REN