Wiedersehen
Er hatte ihn schon seit zwanzig Jahren nicht mehr getroffen. Peter Binz fieberte bereits seit einer Woche dem Treffen mit seinem ehemaligen Kameraden aus der Rekrutenschule entgegen. Was waren sie doch für Draufgänger gewesen, wieviel Bier hatten sie an den Wochenenden hinter die Binde gekippt! Bei dem Gedanken an jene ferne, wilde Zeit, erschien ein verschmitztes Lächeln auf dem gutrasierten, leicht dicklichen Gesicht des Vierzigjährigen. Die Zeiten hatten sich geändert und aus ihm, dem jungen Wilden, war ein angesehener eleganter Geschäftsmann geworden. Anstatt Blue Jeans und Lederjacke trug er nun massgeschneiderte Anzüge, die trotz seinem etwas untersetzten, unsportlichen Körper immer wie angegossen wirkten. Wo waren bloss seine strammen Waden und die Bauchmuskulatur geblieben? Er stand vor dem Spiegel in seinem Schlafzimmer und mass sich mit einem abschätzenden Blick. Was würde wohl Hans dazu sagen, wenn er ihn so sähe? Er würde es bald erfahren.
Hans Werner betrachtete sein hageres, bleiches Gesicht mit den hohen, hervorstehenden Wangenknochen im Spiegel seines grossen, luxuriösen Badezimmers. Er starrte seinem gegenüber auf der blitzblanken Fläche in die tiefliegenden, grau-blauen Augen und ihm wurde schmerzlich bewusst, wie sehr er sich verändert hatte. Vor nur zwei Jahrzehnten war er nächtelang durch anrüchige Lokale gezogen, bis er alleine nicht mehr stehen konnte und hatte gegen alles und jeden rebelliert. Nun war aus ihm ein erfolgreicher Bankier und liebevoller Familienvater geworden und seine Nächte verbrachte er damit, sich um seine zwei kleinen Töchter zu kümmern. Er trank höchstens noch ein Glas Wein bei einem Geschäftsessen und war ein ruhiger, hilfsbereiter Bürger geworden, dem nichts ferner lag als rebellieren. Doch wie sollte er dies Peter, diesem alten Gauner klar machen, so wie er ihn kannte, trieb sich dieser bestimmt immer noch in den wildesten Lokalen herum und nahm Arbeit und Leben auf die leichte Schulter. Zweifelsohne würde er seinem ehemaligen Kumpan wie ein spiessiger, kleinkarierter Langweiler gegenüberstehen und sich gründlich blamieren.
Verzweifelt kämpfte sich Peter durch Massen von Hemden, Hosen und Anzügen. Irgendwo in der hintersten Ecke seines grossen Kleiderschrankes mussten doch noch die alten, schwarzen Lederhosen und die passende Lederjacke zu finden sein! Ausser Atem erwischte er endlich einen Zipfel seines ehemaligen Tenues und er liess sich mit einem erschöpften Seufzer auf das Bett fallen. Er hatte einen Entschluss gefasst: Er musste sich als Draufgänger von damals verkleiden, die Blamage vor seinem Kumpel wäre zu gross. Der hatte sich bestimmt nicht verändert, davon war er überzeugt. Er musterte zuerst die Kleidungsstücke zu seinen Füssen auf dem Fussboden, dann sich selber und ihm wurde klar, dass es ein schmerzvolles Gezerre geben würde, bis er sich in das enge Leder gequetscht hätte.
Jeans und Hawaiihemd lagen fein säuberlich auf dem Bett, die schwarzen Stiefel standen davor. Zweifelnd blickte Hans auf das herab, was er vor zwanzig Jahren ohne Zögern getragen hatte und was ihm nun schrecklich und grell vorkam. Glücklicherweise war seine Familie nicht zu Hause, seine Frau hätte wohl der psychiatrischen Klinik angerufen, wenn sie ihn in diesem Zeug aus der Kleidersammlung gesehen hätte. Mit Widerwillen streifte er sich die Kleider über und begutachtete sich erneut im Spiegel. Der lange, magere Mann im Spiegel sah fraglos lächerlich aus. Die Hose war eine Handbreit zu kurz und das schrille, bunte Hemd, das offen stand, offenbarte einen Blick auf seinen weissen, dünnen Oberkörper. Bevor er sich endgültig auf den Weg zum Treffpunkt an der Bushaltestelle machte, fuhr er sich mit den langen, feingliedrigen Fingern durch die Haare. Mit einer Frisur, als sei er gerade erst aufgestanden, verliess er sein schickes Appartement und trat zögernd auf die Strasse hinaus.
Luft anhalten, Reissverschluss zu, vorsichtig wieder zu atmen beginnen. Bequem war die Hose bestimmt nicht, Peter zupfte und zerrte daran, bis sie halbwegs richtig sass. Ihm wurde Angst und Bange bei dem blossen Gedanken daran, sich so in de Öffentlichkeit zu wagen. Wenn ihn bloss niemand erkannte! Dies war jedoch kaum möglich: Wer hätte in dem schwarzgekleideten Rockerverschnitt mit der üppigen Brustbehaarung, die aus der offenen Lederjacke hervorquoll und den Goldkettchen um Hals und Handgelenke schon den fleissigen Herrn Binz erkannt? Mit wild klopfendem Herz wagte er sich hinaus auf die Strasse.
Die alte Frau Schmitz von gegenüber starrte ihn entsetzt an, als Hans an ihr vorbeistelzte. Er spürte, wie sich ihr fragender Blick in seinen Rücken bohrte und wäre am liebsten im Boden versunken. Ihm wurde langsam klar, wie lächerlich das ganze Theater war. Man sah sicher aus einem Kilometer Entfernung, dass er nicht der lässige, aufgeschlossene Typ war, den er mimte. Doch es war zu spät, er konnte sich nicht noch einmal umziehen. Also setzte er seinen Weg fort.
Die Leute machten einen deutlichen Bogen um ihm herum, wenn sie an ihm vorbeikamen und Mütter zogen ihre Kinder näher zu sich heran. Er wusste genau, wie lächerlich er aussah und wie schlecht ihm sein Outfit stand. Er verfluchte sich für die hirnrissige Idee, seinen Freund überhaupt angerufen zu haben und ihn auch noch beeindrucken zu wollen. Doch da tauchte auch schon die Bushaltestelle vor ihm auf.
Hans schwitzte, ihm war unwohl und er kam sich vor wie in einem schlechten Film. Doch gleich würde er an seinem Ziel angelangt sein. Nur noch wenige Meter lagen zwischen ihm und seinem Kumpel.
Peter erreichte die Bushaltestelle und wurde sofort von den Wartenden misstrauisch in Augenschein genommen. Einige Leute belächelten ihn sogar und das weiss Gott nicht grundlos. Doch da sah er eine grosse Gestalt mit langen Schritten auf sich zukommen.
Hans befand sich unmittelbar auf der Zielgeraden, nächstens wäre er mit Peter in einer sicheren Bar, wo er niemandem auffiel. Da sah er eine untersetzte Gestalt an das Bushaltestellehäuschen gelehnt stehen. Mit wenigen Schritten kam er bei seinem Freund an.
Da standen sie sich nun nach all den Jahren gegenüber. Die beiden blickten einander an und ohne ein Wort war plötzlich alles klar. Sie legten ihre Köpfe zurück und lachten sich schier zu Tode.