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Wieder Weihnachten
"Joyeux Noël! C'est délirant", spricht das kleine Kind der Nachbarn schon wieder in fließendem Französisch. Die Eltern des Jungen, Frank und Carmen, gaben ihn der Familie, da sie ohne ihren Benjamin Weihnachten auf Hawaii feiern wollen. Die Reise war der zweite Preis eines, auf der Weihnachtsfeier der Firma des Mannes, stattgefundenen Gewinnspiels. Lösungsvertraute Organisatoren durften nämlich ebenfalls teilnehmen. Wie dem auch sei, spricht der kleine Benjamin, seit der Weggabe ausschließlich französisch. Fließend! Andreas, der Familienvater, 38, Schmied, Halbglatze und Fahne, Schnauzer und Poren, weiß nicht, was er davon halten soll. Um diese Verzweiflung zu vertuschen, schmückt er den Tannenbaum mit goldenen und roten Kugeln. Der Baum steht in diesem Jahr nicht, wie sonst, mitten im Wohnzimmer, sondern vor der Haustür, jedoch innerhalb des Hauses. Das war der Barbara, 40, pummelig und Hausfrau, ebenso Mutter zweier Töchter, sieben und ein halbes Jahre alt, sehr wichtig, denn wenn der Andreas nun seinen Kasten Billigbier aus dem Kofferraum des Polos holt, würden die Nachbarn den Baum sehen und, soweit es möglich ist, den Glauben an Gott und die Kirche erkennen. Was so ein Baum alles möglich machen kann...
"C'est bien, hehe, c'est bien!", schwärmt Benjamin für den Tannenbaum, vom Vater nun vollendet. Andreas schwitzt, kriegt Angst. Das ist das erste Mal, dass der kleine Junge ihn direkt angesprochen hat. Er beginnt zu zittern, wühlt in der Holzkiste nach einer weiteren Glaskugel, müsste aber eigentlich ganz genau wissen, dass er die Letzte bereits vor einigen Minuten an den Baum hing. Unvorsichtig, schaut er nach links, sieht seinen Vater aus einem neuen Auto steigen, dann nach rechts, wo Barbara mit der siebenjährigen Claudia Plätzchen backt. Andreas rennt in eine andere Richtung, da ihm links und rechts zu wenig Freiheiten erlauben. Oben angekommen, betritt er das Badezimmer und dreht den Schlüssel viermal nach rechts, atmet erleichtert auf, wischt sich den Schweiß vom mittlerweile bordeaux-roten Kopf und rasiert sich die zwei Tage alten Stoppeln aus dem Gesicht. Dabei denkt er an das heute Abend anstehende Weihnachtsessen, seinen Vater und die Personalchefin. Er hört unten seinen Vater reden, vermutlich mit seinem mitgebrachten Dackel Albert. Andreas erinnert sich ans letzte Jahr, als Albert sehr häufig unter den Weihnachtsbaum urinierte. Opa Hannes bleibt jedes Jahr am Heiligabend und am 1.Weihnachtstag bei seinem einzigen Kind. Andreas’ Mutter lebt seit nunmehr 18 Jahren in Belgien. Opa Hannes neue Frau verschwindet jedes Jahr am 22.Dezember völlig grundlos für exakt eine Woche. „Es ist nicht wegen dir!“ hört er dann nach dieser Woche immer wieder. Letztes Jahr sagte sie etwas mehr dazu, aber Hannes war zu betrunken.
Andreas geht die Treppe hinunter und geht lächelnd auf seinen Vater zu. „Du kriegst nichts!“ erinnert er Andreas grob. „Oh...ja, ähm, stimmt...“ murmelt Andreas und geht weinend in sein Zimmer. Am nächsten Morgen schmiert er wortlos Marmelade auf sein Brötchen, während Benjamin ihn anstarrt und ihm Wörter wie: „Bâilleur“ (Schlafmütze), „oublier“ (verschlafen) und „hier soir“ (gestern Abend) zuflüstert. Andreas’ linkes Augenlid beginnt zu zucken. Er schaut durch die Tür zum Tannenbaum. Das Strahlen der Krone beruhigt ihn ein bisschen. Zwei Meter tiefer jedoch pinkelt Albert, bis ihn ein Marmeladenbrötchen trifft. Hannes geht völlig mechanisch und ganz ohne Emotionen in Richtung Albert und leckt die klebrigen Erdbeerreste vom Fell. Die Familie weiß noch nichts von seinen neuen Tabletten. Barbara erinnert sich ans letzte Jahr, als Hannes ihr eine seiner Kopfschmerztabletten gab. Abends erzählt er der Familie vor dem Kamin von den Nebenwirkungen. Barbara verdrängt ihre Kopfschmerzen, um keine dieser Tabletten zu benötigen und bringt zudem die Kinder ins Bett, denn heute gibt es keine Geschenke mehr. Als sie zurück kommt, ist Andreas schon betrunken, denn seitdem er nur noch eine Niere hat, genügen drei Bier völlig. Barbara bewundert ihn dafür und Hannes zieht sich seine Jacke an. Er verabschiedet sich küssend von Barbara. Andreas hingegen ist eingeschlafen. Während Hannes seinem Hund die Leine anlegen möchte, fällt ihm ein, wo seine Frau steckt und er beschließt doch noch für eine Nacht zu bleiben. Er geht mit der vom Abschiedskuss noch ganz verlegenen Barbara nach oben ins Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen er nach dem Duschen verabschiedet er sich zwinkernd von Barbara und lächelnd von Andreas und verlässt das Haus. Sogar der leblose Baum im Flur wusste mehr als Andreas und im Hintergrund hört man ein französisches Gekicher. „Ich sollte abends weniger trinken“, denkt sich Andreas und massiert seine dröhnenden Schläfen.