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Wiedersehen

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06.02.2002
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Wiedersehen

Sommer über den Ruinen. Endlich hat es aufgehört zu regnen. Zumeist tropfte es durch die Dächer. Oft hatte ich kein Dach. Die zerschlagenen Häuser, in denen ich meinen Teil leiste, sind unbewohnbar.
Ich kauere hinter dem Fenster, seit Sonnenaufgang vor gut zwei Stunden. Trotz des warmen Sonnenscheins sind keine Menschen auf der Straße. Einmal entdeckte ich ein Huschen, doch nach minutenlangem Starren war ich mir sicher, diese Gelegenheit verpasst zu haben.
Die Leute haben Hunger, er treibt sie wie die Ratten aus ihren Verstecken. Während des Regens hatte ich kaum Erfolg. Heute, wo das gute Wetter die Menschen zu Übermut veranlassen könnte, stehen meine Chancen besser.
Vom Warten werden die Augen müde, die Beine schwer, die Arme lahm. Ab und zu der dumpfe Hammerschlag einer Explosion oder das ferne, wütende Knattern leichter automatischer Waffen, das sind die einzigen Geräusche unserer Stadt an diesem Sommertag.
Ich würde jetzt gerne Rauchen, mich hinter die kahlen Wände ducken, die Glieder ausschütteln, für einen Moment die Augen schließen und entspannen. Doch ich habe Pflichten. Man braucht einen gewissen Instinkt, um Erfolg zu haben: ich entschließe, noch einen Moment zu warten.
Und tatsächlich, ich habe Erfolg. Unten auf der Hauptstraße, gute fünfhundert Meter entfernt, Nummer eins an diesem Tag. Wie eine Maus huscht Nummer Eins die Wände entlang, hastet von einem Autowrack zum andern. Den Rücken gekrümmt, in unauffälligem, schmutzigbraunem Pullover und Jeans. Kaum daumennagelgroß, durch das Visier. Nummer Eins ist eine Frau – das sind es meistens -, trägt eine alte Sporttasche, sie scheint sich Nahrung besorgen zu wollen. Sie ist vorsichtig, aber ich kann ihre Position gut einsehen. Diese Augenblicke gieriger Konzentration entschädigen für das Warten. Jagdfieber ergreift dich. Ich presse mein Gewehr fester an die Schulter und ziele, lauere.
Sie springt ein paar Meter weiter, hockt sich hinter einen ausgebrannten Toyota. Hektisch wirft sie den Kopf umher. Als ob sie uns sehen könnte. Niemand kann uns sehen, Hunderte Meter entfernt, unter Tarnnetzen lauernd in Ruinen. Dummes Mädchen. Ich krümme den Finger bis zum Abzug.
Der vergrößerte Ausschnitt Hauptstraße wandert umher, bis das schwarze Fadenkreuz in der Mitte ihres Kopfes liegt. Nummer eins ist jung, unverschleiert, dunkles, wildes Haar, dem man anmerkt, dass wir das Wasser abgedreht haben. Sie dreht mir das Gesicht zu, ich krümme den Finger ein Stück weiter – zögere.

Ich erkenne. Erinnere mich an dieses Gesicht. Es muss Jahre her sein.
Das kleine Restaurant unweit des Marktplatzes. Zumeist hatten wir Touristen zu Besuch, eine gute Küche, nicht ganz billig. Sie schien etwas feiern zu wollen, mit einer Freundin setzte sie sich an den Tisch am Fenster, der kleine runde mit nur zwei Stühlen. Die beiden Mädchen quatschten und lachten fröhlich. Sie lächelte mich an, als ich ihnen zwei Cola brachte und die Bestellung aufnehmen wollte. Was ich ihnen empfehlen könnte, fragte sie, und ihre Augen funkelten.
Wenn ich es mir leisten könnte, hier zu essen, bräuchte ich hier nicht arbeiten, scherzte ich grinsend. Die beiden lachten wieder. Ich empfahl den großen Bauernsalat mit Thunfisch und traf ins Schwarze. Mit Peperoni, fragte ich, denn viele mochten Peperoni nicht. Sie schon, aßen alles auf und gaben sogar Trinkgeld. Damit ich mir mal einen leckeren Salat leisten könne, lachte sie und ging. Ich glaube, ich war verliebt, doch ich sah sie nie wieder.

Immer noch kauert sie hinter dem Wrack. Worauf wartet sie? Sie scheint Atem zu schöpfen. Im Restaurant war ich ein Niemand, denke ich, doch ich will nicht schießen. Sie ist älter geworden, das sieht man ihr sogar auf die fünfhundert Meter an. Wir alle sind älter geworden. Schieß. Im Restaurant war ich ein Niemand, musste sogar vor Schluss noch jedesmal die Küche saubermachen für die paar Dinar.
Heute entscheide ich über Leben und Tod. Warum schieße ich nicht?
Ich nehme den Finger zurück. Immer noch das Fadenkreuz auf ihrem Kopf. Sie verschnauft. Auf diese Entfernung ist ein Schuss nicht immer tödlich. Man zielt vielleicht auf die Kopfmitte, aber manchmal erwischt man sie trotzdem nicht voll, und sie fallen um und kriechen umher wie kranke Insekten. Man muss dann zweimal schießen, und manchmal verrät man dadurch seine Position. Ich schaue sie an, regungslos. Selbst wenn man sofort den Kopf trifft, zappeln noch manche.
Irgendwo schlägt unsere Artillerie in die Stadt, sie zuckt fast unmerklich. Sie hat Angst hier draußen auf der Hauptstraße. Da springt sie auf, läuft weiter. Eine gute Strecke bis zur nächsten Deckung, lange verlassenen Sandsackmauern. Ganz am Anfang war dort ein MG- Nest, dass uns wohl abschrecken sollte, doch wir schossen sie einzeln heraus.
Gute zwanzig Meter, die sie überwinden muss. Was tut sie auch am helllichten Tag auf der Hauptstraße? Es muss etwas Wichtiges sein, noch fünf Meter, ich tue nichts, folge ihr, starre sie durch das Visier an. Sie verschwindet hinter den Sandsäcken. Gleich hat sie es geschafft, dann ist sie aus meinem Sichtbereich heraus und – ich erschrecke.

Gerät in Miros Bereich. Miro kennt sie nicht, Miro schießt auf alles, Miro wird sie – soll ich? Noch einmal springt sie hervor, in mein Visier, doch ich schieße nicht. Sie verschwindet hinter einer kaputten Mauer, aus meinem Sichtfeld. Am Stadtrand knattert ein MG kurz auf, ansonsten liegt Stille über den Ruinen.
Warum habe ich gezögert? Eine dumme Schwärmerei, nach einer Woche vergessen. Damals habe ich nicht gewusst, dass sie eine Moslemhure ist. Jetzt wusste ich es. Langsam, unauffällig, ziehe ich das Gewehr zurück und sinke ganz hinter die Wand zurück. Miro wird mich auslachen. Warum hast du sie nicht gekillt, wird er mich fragen. War doch einfach! Bitte, Miro, schieß nicht.
Umständlich krame ich eine Zigarette aus meiner Uniformjacke, zünde sie an, versuche, mich zu entspannen. Warum habe ich diese Moslemschlampe nur laufen lassen? Noch nie hatte ich solche Skrupel, dabei habe ich oft ihre Gesichter gesehen und mir gedacht: Es geht schnell, sie wissen gar nicht, was passiert, sie haben es dann hinter sich, es sind nur Moslems, besser als Teller waschen bis weit nach Mitternacht.
Ich lausche in die zähe Stille hinein, zucke zusammen, als wenig entfernt ein einzelner Schuss fällt. Miro. Ich schließe die Augen, inhaliere den Rauch meiner Zigarette, den Kopf an die nackte Wand gelehnt. Mein Kopf ist leer. Ich lausche in den Sommer über Sarajewo.

[ 24.04.2002, 20:38: Beitrag editiert von: Paranova ]

 

Hallo Paranova.

Deine Geschichte hat mir richtig gut gefallen, so tragisch sie auch ist!
Ist unglaublich, was da alles so abgeht!

Der Aufbau der Geschichte gefällt mir richtig gut, auch der kleine "Cafè-Einspieler" paßt.
Die Bilder, die du (diese Kurzgeschichte) bei mir hervorrufst sind krass, aber haben trotz alledem eine tragische Romantik. Auch die Umgebungsbeschreibung, erst (fast noch) schön und dann alles nur noch düster, dramatisch.

Auch die Gedankengänge deines Protagonisten sind toll nachzuvollziehen, mal ein anderer Blickwinkel.

Die Idee, dass er sie kannte und sich, in einem flüchtigen Moment, leicht in sie verliebt hatte, gefällt mir ebenfalls. Dazu gehört auch, dass er sie erst "Nummer eins" nennt, eine von vielen, anonym, 08/15, bedeutungslos.

Ein paar Tippfehlers:

Sie lächelte mich an, als ich ihre zwei Cola brachte und die Bestellung aufnehmen wollte.
Entweder: ..., als ich ihr zwei Cola brachte...
oder (und da tipp ich mehr drauf): ..., als ich ihnen die zwei Cola...

Wenn ich es mir leisten könnte, hier zu essen, brächte ich hier nicht arbeiten, scherzte ich grinsend.
bräuchte

Sie dreht mir das Gesicht zu, ich krümme den Finger ein Stück weiter – zögere.
Ich erkenne. Erinnere mich an dieses Gesicht. Es muss Jahre her sein.
Vielleicht nach dem "...zögere." einen Absatz, um es spannender und eben den Abschnitt herauszuheben.

Was mir gerda noch einfällt. Ebenfalls toll finde ich das Wiederkehren der Zigarette in Verbindung mit Entspannen.

Hartes Brot, aber es hat mir geschmeckt.

Lieben Gruß
Maya

 

Danke schön, Maya,
die Tippfehler sind verschwunden, ein Absatz neu gesetzt.
Es ist irgendwie schön, von einigen Leuten immer wieder was zu hören, zu lesen...
das zeigt wenigstens, dass ich nicht ganz so grottig schreibe, wie ich es mir immer einrede.
Die Geschichte war zwar schon vor einer Weile einem Ruck geschrieben, aber ich hielt sie für recht gut, auch weil einige neue und alte Gedanken in ihr zusammenflossen. Toll finde ich natürlich, dass du ( fast ) alle Sachen lobend erwähnt hast, die auch mir wichtig sind.

"Was da alles so abgeht" ist naturlich richtig, aber etwas salopp gesagt. In Folge der Balkankriege kam es zu blutigen Bürgerkriegen zwischen religiösen Gruppen, Seperatisten und alten Machthabern. Irgendwie kamen mir wieder die Fernsehberichte aus dieser Zeit in den Sinn - dabei ist es Jahre her - die von den serbischen Scharfschützen im belagerten Sarajewo berichteten.
Jeder sollte wissen, dass dort schon lange vor dem Kosovokrieg Frieden hätte erreicht werden können, unzählige Menschen nicht hätten sterben brauchen. Doch wir vergessen zu schnell. Wer fragt heute noch nach dem Balkan?
Werden wir in zehn Jahren auch Afghanistan verdrängt haben?

 

Moin Paranova.

Warum sollten deine Geschichten grottig sein? Etwas mehr Selbstbewußtsein, wie wärs damit, hmmh?
Wie gesagt, die Geschichte gefällt mir, habe gerade noch ein paar Andere gelesen und muß sagen, diese gefällt mir mit am Besten.

Toll finde ich natürlich, dass du ( fast ) alle Sachen lobend erwähnt hast, die auch mir wichtig sind.
Da stellt sich mir natürlich die Frage, was mir eben nicht aufgefallen ist. Würde mich wirklich interessieren.

Wer fragt heute noch nach dem Balkan?
Werden wir in zehn Jahren auch Afghanistan verdrängt haben?
Wie viele Menschen mußten sinnlos sterben? Ich kann es einfach nicht verstehen. Wir hätten den Evolutionsschritt zum Homo sapiens nicht steigen sollen.
Hätte, wäre, würde, wenn. Es gibt Krieg, damit jeder weiß, was Frieden ist. So grausam es ist und so ungern ich es sage. Es braucht Böses um Gutes zu erkennen.
Ja, wer denkt an den Balkan oder an Afghanistan? Wer denkt an die Punischen Kriege, wer an die Sklaven?
Diese Liste geht gen unendlich, leider. Jetzt fällt einem mal wieder auf, wie gut es einem eigentlich geht.

Lieben Gruß
Maya

 

Hi Paranova!

Wenn Du auch meintest, Dir würden auf kg.de jeden Tag neue Sachen klar, die Du noch nicht kannst:

Schreiben kannst Du jedenfalls! :thumbsup:

Deine Geschichte hat mir wirklich außerordentlich gut gefallen! Du verstehst es, mit wenigen Worten Atmosphäre zu erzeugen und Härte wie Gefühl gleichermaßen in den Protagonisten hineinzuschreiben, wobei auch der Handlungsbogen gut gespannt ist. - Was soll ich da noch kritisieren :shy: ...? Bin begeistert! :)

Nur noch das:

"...ich entschließe, noch einen Moment zu warten."

- entweder ...entschließe mich,... oder ..ich beschließe,.. ;)

Alles liebe,
Susi

[ 24.05.2002, 11:07: Beitrag editiert von: Häferl ]

 

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