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Wie Wesen verwesen
Der Fahrer des Taxis roch wie eine drei Wochen alte Fischsemmel. Karl sah über diese Tatsache hinweg. Er war erleichtert, überhaupt ein Taxi ergattert zu haben.
„Wohin soll's denn gehen?“ fragte der aromatische Mann auf dem Fahrersitz.
Seine Stimme machte Karl nervös, sie hatte den Klang eines erbrechenden Kamels. Er antwortete mit einem Zittern in der Stimme und ein paar Augenblicke später befanden sie sich auf der Straße.
Karl fiel der Fahrerausweis ins Auge, der seinen Chauffeur als Eberhard Schmied betitelte. Das Foto konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen.
Unsicher wagte Karl einen Blick nach links. Gegen das Licht vorbeifliegender Straßenlaternen konnte Karl nur eine unklare Silhouette wahrnehmen.
Eberhards Profil wirkte nicht weniger faulig als sein Geruch. Sein kahler Schädel zitterte instabil im Takt des Autos. Ohr und Nase waren seltsam deformiert, als hätte man beide mit einem Hammer bearbeitet. Lippen waren kaum zu erkennen.
„Was sehen Sie mich denn so an?“ blaffte Eberhard, was Karl zusammenzucken ließ.
„Ich ... äh ... Gar nichts ...“ murmelte dieser und wandte den Kopf starr in Richtung Windschutzscheibe.
Irgendetwas sagte ihm, dass er den Mann neben sich nicht verärgern sollte. Eberhard begann zu husten, ein Geräusch, als würde das erbrechende Kamel nun den Tod finden. Karl überlegte, ob er ihm ein Taschentuch anbieten sollte, doch dann registrierte er, dass die kaum sichtbaren Lippen Eberhards sich an den Seiten nach oben gezogen hatten. War dieses fürchterliche Geräusch etwa ein Lachen?
„Mein guter Mann, dürfte ich wohl Ihren Namen erfahren, wenn sie mich schon mit diesem angewiderten Blicken strafen?“
Karl war einen Moment lang sprachlos. Die Art und Weise, wie Eberhard sich ausdrückte, passte nicht zu seiner Stimme und seinem Erscheinungsbild – und schon gar nicht zu seinem Geruch.
„Karl... Entschuldigen Sie bitte mein Verhalten, ich bin nur schon sehr müde...“ versuchte er sich herauszureden.
Eberhards Grimasse sollte wohl ein Lächeln darstellen. Karls Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er die Gesichtszüge des Fahrers nun erkennen konnte.
Diese verzerrten sich auf unnatürliche Weise, grünlich blasse Haut spannte sich gefährlich straff über das knochige Gesicht, es war die reinste Perversion eines Grinsens.
„Was Sie nicht sagen, Karl. Müdigkeit ist mir mittlerweile ein fremder Zustand, wissen Sie.“
Karl entgegnete nichts.
War Eberhard etwa einer von diesen Minderheitenkreaturen, die man hin und wieder in den Nachrichten oder im Reality TV zu sehen bekam? Das würde zumindest einiges erklären.
Eberhard wartete noch einige Sekunden auf einen Kommentar Karls, bevor er fortfuhr: „Ihnen ist sicher aufgefallen, dass ich in mancher Hinsicht... etwas abstrakt wirke. Ich werde Ihnen den Grund dafür nennen, wenn Sie möchten.“
Karl bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Den Grund konnte er sich nur allzu gut selbst zuasmmenreimen.
Mit bebender Stimme antwortete er: „Was... Sagen Sie es ruhig.“ Er erhaschte einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr.
Wie lange fuhren sie schon? Würde diese Fahrt denn nie ein Ende nehmen?
„Also Karl... Ich will mich kurz fassen: medizinisch gesehen bin ich tot. Seit etwas über sechzig Jahren. Die moderne Sprache würde mich als Zombie bezeichnen, aber dieser Begriff hat etwas Diskriminierendes, nicht wahr?“
Karls Mund wollte sich nicht mehr schließen. Er starrte Eberhard an, ohne ein Wort hervorzubringen. Ein Untoter, wie er es sich gedacht hatte. Er hatte viel von ihnen gehört, jedoch niemals einen zu Gesicht bekommen. Wohl war ihm dabei ganz und gar nicht.
Wieder der Klang des sterbenden Kamels. Diesmal lachte Eberhard so heftig, dass sein Kopf vor lauter Zittern nach hinten abzuknicken drohte.
Sein Lachanfall ging von einer Sekunde auf die Nächste in einen Aufschrei über, dem eine gekonnte Vollbremsung folgte.
Karl wurde aus seiner Schockstarre gerissen, sein Kopf nach vorne geschleudert und Schmerz durchfuhr seinen Nacken. Er hörte einen dumpfen Aufprall, bevor der Wagen quietschend zum Stehen kam.
„Na, wenn das kein glücklicher Zufall ist!“ quietschte Eberhard.
„Was zum ...?“ keuchte Karl. Er blickte sich hektisch um. Hatten sie ein Tier überfahren? Oder hielten sie mitten im Wald an, damit Eberhard seinen kannibalischen Neigungen nachgehen konnte?
Seine Hände schwitzten. Er rieb sie an seiner Hose trocken und ermahnte sich selbst ruhig zu bleiben. Eberhard löste seinen Sitzgurt, öffnete die Fahrertür und schälte sich nicht gerade graziös aus seinem Sitz.
„Warten Sie einen Moment, Karl. Ich sammle das nur kurz ein.“
Was zum Henker meinte er damit? Karl begutachtete den Türgriff neben sich. Er könnte aussteigen und weglaufen, allzu weit war er sicher nicht von zuhause entfernt. Noch ehe er sich entscheiden konnte, setzte sich Eberhard wieder in den Wagen zurück und knallte die Tür kräftig zu, während er mit der rechten Hand etwas auf den Rücksitz schleuderte.
„Was ist das?“ die Worte fielen Karl unkontrolliert aus dem Mund, eigentlich wollte er das gar nicht wissen.
Eberhard grinste ihn an: „Abendessen.“ raunte er genüsslich.
Karl betrachtete das absurde Gesicht seines Gegenübers. Mit einem Mal fiel ihm etwas auf.
„Ihr... Ohr...“ war das einzige was er zustande brachte und er deutete auf die offene Stelle an Eberhards Kopf, an der vor Kurzem noch ein deformiertes Ohr hing.
Eberhards Grinsen wich einem Stirnrunzeln.
Er taste an der rechten Seite seines Schädels herum und ließ den Blick durch das Auto schweifen.
„So ein Mist, das muss mir bei der Bremsung weggeflogen sein. Oh, da ist es ja!“ Sein Blick blieb auf Karls Schoß hängen. Dieser senkte langsam den Kopf zu seinen Oberschenkeln.
Auf seinem linken Bein lag tatsächlich etwas. Ein fauliges Stück Fleisch. Er schrie entsetzt auf, wischte das Ding von sich weg und es blieb neben dem Schaltknüppel liegen.
„Jetzt beruhigen Sie sich doch!“ Eberhard war sichtlich nicht angetan von der Art und Weise, wie mit seinem Sinnesorgan umgegangen wurde.
„Immer das Selbe. Alle erwarten sie, dass wir unsere Körperteile nicht herumliegen lassen und wenn dann doch mal eins abfällt, schmeißen sie es auch noch durch die Gegend! Halten Sie mal ihre Nase im Linienbus davon ab sich selbstständig zu machen, wenn Sie seit sechzig Jahren verwesen!“
Er ließ den Motor an, während er sprach, hielt das Lenkrad in der Linken, während er mit der Rechten sein Ohr in seine Jackentasche stopfte.
„Da kümmert sich meine Frau später drum.“ erklärte er Karl.
In seiner Stimme schwang immer noch Frust über Karls intolerantes Verhalten mit.
"Karl, Sie haben ja keine Ahnung, was ein Untoter in dieser Gesellschaft durchmacht. Dabei habe ich schon seit dreißig Jahren kein menschliches Gehirn mehr gegessen!"
Karl war am Ende mit den Nerven. War das ein Albtraum? Er hoffte es inständig.
Sein Herz raste. Vorsichtig versuchte er einen Blick auf das reglose Bündel auf der Rückbank zu erhaschen. Zweifellos handelte es sich um ein Tier, in der Dunkelheit war es jedoch nicht genauer zu indentifizieren. Abendessen also.
Es war beruhigend, dass Eberhard überfahrene Tiere einem Menschenhirn vorzog. Doch die Vorstellung, wie sich dieses einohrige Monster eine tote Katze, oder weiß der Teufel was, mit Ketchup und Pommes einverleibte ließ Karls Magen rebellieren.
Nach einigen Minuten des Schweigens passierten sie zu Karls Erleichterung endlich das Ortsschild von Buchendorf.
Wenige Minuten später kam der Wagen zum Stehen.
Karl schleuderte Eberhard ein paar Scheine auf den Schoß und hastete so schnell er konnte raus aus dem Taxi in Richtung seines Hauses.
Eberhard blieb seufzend zurück.
„Als würden sie nie sterben müssen.“