Wiedersehen
Sommer über den Ruinen. Endlich hat es aufgehört zu regnen. Zumeist tropfte es durch die Dächer. Oft hatte ich kein Dach. Die zerschlagenen Häuser, in denen ich meinen Teil leiste, sind unbewohnbar.
Ich kauere hinter dem Fenster, seit Sonnenaufgang vor gut zwei Stunden. Trotz des warmen Sonnenscheins sind keine Menschen auf der Straße. Einmal entdeckte ich ein Huschen, doch nach minutenlangem Starren war ich mir sicher, diese Gelegenheit verpasst zu haben.
Die Leute haben Hunger, er treibt sie wie die Ratten aus ihren Verstecken. Während des Regens hatte ich kaum Erfolg. Heute, wo das gute Wetter die Menschen zu Übermut veranlassen könnte, stehen meine Chancen besser.
Vom Warten werden die Augen müde, die Beine schwer, die Arme lahm. Ab und zu der dumpfe Hammerschlag einer Explosion oder das ferne, wütende Knattern leichter automatischer Waffen, das sind die einzigen Geräusche unserer Stadt an diesem Sommertag.
Ich würde jetzt gerne Rauchen, mich hinter die kahlen Wände ducken, die Glieder ausschütteln, für einen Moment die Augen schließen und entspannen. Doch ich habe Pflichten. Man braucht einen gewissen Instinkt, um Erfolg zu haben: ich entschließe, noch einen Moment zu warten.
Und tatsächlich, ich habe Erfolg. Unten auf der Hauptstraße, gute fünfhundert Meter entfernt, Nummer eins an diesem Tag. Wie eine Maus huscht Nummer Eins die Wände entlang, hastet von einem Autowrack zum andern. Den Rücken gekrümmt, in unauffälligem, schmutzigbraunem Pullover und Jeans. Kaum daumennagelgroß, durch das Visier. Nummer Eins ist eine Frau – das sind es meistens -, trägt eine alte Sporttasche, sie scheint sich Nahrung besorgen zu wollen. Sie ist vorsichtig, aber ich kann ihre Position gut einsehen. Diese Augenblicke gieriger Konzentration entschädigen für das Warten. Jagdfieber ergreift dich. Ich presse mein Gewehr fester an die Schulter und ziele, lauere.
Sie springt ein paar Meter weiter, hockt sich hinter einen ausgebrannten Toyota. Hektisch wirft sie den Kopf umher. Als ob sie uns sehen könnte. Niemand kann uns sehen, Hunderte Meter entfernt, unter Tarnnetzen lauernd in Ruinen. Dummes Mädchen. Ich krümme den Finger bis zum Abzug.
Der vergrößerte Ausschnitt Hauptstraße wandert umher, bis das schwarze Fadenkreuz in der Mitte ihres Kopfes liegt. Nummer eins ist jung, unverschleiert, dunkles, wildes Haar, dem man anmerkt, dass wir das Wasser abgedreht haben. Sie dreht mir das Gesicht zu, ich krümme den Finger ein Stück weiter – zögere.
Ich erkenne. Erinnere mich an dieses Gesicht. Es muss Jahre her sein.
Das kleine Restaurant unweit des Marktplatzes. Zumeist hatten wir Touristen zu Besuch, eine gute Küche, nicht ganz billig. Sie schien etwas feiern zu wollen, mit einer Freundin setzte sie sich an den Tisch am Fenster, der kleine runde mit nur zwei Stühlen. Die beiden Mädchen quatschten und lachten fröhlich. Sie lächelte mich an, als ich ihnen zwei Cola brachte und die Bestellung aufnehmen wollte. Was ich ihnen empfehlen könnte, fragte sie, und ihre Augen funkelten.
Wenn ich es mir leisten könnte, hier zu essen, bräuchte ich hier nicht arbeiten, scherzte ich grinsend. Die beiden lachten wieder. Ich empfahl den großen Bauernsalat mit Thunfisch und traf ins Schwarze. Mit Peperoni, fragte ich, denn viele mochten Peperoni nicht. Sie schon, aßen alles auf und gaben sogar Trinkgeld. Damit ich mir mal einen leckeren Salat leisten könne, lachte sie und ging. Ich glaube, ich war verliebt, doch ich sah sie nie wieder.
Immer noch kauert sie hinter dem Wrack. Worauf wartet sie? Sie scheint Atem zu schöpfen. Im Restaurant war ich ein Niemand, denke ich, doch ich will nicht schießen. Sie ist älter geworden, das sieht man ihr sogar auf die fünfhundert Meter an. Wir alle sind älter geworden. Schieß. Im Restaurant war ich ein Niemand, musste sogar vor Schluss noch jedesmal die Küche saubermachen für die paar Dinar.
Heute entscheide ich über Leben und Tod. Warum schieße ich nicht?
Ich nehme den Finger zurück. Immer noch das Fadenkreuz auf ihrem Kopf. Sie verschnauft. Auf diese Entfernung ist ein Schuss nicht immer tödlich. Man zielt vielleicht auf die Kopfmitte, aber manchmal erwischt man sie trotzdem nicht voll, und sie fallen um und kriechen umher wie kranke Insekten. Man muss dann zweimal schießen, und manchmal verrät man dadurch seine Position. Ich schaue sie an, regungslos. Selbst wenn man sofort den Kopf trifft, zappeln noch manche.
Irgendwo schlägt unsere Artillerie in die Stadt, sie zuckt fast unmerklich. Sie hat Angst hier draußen auf der Hauptstraße. Da springt sie auf, läuft weiter. Eine gute Strecke bis zur nächsten Deckung, lange verlassenen Sandsackmauern. Ganz am Anfang war dort ein MG- Nest, dass uns wohl abschrecken sollte, doch wir schossen sie einzeln heraus.
Gute zwanzig Meter, die sie überwinden muss. Was tut sie auch am helllichten Tag auf der Hauptstraße? Es muss etwas Wichtiges sein, noch fünf Meter, ich tue nichts, folge ihr, starre sie durch das Visier an. Sie verschwindet hinter den Sandsäcken. Gleich hat sie es geschafft, dann ist sie aus meinem Sichtbereich heraus und – ich erschrecke.
Gerät in Miros Bereich. Miro kennt sie nicht, Miro schießt auf alles, Miro wird sie – soll ich? Noch einmal springt sie hervor, in mein Visier, doch ich schieße nicht. Sie verschwindet hinter einer kaputten Mauer, aus meinem Sichtfeld. Am Stadtrand knattert ein MG kurz auf, ansonsten liegt Stille über den Ruinen.
Warum habe ich gezögert? Eine dumme Schwärmerei, nach einer Woche vergessen. Damals habe ich nicht gewusst, dass sie eine Moslemhure ist. Jetzt wusste ich es. Langsam, unauffällig, ziehe ich das Gewehr zurück und sinke ganz hinter die Wand zurück. Miro wird mich auslachen. Warum hast du sie nicht gekillt, wird er mich fragen. War doch einfach! Bitte, Miro, schieß nicht.
Umständlich krame ich eine Zigarette aus meiner Uniformjacke, zünde sie an, versuche, mich zu entspannen. Warum habe ich diese Moslemschlampe nur laufen lassen? Noch nie hatte ich solche Skrupel, dabei habe ich oft ihre Gesichter gesehen und mir gedacht: Es geht schnell, sie wissen gar nicht, was passiert, sie haben es dann hinter sich, es sind nur Moslems, besser als Teller waschen bis weit nach Mitternacht.
Ich lausche in die zähe Stille hinein, zucke zusammen, als wenig entfernt ein einzelner Schuss fällt. Miro. Ich schließe die Augen, inhaliere den Rauch meiner Zigarette, den Kopf an die nackte Wand gelehnt. Mein Kopf ist leer. Ich lausche in den Sommer über Sarajewo.
[ 24.04.2002, 20:38: Beitrag editiert von: Paranova ]