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Wiedersehen
Kalte Winterluft, Dunkelheit, die sie langsam umhüllte, als sie aus dem Stimmengewirr der Partygäste in die kalte Nacht hinter dem Haus trat. Julia fröstelte. Aber immerhin war es still. Endlich ein bisschen Stille. Die Art Party, von der sie geflüchtet war, schien ein Mädchen wie sie zu zerrießen, wie ein hungriger Löwe seine Beute. Partys von Menschen, die glaubten, sie müssten zu ihrem 18. Geburtstag die Feier ihres Lebens schmeißen, nur weil sie „volljährig“ waren, obwohl sie sich die meiste Zeit über wie Zwölfjährige verhielten. Das schien so eine Art ungeschriebenes Gesetz zu sein.
Sie wusste nicht, wie spät es war, vielleicht würden schon bald die ersten Sonnenstrahlen ein bisschen Wärme über die Baumkronen zu ihr herunter schicken, vielleicht würde das aber auch noch einige Stunden dauern.
Drinnen war es laut. Drinnen roch es nach billigen Cocktails und Mikrowellenpopcorn. Drinnen wurde man verrückt von der schlechten Musik die sich mit dem Stimmengewirr vermischte. Erik hatte die halbe Stadt eingeladen und jetzt tummelten sie sich alle in dem viel zu kleinen Haus.
Moritz war schwindelig und sein Magen rumorte. Er trat durch die Hintertür ins Freie. Es war kalt. Erschreckend kalt sogar. Er zog den Reißverschluss seiner Weste bis zum Kinn zu.
Die Stille war so schön, nach all den lauten Stimmen, die noch immer in seinen Ohren dröhnten. Er trat auf das Gras und erstarte.
Da stand sie in einem nachtblauen Kleid mitten auf dem Rasen. Sein Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen und er fragte sich, ob er einfach schnell wieder im Haus verschwinden sollte. Er hatte so gehofft, sie nicht hier anzutreffen. Andererseits freute er sich, sie zu sehen und er wäre gerne zu ihr hin gegangen und hätte ein paar Sätze mit ihr gewechselt, nur um zu wissen, wie es ihr ging und was sie in der letzten Zeit so gemacht hatte. Aber da war diese dumme Sache vor zwei Jahren gewesen, die ihn daran hinderte, ihr unter die Augen treten zu können, ohne sich zu Tode zu schämen.
Wahrscheinlich war es das Beste, einfach wieder zu gehen und zu hoffen, dass sie ihn im Getümmel der Menschen nicht sehen würde. Es war schon verrückt, wie eilig er es plötzlich hatte, wieder in der Menschenmenge unterzutauchen, wieder in das Haus zurückzugehen, dass einen unsichtbar machte.
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging auf die Hintertür zu, die ihn von ihr trennen würde.
„Moritz?“
Verdammt! Sie hatte ihn erkannt. Er zwang sich zu einem Lächeln und drehte sich langsam um. Er durfte sich jetzt nichts anmerken lassen. Am besten tat er, als habe diese Geschichte vor zwei Jahren nie stattgefunden.
Er war es tatsächlich. Seine Haare waren länger, aber sein Lächeln war immer noch das selbe, außer, dass es jetzt noch viel mehr wie aufgemalt wirkte.
Er freute sich nicht sie zu sehen, aber sie konnte sich schließlich auch nicht wirklich über das Wiedersehen freuen. Wie sollte sie auch, nachdem er ihr damals erklärt hatte, sie seien zu „verschieden“ und es wäre wohl besser, wenn sie getrennt Wege gehen würden, nur um kurz darauf mit dieser Marie zusammen zu sein? Marie, die sie Gerüchten zufolge für eine „spießige Langweilerin“ hielt. Marie, die schon vorher viel zu oft in Moritz Nähe aufgetaucht war.
„Hallo Moritz“, sagte sie, nachdem sie vergeblich darauf gewartet hatte, dass er ein Gespräch anfing.
„Hey“, murmelte er in den Kragen seiner Weste hinein.
„Und wie geht’s dir so?“
„Ganz gut und dir?“
„Mir auch.“
Schweigen.
Ihr musste doch kalt sein in dem Kleid. Es war ein schönes Kleid, sie sah so erwachsen darin aus, aber wahrscheinlich lag das nicht nur am Kleid. Er bemerkte ihre schmalen, zitternden Schultern. Ob er ihr seine Weste anbieten sollte? Er sah auf seine Füße, weil es ihr bestimmt nicht gefiel, wenn er sie so anstarrte.
Die Stille zwischen ihnen schien schwer wie Blei in der Nachtluft zu hängen. Nie zuvor hatte er Stille als so laut und unerträglich empfunden.
Ob sie in letzter Zeit mal an ihn gedacht hatte?
Er hatte oft an sie gedacht und er hatte sie vermisst, nachdem er eingesehen hatte, dass die Sache mit Marie ein riesiger Fehler gewesen war. Ein paar Mal hätte er sie fast angerufen, aber dann hatte er es doch nicht getan. Sie wäre verrückt gewesen, wenn sie ihn hätte wiedersehen wollen.
Ihm wurde warm. Bestimmt wurde er jetzt rot.
„Was hast du in letzter Zeit so gemacht?“, versuchte sie erneut, ein Gespräch anzufangen.
Er sah auf. Seine Augen waren noch genauso eisblau wie vor zwei Jahren. Sie sahen so tief aus, so unergründlich. Sie wand den Blick wieder ab. Sie sollte ihn nicht so anstarren.
„Nichts besonderes eigentlich. Hab angefangen zu studieren“, antwortete er.
„Ach wirklich? Was studierst du denn?“
„Architektur.“
Sie versuchte, beeindruckt auszusehen, obwohl sie sich so unwohl fühlte, dass sie ihn am liebsten allein draußen stehen gelassen hätte und einfach reingegangen wäre, wie er sie damals auch einfach allein gelassen hatte. Aber sie wollte die Situation nicht unnötig dramatisch machen. Mit Dramatik musste man vorsichtig sein.
„Und wie ist es so? Macht es dir Spaß?“, fragte sie.
„Ja schon, ist halt ziemlich anstrengend.“
Sie nickte. „Ja klar, kann ich mir vorstellen.“
Fröstelnd schlang sie die Arme um den Körper. Sie würde sich eine Erkältung holen, aber sie wollte jetzt nicht nach drinnen gehen. Drinnen würde sie bestimmt nicht mehr mit ihm reden können und sie wollte mit ihm reden, auch wenn er sie damals so schlecht behandelt hatte.
Plötzlich spürte sie warmen Stoff auf der Haut. Er hatte ihr seine Weste um die Schultern gelegt. „Danke“, sagte sie und blickte wieder zu ihm auf.
„Wird dir so nicht zu kalt?“, fragte sie nach einer kurzen Pause.
„Ne, das ist schon in Ordnung“, antwortete er.
Er hatte angefangen, angestrengt nachzudenken. Er wollte nicht, dass es wieder zwei Jahre dauerte, bis er sie wiedersah. Vielleicht würde er sie ja auch gar nicht mehr wiedersehen und heute war der Tag, an dem sie ein letztes Mal auftauchte, nur damit er sich selbst verfluchen konnte, weil er so ein Idiot gewesen war.
Aber er hatte sich verändert und er bereute sein dummes Verhalten von damals so sehr, dass es wehtat, weil es ihm Stiche ins Herz zu versetzen schien.
„Julia, ich glaube, ich muss dir jetzt mal etwas sagen“, begann er. Im ersten Moment wäre er am Liebsten weggelaufen, aber dann zwang er sich doch, es endlich klarzustellen.
„Es tut mir leid, was vor zwei Jahren passiert ist. Ich weiß jetzt, wie dumm es von mir war und ich kann mir vorstellen, wie schlimm es für dich gewesen sein muss und dass du mich jetzt bestimmt gerne anschreien würdest. Das hätte ich wahrscheinlich auch nicht anders verdient. Aber trotzdem wirkst du immer noch so ruhig und trotzdem bist du immer noch so nett zu mir. Keine Ahnung, wie du das schaffst.
Was ich dich eigentlich fragen wollte:
Also, ich find’s schade, dass wir uns so lange nicht gesehen haben und ich dachte, wir könnten jetzt vielleicht vergessen, was damals passiert ist und noch mal neu anfangen. Sollen wir mal wieder was zusammen unternehmen?“
Er war sich ganz sicher, dass er jetzt rot wie eine Tomate sein musste aber er versuchte, ihrem Blick standzuhalten. Jetzt Bloß nicht schwach wirken! Sie sollte ihn ernst nehmen, weil er sich doch so sehr wünschte, dass sie „Ja“ sagte.
Sie sah die Angst in seinen Augen und wusste, wie schwer es ihm fiel, sie noch immer anzusehen.
In den ersten Wochen, nachdem er sich von ihr getrennt hatte, wäre sie überglücklich über solche Worte gewesen. Damals hatte sie ihn einfach nur zurück gewollt, ohne zu sehen, wie dumm er sich doch verhalten hatte und wie wenig sie ihm bedeutet hatte.
Dann war er auch schon mit Marie zusammen gewesen und schien sie völlig vergessen zu haben. Leider hatte es so lange gedauert, bis ihr endlich klar wurde, dass sie ihn eigentlich gar nicht mehr zurückhaben wollte. Und da wusste sie , was sie ihm antworten würde:
„Stimmt, es ging mir ziemlich mies und es ist gut, dass du endlich darüber nachgedacht hast. Ich denke nur, dass ich es nicht einfach vergessen kann. Es war schön, dich wiederzusehen, aber vielleicht ist es besser, wenn wir nichts mehr zusammen unternehmen und wenn das hier jetzt das Ende ist. Jetzt, nachdem wir endlich darüber geredet haben.“
Sie zog seine Weste wieder aus und drückte sie ihm in die Hand.
„Ich geh wieder rein. Danke noch mal für die Weste.“
Er hörte, wie sie die Tür öffnete. Für einen kurzen Moment drang das Stimmengewirr der Gäste nach draußen, dann war es wieder still.
Er stand unbeweglich da, die Weste noch immer in der Hand, mit dem Rücken zu dem Haus, das gerade ein Mädchen mit nachtblauem Kleid und schmalen Schultern verschluckt hatte.