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Wiedergeburt

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02.07.2002
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Wiedergeburt

Gerade noch tief versunken in Gedanken um seine heutige Arbeit, floss auf einmal Ruhe in seine alltägliche Hektik und er blieb wie angewurzelt stehen. Lange starrte er in die Tiefe der hell-blauen Augen eines Mannes. Diese Augen waren es, die ihn so faszinierten, wodurch der gewöhnliche Lauf seines Lebens mit einem Schlag aus den Fugen gerissen wurde. Die dicke Luft wies auf einen sich bald ereignenden Wetterwechsel hin.
Wie kann es sein, dass ein armer Penner wie er so glücklich ist? Tut er nur so, oder ist es wahres Glück, dass aus seinen Augen scheint? Er sitzt da in schmutzigen Lumpen, hat sich seit Tagen nicht mehr gewaschen und riecht auch so. Doch lacht er übers ganze Gesicht. Wieso?
Die Szene die sich vor ihm abspielte war eigentlich simpel, doch so ergreifend. Der alte Mann, der obdachlos schon etliche Jahre auf der Straße verbracht hatte schenkte einem kleinen Mädchen ein Bonbon, das er kurz davor auf dem Boden gefunden hatte. Dieses kleine Mädchen war gerademal drei oder vier Jahre alt und somit sagte sie kein Wort, sondern lachte nur den alten Mann an.
Wieso um Gottes Willen schenkt dieser halbverhungerte, nichtsbesitzende Mann ihr dieses Bonbon?!
Die Antwort auf seine Frage war ihm eigentlich schon längst bewusst, doch er verdrängte sie schnell wieder, als er sah was dies für ihn bedeuten würde. Doch er konnte sich nicht vor der Wahrheit verstecken, wie grausam sie ihm auch zunächst erschien. Sein Blick starrte deswegen das kleine Mädchen an, während die Wolken am Himmel sich langsam verdunkelten.
Sie ist nur einen Meter von diesem Penner entfernt. Doch sie sieht nicht, wie schmutzig er ist und sie riecht nicht den Gestank, der ihn umgibt. Ist sie denn wahrlich so blind??

Nein!!! durchzuckte es ihn wie ein Blitz in seinem Gehirn. Nein! Sie ist nicht blind. Sie sieht nur mit den wahren Augen.
Gleichzeitig mit dem Donner stürzte er mit den Knien auf den kalten, harten Asphalt. Der Regen fiel in Strömen auf sein Haupt und durchnässte seinen Körper. Ihm war, als sei er sein ganzes Leben lang den falschen Weg gegangen. Er ist den Weg gegangen, den die meisten Menschen gehen; den asphaltierten, goldverzierten Weg. Doch dieser Weg erschien ihm nun kalt und das glänzende Gold so künstlich und unbedeutend. Es kam ihm so vor, als erwachte er aus einem lebenslangen Schlaf und erblickte nun zum erstenmal die Szenerie am Wegesrand: den Bäumen wurde ihr Lebenssaft schon längst entzogen. Kahl und trüb stehen sie scheinbar sinnlos da. Ihre Äste zeigen auf den schwarzen, sternenlosen Himmel. Etwas weiter Richtung Horizont erkennt man die Trümmer einer Stadt mit anscheinend unzählbar vielen Häusern. Hie und da sind Spalten im Boden zu erkennen, die in eine Welt unter der Erde führen. Der Geruch frischer Asche füllt die Luft. Das Geräusch knisternden Feuers entweicht durch die Spalten aus der Unterwelt und zieht an der kalten Oberfläche alles in seinen Bann.
Ist das das Ende des Weges, den ich gehe? Ist das meine Asche?
Gedanken über Gedanken schossen ihm durchs Gehirn im Zeitraum nur eines einzigen Augenschlages.
Nun sah er die Menschenmassen auf der Straße gehen, auf der er noch immer kniete. Keiner schenkte dem Obdachlosen irgendeine Beachtung oder gar einen Blick.
Wie sie dahinrennen in ihrem ständigen Rhythmus, viel zu schnell und viel zu gleichmässig. Wie das Ticken vieler Uhren hören sich ihre Schritte auf dem nassen, harten Boden an. So viele Jahre lang bin ich ebenfalls diesen Weg gegangen. So viele Jahre habe ich verschwendet mit Lernen und Weiterbilden; so viele Jahre habe ich gearbeitet nur , um mit diesem verdammtem Geld belohnt zu werden. Doch war ich jemals wirklich glücklich?? Ich sah es sogar als das höchste Glück auf Erden mir einen teuren Sportwagen leisten zu können. Tsshh, ist das nicht komisch, dass mich ein großes Stück kalten Metalls mit einem 236PS starken Motor, der mit jeder Millisekunde, die er eingeschaltet ist, die Luft verpestet, glücklich macht?! Ist das nicht lächerlich?!
Mit seinen letzten Gedankenzügen schloss er die Augen und stürzte mit seinem Gesicht in eine Pfütze. Er sah wieder die Trümmer seiner Kammer vor sich und das Häufchen Asche in der Mitte. Der üble Gestank kam ihn in die Nase und ließ seine Augen tränen. Das unterirdische Feuer brannte nun aus den Erdspalten empor. Ihm war heiß, er schwitzte.
Wie kann ich hier bloß weg? Ich will den anderen Weg gehen, doch wieso kann ich mich nicht bewegen?
Wie angekettet stand er nun vor dem Häufchen Asche. Panik machte sich in seinem Körper breit, durchflutete seine Gedanken. Er wollte schreien, doch er war wie gelähmt. Eine einzige Träne floss aus seinem Auge langsam seine Wange hinunter und fiel schließlich auf die Asche. Irgendetwas schmerzte in seinem Herzen. Nein, es war sein Herz, das schmerzte und zum ersten mal hörte er es Schlagen, schneller immer schneller. Doch plötzlich fiel sein Blick auf die Asche und er sah, wie sie sich formte in einen kleinen, bunten Vogel. Und er sah die Welt aus der Sicht dieses kleinen Vogels, der den ganzen Weg zurückflog. An den Trümmern vorbei über den kahlen Bäumen hinweg bis zu einer Abzweigung, wo er schließlich landete und in die Richtung schaute, in die ein kleiner schmaler Pfad führte. Leicht zu übersehen und nicht zu erkennen, wo dieser Weg endete. Aber er wusste, dass es das Paradies sein würde in Form eines Gartens mit unendlich vielen Pflanzen, die saftige Früchte tragen.

Langsam öffnete er seine Augen und erinnerte sich, wo er war. Er stand auf. Sein Mantel und seine Hose waren durchnässt, doch es machte ihm nichts aus, genauso wenig wie die Tatsache, dass ihn keiner bemerkte. Alle gingen wie gewohnt ihren Weg in ihrem gewohnten Rhythmus. Doch plötzlich erkannte er aus der Menschenmasse eine Person, die in seine Richtung ging. Ihm fiel ein, dass er diese Person schon öfters gesehen hatte, ja sogar fast jeden Tag. Jeden morgen und jeden Abend; auf dem Weg in und auf dem Weg aus der Arbeit ging er an ihr vorbei und sie an ihm ohne das sich ihre Blicke jemals trafen. Die Person war eine Frau in seinem Alter mit schulterlangem braunen Haar und hell-blauen Augen. Sie schaute ihn an und lächelte zart während der Wind ihr durch die Haare wehte. Er fing ihren Blick auf und schenkte ihr ebenfalls ein leichtes Lächeln. Und sein Herz schlug immer schneller und schneller.

 

Hallo Unbekannter,

die Thematik Deiner Geschichte hat mir gefallen. Die plötzliche Erkenntnis Deines Protagonisten hat mich an Zen- Buddismus, aber auch an die plötzliche Lebenswegänderung des Christentums erinnert.
Probleme habe ich mit der Asche, woher kommt sie, welche Kammer ? Dann der Vogel (Phoenix ?), dies erschien mir etwas (entschuldige) zu - na ja – lieblich.
Den „Blitz in seinem Gehirn“ und die „wahren Augen“ würde ich auch noch ändern.

Tschüß... Woltochinon

 

Erst einmal: Danke für deine hilfreiche Kritik.

Und nun zum Wesentlichen: Also, die Idee, die hinter der Asche, der Kammer usw. steckt, ist folgende: Der Weg, den der Protagonist geht führt praktisch in den Tod. Mit der Erkenntnis, die er in der Geschichte erlangt hat, sieht er das Ende dieses Weges, also den Tod bzw. die Vergänglichkeit seines Lebens, dargestellt in Form von Asche und in Form von Trümmern eines Hauses. Das heißt, die vielen Trümmer sind die Trümmer vieler Häuser oder Kammern also vieler Leben, die diesen Weg gegangen sind und nun völlig zerstört sind bzw. tot sind. Die Asche soll diesen Gedankengang verstärken oder den Leser auf diesen Gedankengang hinweisen. Ja, der Vogel ist wirklich eine Phoenix wobei ich das Wort Phoenix nicht benutzt habe, weil es mir irgendwie zu lieblich (wie du es ausdrückst) erschien.

Und nochmals: Danke für die Kritik. werde mir das mit dem "Blitz in seinem Gehirn" und den "wahren Augen" nochmals überlegen und gegebenfalls auch ändern.

Bis Dann.

 

Servus !

Mir hat deine Geschichte eine Art von Offenbarung übermittelt die dieser Mensch inmitten seines Alltages, ausgelöst durch die Beobachtung einer kleinen Geste erlebte. "Blitz" und "wahres Auge" stören tatsächlich.
Der nachvollzogene Flug des Vogels ist wunderschön. Ich denke aber man muss sich nicht schämen oder das bisherige Leben als vergeudet betrachten, wenn man das Glück in irgendeinem Auto besitzen erlebt. Der Mann in der Geschichte war ja bereits auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen, er war sich dessen nur noch nicht bewusst. Denn wäre er nicht bereits unterwegs gewesen, wäre er an dem Kind und dem Mann mit dem Bonbon genauso unachtsam vorbei gegangen wie die Menschen um ihn herum. Vielleicht sind sie ja alle längst auf dem Weg ?
Lieben Gruß schnee.eule

 

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