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Wie schön alles war
Ein Uhr achtundvierzig ist es, als ich auf meine zerkratzte Uhr schaue. Eigentlich ein schönes Ding, nussbraunes Leder mit einem Herzstück aus Roségold. Die langen Wanderungen, ob Tag oder Nacht, Sonne, Regen oder Sturm setzten ihr jedoch gewaltig zu, ein Wunder, dass sie überhaupt noch funktioniert.
Das Mondlicht spiegelt sich weiß und gespenstisch auf dem kaputten Glas, als es durch das große Fenster des Einfamilienhauses scheint, auf dessen Dachboden ich die Nacht verbringe. Auf dem Boden habe ich mir ein provisorisches Lager errichtet, aus Matratzen, Decken, Sofakissen und was ich sonst noch so finden konnte. Ist fast gemütlich, abgesehen von dem muffigen Geruch und der nass-kalten Luft, die durch alle Ritzen des zugigen Gemäuers zu kommen scheint. Neben mir, an mein Bein gekuschelt, liegt eine Hündin, ich hab entschieden, sie Taco zu nennen. weil sie ungefähr die Größe eines Tacos hat. Auf einem meiner Streifzüge durch eine alte Tankstelle hab ich sie gefunden und einfach mitgenommen, wen stört das schon?
Mit meinen kalten Händen hebe ich die Decke, unter der ich es mir gemütlich gemacht habe, ein Stück hoch und wickle sie fester um den kleinen braunen Hund, ich will ja nicht das sie frieren muss! Die wärmenden Strahlen der Sonne verschwinden Tag für Tag schneller und machen den kalten, langen Nächten Platz, typische Herbsttage eben.
Das lauter werdende Grummeln meines Magens erinnert mich daran, dass ich bei der ganzen Hektik, einen passenden Schlafplatz zu finden, vergessen habe nach etwas essbarem zu suchen. Ich schlüpfe schnell in meine abgewetzen Doc Martens und begebe mich so leise wie möglich zur Treppe, die vom Dachboden führt. Unter meinen Sohlen habe ich ein paar dicke Socken festgeklebt, somit ist jeder meiner Schritte gedämpft und kaum zu hören, praktisch für Streifzüge durch Häuser oder Supermärkte. Im ersten Stock angekommen, wage ich einen Blick durchs Fenster auf die mondhelle Straße. Glassplitter glitzern mir dort verführerisch wie tausend kleine Diamanten entgegen, doch außer dieser wunderschönen Szenerie tummelt sich dort das wahrhaftige Grauen. Ein dutzend Gestalten, oder Infinzierte, wie auch immer man sie nennen will, stehen verteilt auf der Straße herum. Sie schwenken ihre hässlichen, verrottenden Köpfe in Richtung des Einfamilienhauses, sie riechen mich, wittern mich. Ein kalter Schauer fährt mir das Rückgrat hinab und ich ziehe meine dicke Winterjacke etwas enger um meinen dünnen Körper.
Da sich die Küche im Erdgeschoss befindet, gehe ich langsam, jeden meiner Schritte mit Bedacht gewählt, zu der Treppe, die nach unten führt. Auf meinem Weg komme ich an einem Badezimmer vorbei und beschließe, einfach mal zu testen, ob die Leitungen noch intakt sind, ich meine, schaden kann's ja nicht, oder?
Die Leitungen funktionieren noch, zwar kommt nur kaltes Wasser aus dem Wasserhahn, aber das ist mir völlig egal. Ich lasse das kühle Nass durch meine trockene Kehle laufen und wage es bei geschlossener Tür, meine Taschenlampe anzuschalten. Was mich dort aus dem großen Spiegel anschaut, bin nicht ich. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. "Was ist bloß geschehen?" flüstere ich. Meine nussbraunen Haare, filzig und voll mit Blättern, versuche ich weitestgehend mit einer Bürste in Form zu bringen. Als nächstes kümmere ich mich um mein schmutziges Gesicht, in einem der Schränke über dem Waschbecken finde ich sogar etwas Gesichtscreme, was für eine Wohltat! Vorsichtshalber stecke ich die Gesichtscreme und ein paar andere nützliche Dinge, die ich finde, ein. Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel, in meine moosgrünen Augen und betrachte meine schmale, mit Sommersprossen übersäte Nase. Der flüchtige Gedanke an meine Schwester, die gleichen moosgrünen Augen und ihr hellblondes Haar rauben mir kurzzeitig den Atem. "Mach weiter, du hast eine Mission, du suchst etwas zu essen!" flüstere ich mir zu. Ich knipse die Taschenlampe aus und begebe mich ins Erdgeschoss, die Küche liegt direkt vor mir.
Mit einem Dreihundertsechzig-Grad-Blick versichere ich mich, dass die Situation ungefährlich ist, und betrete die Küche. Der verräterische Gestank aus dem Kühlschrank verrät mir, dass ich den nicht mal aufmachen muss, nur um dann festzustellen, dass alles verrottet ist. In einer Vorratskammer finde ich ein paar Konserven und sogar ein bisschen Katzenfutter, Taco wird sich freuen! Ich berühre den glänzenden Knauf einer der Schränke, um eine Schüssel herauszuholen und muss unweigerlich an die Familie denken, die hier einmal gelebt hat. Vermutlich haben sie hier in der Küche zusammen gekocht, Partys gefeiert und Streits ausgetragen. Der Gedanke, dass sie vermutlich alle tot sind, lässt meine Augen glasig werden.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und ausbreitender Schwärze in meinem Kopf in Form der alltäglichen Melancholie schleiche ich hoch zu Taco. Als sie mich erblickt, fängt ihr kleiner Schwanz an zu wackeln und sie streckt sich ausgiebig. "Schau mal, was ich für dich hab", sage ich zu ihr und schütte etwas Katzenfutter in die erbeutete Schüssel. Ich selbst öffne mir eine Konserve mit eingelegten Birnen, ich schließe die Augen und beiße beherzt in eine der süßen Birnen. Bilder von Obstbäumen in der gleißenden Sonne, emsigen Farmern und einem Regenbogen am Himmel tanzen vor meinen Augen. Wie schön alles doch mal war.