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Wie Thomasin Silbermond ihren Namen bekam
Abend senkte sich über den kleinen Waldsee in der Nähe von Wichtelby. Auf einem weit über das Wasser hinausragenden Ast saßen zwei spitzohrige Gestalten nebeneinander und schauten versonnen zum Mond hinauf und auf den See hinaus.
"Schön ists hier", sagte Lionel Fliegenbein. Aber das hätte er an jedem Ort der Welt gesagt, solange Thomasin Silbermond neben ihm saß.
"Hm", machte Thomasin und konnte den Blick nicht vom Mond abwenden, dessen Licht ihre silberweißen Zöpfe seltsam schimmern ließ, was so gespenstisch schön aussah, dass Lionel leise seufzte.
"Du siehst aus", sagte er, "wie ein Stück vom Mond, das abgebrochen und zur Erde heruntergefallen ist." Das schien ihm so einleuchtend, dass er hinaufschaute, um festzustellen, ob am Rand der Mondscheibe tatsächlich ein Stückchen fehlte, aber alles sah dort so rund und glatt aus wie immer. "Gut, dass er nicht wirklich runterfallen kann, sonst wärs noch düsterer in der Nacht."
Thomasin lachte. "Sei dir da nicht so sicher. Das ist schon mal passiert, und damals hab ich meinen Namen bekommen."
"Wie meinst du das?", fragte Lionel verblüfft.
Thomasin schaute ihn an, und unter ihren Augenlidern war nur ein schmaler Schlitz zu sehen. "Hast du dich nie gefragt, warum ich nicht Thomasin Mondschein heiße, wie meine Mutter, Madame Mondschein?"
"Äh..." Lionel hätte es nie gewagt, irgendetwas in Zusammenhang mit Thomasin in Frage zu stellen. Wenn sie Thomasin Silbermond heißen wollte, hieß sie eben Thomasin Silbermond. Punkt.
"Anscheinend nicht", brummte Thomasin und schute beleidigt wieder zum Mond hinauf. "Aber vielleicht interessiert dich das ja auch gar nicht..."
"Doch, doch, natürlich!", versichterte Lionel eilig. "Wie ist denn das gekommen? Mit deinem Namen, mein ich."
"Also", sagte Thomasin, "das war vor vielen Jahren, als ich noch ganz klein war."
"Wie klein?"
"Sehr klein."
Lionel kicherte albern. "So klein wie eine Erbsenschote?"
"Nein", sagte Thomasin streng. "So klein nicht. Willst du weiter Unsinn plappern oder willst du die Geschichte hören?"
"Ich möchte die Geschichte hören, bitte", sagte Lionel kleinlaut.
"Also", fuhr Thomasin fort, "vor vielen Jahren, wie gesagt, als ich noch sehr klein war, wurde es eines Nachts ganz dunkel."
"Aber es wird doch jede Nacht ganz dunkel", wagte Lionel einzuwerfen.
"Aber nicht so dunkel. Es war viel dunkler als sonst, und man konnte es nicht nur sehen, man konnte es vor allem fühlen. Es war, als ob es in uns selbst dunkler geworden wäre, und jeder, der es spürte, hatte große Furcht in seinem Herzen."
Lionel verspürte auch ein wenig Furcht in seinem Herzen als er das hörte, und er fragte sich, wo er in jener Nacht gewesen war. Wahrscheinlich hatte er fest geschlafen und nichts von der doppeldunklen Nacht bemerkt.
"Ich war ziemlich erschrocken", erzählte Thomasin weiter, "und hab nach meiner Mutter gerufen. Aber sie war zu Madame Rabenschnabel gegangen, um mit ihr die Dunkelheit zu besprechen. Sie hatte angenommen, ich würde sorglos schlafen wie alle anderen Kinder.
Lionel schaute schuldbewusst auf seine Stiefelspitzen.
Thomasin schien es nicht zu bemerken. "Jedenfalls hab ich mich schrecklich gefürchtet und wollte nicht allein bleiben. Ich lief aus dem Haus, aber draußen war es natürlich auch finster. Sterne standen am Himmel, aber ihr Licht war schwach, als ob sie nicht durch die Finsternis hindurchleuchten könnten.
Ich bin einfach so losgelaufen und hab gerufen, aber statt auf Wichtel zu treffen, bin ich in den Wald geraten und dort herumgeirrt."
Lionel lief es kalt über den Rücken. In der finstersten Nacht aller Nächte allein im Wald herumzulaufen, war eine schaurige Vorstellung.
"Was hast du gemacht?", fragte er atemlos.
"Na ja", sagte Thomasin verlegen, "erstmal hab ich geweint. Ich hatte so ein komisches Gefühl, als ob ich nie wieder aus der Dunkelheit herausfinden könnte. Ich wollte wieder nach Hause, geriet aber, ohne es zu merken, immer tiefer in den Wald hinein. Bald spürte ich, dass von allen Seiten Hände oder Pfoten an mir zupften, konnte aber nicht sehen, wer da war, und als ich voller Angst fragte, kam keine Antwort."
"Uaaah!", rief Lionel entsetzt. "Ich wär vor Angst in Ohnmacht gefallen..."
Thomasin zuckte die Achseln. "Ich war nah dran, aber dann bin ich einfach davongerannt, weg von den Händen. Ich bin gerannt und gerannt, als ob ich aus der Finsternis herausrennen könnte, und dann, auf einmal, hab ich tatsächlich einen Lichtschimmer gesehen. Ich dachte, vielleicht bin ich wieder in Wichtelby und vor mir wär ein Haus, also bin ich natürlich darauf zugelaufen. Aber als ich bei dem Licht ankam, sah ich, dass es eine silberne Scheibe war, die ganz matt leuchtete. Sie lag bei einem Gebüsch, halb verdeckt von Laub, als ob jemand sie verloren hätte. Ich hab sie aufgehoben, und meine Angst war wie weggeblasen. Es war so schön, wieder Licht zu sehen, auch wenn es nur so schwach war. Ich konnte meine Augen gar nicht davon abwenden.
`He, du da!´, schnarrte plötzlich eine Stimme hinter mir. `Gib das her! Das gehört mir!´
Ich erschrak und drehte mich um. Im Licht der Silberscheibe konnte ich eine hässliche Gestalt erkennen, so groß wie ein Schrat, aber sie sah viel gemeiner aus."
"Was hast du gemacht?", rief Lionel erschrocken. "Hast du dem die Scheibe gegeben?"
Thomasin schüttelte den Kopf. "Ich wollte das Licht um keinen Preis wieder hergeben. nicht wieder in dieser entsetzlichen Dunkelheit sein. Außerdem hab ich dem Burschen kein Wort geglaubt.
`Wer sagt, dass das deins ist?´, rief ich. `Ich habs gefunden, also ist es meins!´
`Es ist meins, ich wills haben´, sagte der hässliche Wicht voller Wut, und seine furchtbar lange Nase sah aus, als ob sie mich stechen wollte. `Gib her, oder ich muss dir den Arm brechen!´
Lionel keuchte entsetzt. "Was für ein Schuft!"
"Das war er", bestätigte Thomasin. "Aber ich hab mich nicht einschüchtern lassen. Der Kerl hatte ganz kurze, gebogene Beine und seine Arme waren so lang, dass seine Hände über den Boden schleiften. Der kann bestimmt nicht besonders schnell laufen, dachte ich.
`Was willst du denn mit der Scheibe machen?´, fragte ich.
`Vergraben!´, schrie er. Ìch will das Mistding vergraben, damit es immer dunkel ist!´
`Niemals!´, rief ich und bin ab durch die Mitte. Wie ich mir gedacht hatte, watschelte der Bursche so langsam hinter mir her, dass ich nie in die Gefahr kam, von ihm eingeholt zu werden. Ich lachte ihn aus und drehte ihm eine lange Nase, während er zurückblieb und die Fäuste schüttelte."
Lionel war sprachlos über den Wagemut seiner Freundin und bewunderte sie, wenn das überhaupt möglich war, noch mehr als vorher.
"Mit der Silberscheibe", erzählte Thomasin weiter, "konnte ich ganz gut sehen, wo ich langlief, aber ich wusste nicht, wo ich war. Ringsum war tiefster Wald; ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen sollte. Also setzte ich micht erstmal auf einen umgestürzten Baumstamm und überlegte. Der häsliche Bursche von vorhin hat sicher längst meine Spur verloren, dachte ich. Soll ich vielleicht warten, bis es Tag wird, um dann einen Weg nach Wichtelby zurück zu finden? Aber was war, wenn es nie wieder hell werden sollte? Vielleicht war von jetzt an der Tag nur ein bisschen weniger dunkel als die Nacht?
Ich war ratlos. Und dann, im Licht der Silberscheibe, sah ich, wie rund um mich herum Gestalten schlichen, knorrig wie Baumwurzeln, und ihre Augen leuchteten tückisch. Es war, als wären sie durch die große Dunkelheit befreit worden und trauten sich nun hervor, um die Welt unsicher zu machen. Als ich all diese schaurigen Gestalten um mich herum sah, wurde mir doch ziemlich bang. Ich glaubte, sie wollten alle die Silberscheibe haben, um sie zu vergraben, genau wie der gemeine Bursche, den ich zuerst getroffen hatte. Aber ich wollte die Scheibe nicht hergeben, also blieb mir nichts übrig, als immer weiter wegzulaufen, weg von den grausigen Wesen, auch wenn ich dadurch immer tiefer in den Wald und weiter weg von zu Hause geriet. Ich lief, bis ich nicht mehr konnte. Dann blieb ich stehen und wusste nicht mehr weiter. Um mich herum waren nur Bäume sehen, schwarze Schatten in einer finsteren Höhle. Aber dann sprach einer der Schatten mich an.
`Ich glaube, du hast etwas, das mir gehört, Kleine.´
Ich erschrak fürchterlich. Ich konnte nicht mehr weglaufen. Dafür war ich zu müde.
`Was willst du mit ihr tun?´, fragte ich ängstlich.
`Wenn du sie mir wiedergibst´, sagte der Schatten, `will ich sie leuchten lassen, um die Finsternis zu vertreiben.´
Da gab ich ihm die Silberscheibe. Schattenhände nahmen sie und führten sie nach oben, und auf einmal, ich weiß nicht wie, stand sie am Himmel, und es wurde wieder heller, so, wie es sonst in der Nacht gewesen war. Die schaurigen Wesen rundum flohen zurück in die Finsternis, wo es niemals hell wird. Ich jubelte vor Freuder und Erleichterung.
`Das hast du gut gemacht, Kleine´, sagte die Silberscheibe am Himmel. `Wie heißt du?´
`Thomasin Mondschein.´
`Von nun an sollst du Thomasin Silbermond heißen´, sagte die Scheibe, und mehr sagte sie nicht.
`Danke schön´, sagte ich und machte mich auf den Weg nach hause. Er war ganz leicht zu finden, denn ich brauchte nur dem Licht zu folgen, das immer genau vor mich fiel, bis ich aus dem Wald heraus war und wieder in Wichtelby ankam. Meine Mutter und Madame Rabenschnabel und viele andere Wichtel liefen aufgeregt herum und suchten überall nach mir.
`Thomasin!´, rief meine Mutter. `Wo hast du bloß gesteckt?´ `Ich hab das Licht gefunden, das verloren wurde´, sagte ich stolz. `Und ich habe einen neuen Namen bekommen. Von nun an heiße ich Thomasin Silbermond.´
Da waren alle ganz still und schauten zum Mond hinauf und merkten, dass es nicht mehr so dunkel war.
Und seitdem heiß ich Thomasin Silbermond."
Lionel hatte andächtig und staunend zugehört.
"Du hast deinen Namen vom Mond bekommen?", fragte er und wusste nicht, ob er das glauben sollte.
"Ja, das hab ich." Thomasin schaute hinauf zur Silberscheibe am Himmel und begann ein Lied zu singen.
Liebes weißes Zauberlicht,
im großen, weiten, schwarzen
Silberblumengarten
such ich immer dein Gesicht.
Und find ichs mal im Dunkel nicht,
im großen, finster schwarzen,
darin Gespenster warten,
dass mir das Herz zerbricht,
dann schau ich tief hinein in mich
und find in meinem schwarzen
Silberblumengarten
dein liebes weißes Zauberlicht.
"Schöön", sagte Lionel und hob vorsichtig und beiläufig den Arm, um ihn um Thomasins Schulter zu legen.
"Wenn du das versuchst", sagte Thomasin gleichmütig, "muss ich dir leider den Arm brechen."
Flink zog Lionel die Hand zurück und seufzte ergeben. Er schaute hinauf zum Mond, der über den schwarzen Tannen am jenseitigen Ufer stand, und war froh, dass der da oben war.
Wo Thomasin ist, dachte Lionel, ist vielleicht auch immer der Mond. Und neben ihr ist es nie so dunkel, dass man sich fürchten muss.