Wieder kein Kino
Schon wieder sprang die Ampel auf rot. Heinz Röder trat wütend auf die Bremse und verwünschte die Banausen von Verkehrsplanern, die es nicht einmal schafften, Ampelphasen sinnvoll aufeinander abzustimmen. Eine rote Ampel nach der anderen! Und dabei war er sowieso zu spät dran. Er hatte Susanne versprochen, spätestens um sieben zuhause zu sein, damit es endlich mal ins Kino reichte. Schon seit Wochen wollte sie unbedingt den neuen Film mit Brad Pitt sehen. Aber wie so oft in den letzten Wochen war auch heute die Praxis wieder überfüllt gewesen, so dass er erst kurz vor sieben weggekommen war. Im Dezember sind die Grippeviren nun mal sehr aktiv, so dass er als praktischer Arzt alle Hände voll zu tun hatte. Immerhin, die Praxis lief gut. Fast zu gut. Susanne war in letzter Zeit etwas zu kurz gekommen, und das ließ sie ihn spüren.
Endlich grün! Röder gab Gas. Im Nu zeigte die Tachonadel neunzig, und das in der Stadt. Bloß jetzt keine Radarkontrolle! Weiter stadtauswärts, wo die Straße vierspurig wurde, standen sie oft mit ihrem heimtückischen Messgerät. Röder heftete die Augen an den Straßenrand. Plötzlich sah er von rechts eine Gestalt auf die Straße taumeln und stürzen. Er trat voll auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen rutschte er auf das dunkle Bündel am Boden zu, während ein Adrenalinstoß durch seinen Körper peitschte. Es reichte. Zwei Meter vor dem Gestrauchelten kam das Fahrzeug zum Stehen. Sekundenlang saß Röder wie versteinert am Lenkrad festgekrallt, dann schaltete er die Warnblinkanlage ein und stieg aus. Ausgerechnet heute, wo er es eilig hatte, musste so eine Scheiße passieren! Der Mann, der vor ihm lag, war offensichtlich bewusstlos. Jedenfalls regte er sich nicht. Obwohl es lausig kalt war, trug er nur einen leichten Anzug. Röder kniete sich neben den Liegenden und tastete nach dem Puls. Nichts. Kein Puls, aber Atmung normal. Seltsam.
Herzmassage? Doch bevor Röder die Hände auf den Brustkorb des Bewusstlosen pressen konnte, schlug dieser überraschend die Augen auf. „Geht schon wieder, danke“, sagte er in einem etwas seltsamen Tonfall.
„Mir ist nur ein bisschen schwindlig geworden.“ Jetzt sah Röder auch die klaffende Wunde an der Stirn, die ihm irgendwie künstlich vorkam. Glatte Wundränder, kein Blut. Vielleicht Schock. „Ich werde Sie ins Krankenhaus bringen. Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung und stehen unter Schock. Damit ist nicht zu spaßen. Und außerdem muss die Wunde genäht werden.“
Im Nu war der Fremde, dessen Gesicht Röder irgendwie bekannt vorkam, auf den Beinen. Er klopfte sich den Staub aus der Hose und sagte abwehrend „Kein Krankenhaus. Ich hasse Krankenhäuser. Außerdem bin ich schon wieder in Ordnung. Vielen Dank für Ihre Mühe.“ Mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch mehr zuließ, sagte Röder „Dann bringe ich Sie eben schnell in meine Praxis, die ist ganz in der Nähe. Jedenfalls werde ich Sie auf keinen Fall so gehen lassen, das ist viel zu gefährlich. Ich bin Arzt, wissen Sie. Doktor Röder mein Name.“ Ohne dessen Einverständnis abzuwarten, bugsierte er den Verletzten zur Autotür und schob ihn mit sanftem Druck auf den Beifahrersitz. Dann setzte er sich ans Steuer, schaltete den Warnblinker aus und wendete. Der Abend war sowieso gelaufen. Wieder nichts mit Kino. Brad Pitt musste weiter warten und Susanne würde sauer sein, doch er hatte keine Wahl. Unterlassene Hilfeleistung könnte ihn als Arzt den Job kosten, und soviel war ihm ein harmonischer Kinoabend dann doch nicht wert. Er würde gleich von der Praxis Susanne anrufen und ihr Bescheid sagen.
Auf dem Weg dorthin saß der Fremde stumm und abweisend neben ihm. Die zaghaften Kommunikationsversuche Röders ignorierte er einfach, was dieser den Nachwirkungen des Unfalls zuzuschreiben versuchte. In Wirklichkeit war ihm der Kerl irgendwie unheimlich. Röder fröstelte. Er fühlte sich unwohl und wünschte, dass er vorher einfach weitergefahren wäre, unterlassene Hilfeleistung hin oder her. Er sehnte sich plötzlich nach Susanne und stellte sich vor, wie schön es jetzt wäre, neben ihr im Kino zu sitzen und ihre warme Hand auf seinem Schenkel zu spüren.
Sie waren nur noch wenige hundert Meter von der Praxis entfernt, als Röder bemerkte, dass der Mann neben ihm wieder das Bewusstsein verloren hatte und auf dem Beifahrersitz zusammengesunken war. Scheint doch was Ernsthaftes zu sein, dachte er sich. Zum Glück waren die Praxisräume ebenerdig. Er parkte direkt vor dem Eingang und öffnete erst beide Türen, bevor er den Bewusstlosen vorsichtig aus dem Auto hob und hineintrug. Für seine Körpergröße war er ungewöhnlich leicht.
Röder legte ihn auf die lederne Patientenliege und holte sein Stethoskop. Er öffnete das Hemd des Fremden und begann, ihn zu untersuchen. Seltsam. Obwohl der Atem regelmäßig war, konnte er keine Herztöne finden. Genau wie vorher! Das war doch nicht möglich! Herzstillstand ohne den Zusammenbruch der Atmung und aller anderen Körperfunktionen war medizinisch völlig undenkbar. Erneut setzte er das Stethoskop an, aber außer den etwas surrenden Lungentönen war nichts zu hören. Dann sah Röder das Kabel. Ein dünnes goldglänzendes Kabel, das vom Bauchnabel nach unten führte. Plötzlich war ihm alles klar. Das war gar kein Mensch aus Fleisch und Blut, der da vor ihm lag, sondern ein künstliches Wesen. Eine Maschine, ein Roboter. Deshalb, die blutlose Wunde, die fehlenden Herztöne, die Angst vor dem Krankenhaus. Röder merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Verwirrt sah er sich in der Praxis um, aber es gab keinen Zweifel: das war kein schlechter Traum und auch kein Science-Fiction-Film. Wie zur Bestätigung legte er seine Hand auf den Brustkorb des Reglosen. Die Haut war kalt und fühlte sich so ähnlich an wie die Oberfläche seines Neopren-Tauchanzugs. Irgendwie löste sich dadurch seine Beklemmung und machte einer kühlen Neugier Platz. Wohin führte dieses Kabel? Er öffnete die Hose des vor ihm Liegenden und zog sie mitsamt der Unterhose nach unten. Er war nicht sonderlich überrascht, dass da keine Geschlechtsteile waren. Stattdessen fand er verschiedene mehrpolige Steckverbindungen (wahrscheinlich zum Anschluss an externe Computer), einen kleinen Sender und verschiedene andere elektronische Teile, von denen er nichts verstand. Eines war jedenfalls klar: nur absolute Spezialisten konnten in der Lage gewesen sein, ein solches Wunderwerk zu schaffen - eine fast perfekte Kopie des Menschen. Der Schweiß stand Röder jetzt auf der Stirn und er wandte sich kurz ab, um sich ein Papiertuch aus dem Glasschrank zu holen. „Ihre Neugier gefällt mir nicht, Doktor.“ Die Stimme in seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Das grimassenhafte Lächeln und ein unheimliches Funkeln in den Augen des Fremden machten ihm Angst. „Sie haben kennen mein Geheimnis, und deshalb sind Sie gefährlich für mich.“ Er zog sich die Hose hoch und stand auf. Röder lachte krampfhaft. „Ich und gefährlich? Ich wollte Ihnen doch bloß helfen. Sie können beruhigt sein, ich bin an meine ärztliche Schweigepflicht gebunden.“ Sein Gegenüber schien etwas beruhigt, deshalb wagte sich Röder wieder ein bisschen nach vorne. „Sie sind eine verdammt gute Kopie. Wer hat Sie denn so gut hingekriegt?“ Der andere schien zu überlegen. Dann sagte er in einem überraschend vertraulichen Ton „Es hat ja doch keinen Sinn mehr. Meine Funktionsausfälle werden immer häufiger und gravierender. Außerdem ist mein Auftrag längst erledigt, warum soll ich Ihnen also die Wahrheit verschweigen?“ Er schien plötzlich müde und resigniert und setzte sich auf den Rand der Patientenliege. „Ich bin ein Geschöpf aus den Labors des ehemaligen DDR-Geheimdienstes und war jahrelang Topspion im Bundeskanzleramt. Spezialist für besonders schwierige Aufträge sozusagen. Getarnt als Staatssekretär nahm ich als Vertrauter des Bundeskanzlers an allen wichtigen Besprechungen des Kabinetts teil und war deshalb auch über Vorgänge der höchsten Geheimhaltungsstufe immer bestens informiert. Ohne mich wäre die DDR schon viel früher von der Bildfläche verschwunden.“ Nach einer kurzen Pause, in der er Röder aufmerksam musterte, sprach er weiter. „Meine Augen sind winzige Spezialkameras, die alles, was um mich herum geschieht, permanent aufzeichnen. Von Ihrem Gesicht mache ich gerade eine Großaufnahme. In meine 0hren sind hochempfindliche Mikrofone eingebaut. Alle Informationen, die ich optisch oder akustisch aufnehme, werden von einem Spezialcomputer in meinem Inneren gespeichert und verarbeitet. Das ist sozusagen mein Herz, das Sie nicht schlagen hören, haha. Wichtige Informationen kann ich entweder mit verschlüsselten Funksignalen direkt übermitteln oder online auf einen anderen Datenträger übertragen. Sie haben ja meine Geschlechtsteile begutachtet.“ Er lächelte süffisant. Röder war sprachlos. Bevor er eine Zwischenfrage stellen konnte, fuhr sein Gegenüber fort. „Nach der Wende habe ich meinen Dienst in Bonn quittiert. Ich schob gesundheitliche Gründe vor. In Wirklichkeit gab es einfach nichts mehr zu tun für mich. Meine Erbauer und Auftraggeber wurden entmachtet, wie Sie wissen. Sie wurden entweder verhaftet oder konnten sich wieder in wirtschaftliche oder politische Führungspositionen schleichen, nachdem sie ihre schmutzigen Westen gewendet hatten. Seit damals geht es mit mir immer weiter bergab. Mit kleinen Gelegenheitsjobs für den bundesdeutschen Verfassungsschutz konnte ich mich all die Jahre mühsam über Wasser halten. Ab und zu kam auch ein Auftrag aus der Industrie dazu. Aber inzwischen ist meine Technik veraltetet und im Grunde unbrauchbar. Jeder kleine Hacker kann heute meine Verschlüsselung knacken. Meine Prozessoren sind zu langsam, mein Rechner stürzt immer wieder mal ab. Solche kurzen Ausfälle wie heute Abend häufen sich und werden schlimmer. Ich bin am Ende, ein Wrack.“ Röders Angst war längst einer Mischung aus Sympathie und Mitleid gewichen. „Ich könnte Ihnen einen Job in meiner Praxis anbieten. Ich brauche jemanden, der meine Patientenkartei systematisiert und auf elektronische Datenverarbeitung umstellt. Wenn Sie wollen ...“ Der Fremde unterbrach ihn schroff. „Lassen Sie mich mit Ihrer Patientenkartei in Ruhe. Für solche Kinkerlitzchen taugt mein Programm nicht. Ich bin ein für Spionage programmierter Spezialist, begreifen Sie das denn nicht? Ich kann nichts anderes, und meine Programmierung ist irreversibel.“ Er wirkte jetzt müde und deprimiert. "Tja, dann kann ich Ihnen wohl nicht helfen“, entgegnete Röder sichtlich beleidigt. „Ich wüsste nicht, was ich noch für Sie tun könnte.“ Es ging ihm gewaltig gegen den Strich, dass sein großzügiges Angebot so rigide abgeschmettert wurde. „Jetzt werden Sie doch nicht gleich sauer. Ich wollte Sie nicht kränken. Im Gegenteil, ich möchte Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft danken.“ Er streckte Röder wie zur Versöhnung die Hand entgegen, die dieser aber ignorierte. Er kam zwei Schritte auf Röder zu und sah ihn bittend an. „Würden Sie mir noch einen letzten Gefallen tun?“ „Wenn es unbedingt sein muss“ brummte Röder wieder etwas versöhnlicher. „Aber ich habe nicht mehr viel Zeit. Meine Frau wartet auf mich. Eigentlich wollte ich sie schon längst anrufen.“ “Keine Angst, es dauert nicht lange“, sagte der Fremde. Er zog sich das Hemd aus und drehte sich um. „Auf meinem Rücken, an einer Stelle, die ich nicht selbst erreichen kann, befindet sich ein Art Reißverschluss. Sehen Sie ihn?“ Röder bejahte. „Wenn Sie ihn öffnen, finden Sie zwei Knöpfe, einen roten und einen weißen. Drücken Sie bitte beide gleichzeitig“ Röder war unsicher. „Was soll das? Was passiert, wenn ich die Knöpfe drücke?“ „Bitte stellen Sie mir keine Fragen mehr. Es ist ein Freundschaftsdienst.“ Röder zögerte kurz, dann öffnete er den Verschluss und drückte die beiden Knöpfe. Er wusste, was passieren würde.