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Wieder einmal auf dem Weg zur Uni
Wiedereinmal auf dem Weg zur Uni
Ich saß in der U-Bahn und träumte vor mich hin. Es war kein normales Vor-sich-hin-träumen, sondern vielmehr ein Tiefschlafphasenträumen, und dann wurde ich bösartig aus den Armen unzähliger nackter, öliger Nymphomaninnen gerissen. „Ich bin mal wieder einer dieser nervigen Typen...“, schallte die Stimme des 17jährigen obdachlosen MOZ-Verkäufers in meinem Schädel nach. Ich verfluchte ihn, kaufte ihm schnell eine MOZ ab, damit er Ruhe gab und versuchte mit meinen neu erworbenen Meditationskünsten wieder in den exstatischen Zustand von vor 10 Sekunden zu gelangen. Leider Enttäuschenderweise ohne Erfolg. Ich schrie ihm noch hinterher, dass ich das nächste Mal sofort eine kaufen würde und er das Geld nur aus meiner Tasche nehmen und mich gefälligst schlafen lassen solle. Hätte ich gewusst, dass er sich zwei Tage später vor die U-Bahn schmiss, hätte ich mir die Bemerkung geschenkt, doch ahnte niemand etwas von seinem Schicksal und im Grunde genommen interessierte es auch keinen, dass sich die Anzahl der obdachlosen MOZ-Verkäufer von unendlich auf unendlich minus eins reduzierte. Mit meinem Träumen war es jedenfalls vorbei und ich versuchte angestrengt herauszufinden wo ich denn wiedereinmal gelandet war. „Krumme Lanke!“, ließ mich der Lautsprecher über mir in die Höhe fahren und weckte böse Erinnerungen an kurz davor. Ich hatte es wiedereinmal geschafft: War fünf Stationen zu weit gefahren und verpasste die einzige Vorlesung, die mich interessierte. „Na ja!“ ,dachte ich und überlegt was zu tun sei. „Alles Aussteigen!“. „Gut! Wieder eine Entscheidung weniger!“, also folgte ich den Anweisungen der metallenen Stimme. Ich war zwar schon öfter hier aufgewacht, wagte mich jedoch nie aus der Bahn zu steigen, ich war ja schließlich im Westen und die U-Bahn erschien mir noch als Hoheitsgebiet des Ostens. Dennoch wagte ich es diesmal auszusteigen und mich nicht in einer Ecke des Wagens zu verstecken und zu warten, dass dieselbe Bahn zwanzig Minuten später ihren Weg zurück nahm. Vorsichtig schnupperte ich vor mich hin. Wider erwartend schoss mir kein suspekter Geruch in die Nase. Ich kannte den Westen nur vom Unigelände und dort stank es, es stank nach Dreck, Kapitalismus, nach durchgefaulten Wänden, nach konservativen Professoren und nach Wessis! Doch an der Krummen Lanke erschien der Gestank begraben zu sein und ich tastete mich langsam zum Ausgang vor. Dann, plötzlich, hörte ich es. Es war dieser Akzent, zuerst vermochte ich ihn nicht zu klassifizieren, doch dann lokalisierte ich die Richtung. Die anscheinend verstümmelten Stimmbänder standen da hinter der Ecke und mussten mit einen mindestens hundert Kilo schweren Körper verwachsen sein. Ich schob mich langsam näher heran und da kam es mir: Das Krächzen, das Neukreieren von Lauten, die wie Kaugummi gedehnten Vokale: Es mussten Bewohner des Freistaats Bayern sein. Mir wurde plötzlich ganz anders, eine Apathie wuchs in mir heran und ich entschloss zu fliehen. Zurück zum Gleis, rein in die Bahn und zurück in den Osten. Die Uni war für heute gestorben. Ich schlief wiedereinmal ein und war noch nie so glücklich an der Warschauer Straße von der monotonen blechernen Stimme geweckt zu werden: „Alles Aussteigen!“.