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Wie man niemals warten sollte

Beitritt
08.10.2001
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32

Wie man niemals warten sollte

Der nächste Tag:
Ein Druck im Hinterkopf stand zur Selbstdiagnose frei:
Eindeutig Gehirntumor.
Therapie: nicht möglich
aber trotzdem:
Viel Vitamin C.
Prognose: Tod in ca. einem Jahr.
Das waren ja gute Aussichten, er schluckte eine Aspirin 100 plus C und wartete auf Besserung, die auch bald eintrat, spülte ein paar Töpfe in der Küche und wartete.
Wartete:
Auf den nächsten Tag!
Die nächsten fünf Wochen:
Er stand am Fenster seiner Küche und hörte das Ei brutzeln, dass er soeben in die Pfanne gehauen hatte. Manchmal, wenn sich etwas Luft unter dem halbgebratenen Eiweiß gesammelt hatte und nach oben entwich, knackte es so laut das er sich umdrehte um nach dem Rechten zu sehen.

„Alles in Ordnung?“

fragte er und das Ei knackte erneut als wolle es zustimmen. Soweit war es nun also gekommen, er sprach mit Eiern und noch dazu mit solchen die gerade gebraten und danach von ihm verschlungen werden. Und während er das dachte, sagte er.

„Bild Dir bloß nicht ein wir könnten Freunde werden, du Ei du. Du weißt was geschieht...!“

Er dachte kurz nach, eine seiner Stärken und sagte:

„Ach nein! Woher sollst Du denn wissen was gleich geschieht. Ist ja Dein Debut hier als Spiegelei. Na gut, dann will ich Dir mal sagen was mit Dir geschieht!“

Er drehte sich schwungvoll zur Pfanne, beugte seinen Kopf tief nach unten über das brutzelnde Ei und schrie:

„Gleich werde ich Dich in Curryketchup ertränken und dann völlig ohne Mitgefühl weghauen, du beschissenes Ei, Du. In meinen Mund wird Dir mein Speichel die ersten Kohlenhydrate qualvoll spalten.“

Wieder dachte er kurz nach.

„Ach nein! Die besitzt Du ja gar nicht. Nicht einmal das besitzt Du. Wer bist Du überhaupt. Mein Rachen wird dich ohne Mitgefühl schlucken und meine Speiseröhre wird dich nach unten in meinen Magen treiben indem es Dich quetscht und quetscht und quetscht. Ja und dann geht’s erst so richtig los. Ja. Dann werden Dich meine Magensäfte verätzen und Du wirst rumgeschaukelt und wieder gequetscht und noch mal gequetscht und dann im Dünndarm weiter verätzt und gequetscht. Schließlich saugt mein Dickdarm Dir das Wasser raus und Du bist nichts weiter als ein Stück Scheiße. Du Stück Scheiße. Und weißt Du was man mit Scheiße macht? Nein, das weißt Du natürlich nicht. Man quetscht sie raus und schickt sie in unterirdische, feuchte Katakomben wo sie vermodern. So! “

und das Ei knackte erneut mit einem quälend zischenden Ton, so als hätte es furchtbare Angst. Als würde es um sein Leben flehen. Und es knackte und zischte immer heftiger und lauter.

„Komm mir jetzt nicht auf die Tour. Mitleid zieht nicht! Ich hab verdammt noch mal Hunger!“

Das Ei zischte erneut mitleidig und langsam begann er an sich zu zweifeln.

„Man was machst Du mit mir? – Ich darf jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Hey, wenn Du mich wirklich verstehen kannst, dann knack jetzt mal oder zisch oder irgendwas. Und mach jetzt bloß keinen Unsinn. Langsam bekomm ich es echt mit der Angst zu tun!“

Doch das Ei schwieg und er war zugleich erleichtert aber auch traurig. Erleichtert nicht völlig zu spinnen und etwas traurig das man ihn wieder einmal nicht verstanden hatten. So wie es immer und überall war wenn er sprach. Mit dem Pfannenheber hievte er das Ei auf einen Teller, ertränkte es wie angedroht in Curry Ketchup und nahm die erste Gabel in den Mund mit einem etwas seltsamen Gefühl.

„Na toll jetzt hast du mir den Appetit verdorben. Scheiß Ei!“

sagte er und warf das restliche Ei in die Toilette.

„Na dann, ein schönes Leben noch!“

sagte er und drückte ab. Er war nun nicht einmal mehr in der Lage ein Ei zu braten und es zu essen. Und so etwas war für einen einsamen Junggesellen wie ihn eigentlich lebensnotwendig.

„Ach scheißegal!“

sagte er setzte sich erneut in die Küche schaltete das Radio auf dem Kühlschrank ein und zündete sich eine Zigarette an hörte zu. Die Radiomoderatorin begann zu sprechen.

„Auch heute gingen wieder 10tausende Menschen bundesweit auf die Straßen um für den Frieden zu demonstrieren. Am häufigsten zu lesen auf den Transparenten der Demonstranten war die Parole „Kein Blut für Öl!“!“

„Kein Blut für Bier!“

sagte er zynisch und dachte dabei an einen Zwischenfall am letzten Wochenende. Die Moderatorin kicherte kurz, fing sich gleich wieder und fuhr in ihren Nachrichten fort. Er schluckte kurz und bekam es nun wirklich mit der Angst zu tun. Erst das Ei und jetzt die Radiomoderatorin. Er hörte die Nachrichten zuende ohne sich zu trauen auch nur zu atmen. Was wenn sie ihn wirklich gehört hatte. Zumindest hatte sie gelacht und das war ein gutes Zeichen.

„Wenn du eine Frau zum Lachen bringen kannst hast du sie schon fast in der Kiste, mein Sohn!“

hatte sein Vater einmal zu ihm gesagt. Und die Radiomoderatorin hatte gelacht.

„Sex!“

sagte er leise und nachdenklich vor sich hin, blickte zu Boden und legte den Zeigefinger über seine Lippen. So verharrte er zirka 30 Sekunden, blickte dann plötzlich in die Höhe, sprang von seinem Stuhl auf und schrie:

„Sex!“

So als sein ihm ein Licht aufgegangen. Als stünde ihm etwas bevor. Es war schon ewig her das er das letzte mal so geflirtet hatte und wenn es stimmte was ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben hatte war seine jahrelange Einsamkeit nun vielleicht bald vorbei. Er würde es tun. Diesmal musste er es durchziehen.

Zu jeder vollen Stunde saß er nun am Radio und lauschte der Radiomoderatorin, immer kurz davor einen lustigen Spruch zu reisen um sie zum Lachen zu bringen, doch er fand die Gelegenheit nicht. Er schwieg. Er beherrschte sich sogar nicht zu husten oder zu laut zu atmen. Das ging fünf Wochen so, der Krieg war vorbei und nie wieder hatte er die Radiomoderatorin kichern hören. Es musste also er gewesen sein, der sie zum Lachen gebracht hatte, wer sonst. Wenn es irgendein Aufnahmetyp oder ein Co-Moderator gewesen wäre, der sie damals zum Lachen gebracht hatte, dann hätte sich die Situation in diesen fünf Wochen bestimmt wiederholt. Es war er gewesen. Sicher. Und wenn er schon mit Eiern kommunizieren konnte warum also nicht auch mit Frauen, na gut, mit Radiomoderatorinnen. Vielleicht wartete Sie auf ein Zeichen von ihm. Vielleicht lag sie jede Nacht alleine wie er im Bett und dachte an ihn, an den lustigen Zuhörer mit der sympathischen, erotischen Stimme.

Die 18 Uhr Nachrichten standen kurz bevor.

„Nur Mut. Ruhig Blut, Junge! Ruhig Blut!“

Beruhigte er sich. Diesmal würde er es durchziehen, keinen flapsigen Spruch, nein, er würde sie direkt ansprechen und ihr seine Liebe gestehen. Das konnte nicht so schwer sein.

„Ding Dong.“

Tönte es aus dem Radio.

„Hier sind die 18 Uhr Nachrichten mit Dagmar Müller!“

zugegeben ihr Name war nicht gerade Musik in den Ohren, aber diese Stimme und das sie über Manni lachen konnte machten sie zur perfekten Frau. Für ihn.

„Berlin: Im Bundestag sprach sich heute Angela Merkel über die bevorsthende....“

„Hör zu Dagmar,“

setzte Manni an,

„ich weiss das du mich hören kannst und das du mich für einen amüsanten Draufgängertyp hältst, der immer im richtigen Augenblick einen guten Spruch reist. Doch so einer bin ich nicht. Ich bin einfach nur allein und ich liebe Dich und bitte gib mir jetzt ein Zeichen!“

„...dabei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Autonomen. Die Polizei nahm ....“

„Dagmar brich mir nicht das Herz, gib mir ein Zeichen. Kicher bitte einmal so wie damals oder sag mir wo du wohnst. Beschreib Dich, irgendwas.“

„..... ist heute Nacht ein Kleintransporter in eine Automenge gerast. Der Fahrer hatte das Stauende nicht erkannt. Niemand kam zu Schaden. Die Polizei schätzt den Sachschaden auf ca......“

„Dagmar lass dich gehen. Vergiss all die Leute die dich jetzt hören, denk an mich, an uns. An unsere Zukunft. Ich werde Dich auf Händen tragen, wirklich. Bitte, du brichst mir das Herz wenn Du mir jetzt kein Zeichen gibst. Verstehst Du? Mein Herz!!“

„....im Herzzentrum der Städtischen Kliniken Heidelberg an den Folgen eines Herzinfarkts. Er war durch seine langjährige ......“

Da war es. Das musste ein Zeichen gewesen sein.

„Dagmar das kann nicht alles gewesen sein. Sag einfach Ja oder kicher wenn du mich hören kannst.“

„.... Nun das Wetter!“

„Schlampe!“

schimpfte er zündete sich mal wieder eine Zigarette an und beschloss nie mehr ein Wort mit Dagmar Müller zu wechseln. Alles was er jetzt noch konnte:
Warten:
Auf den nächsten Tag!
Der nächste Tag:
Der verkrustete Elektro-Ofen brummte und heizte was der Starkstrom hergab um seine Western Pizza von Wagner zu backen. Wie immer waren die Ränder schwarz verbrannt, in der Mitte der Pizza hatte sich ein tiefes Tal mit siedenden Fett gebildet. Und wenn er die Mitte der Pizza mit dem kleinen Finger langsam durchstieß, so hatte er erst das Gefühl der Finger würde ihm frittiert werden. Erst einen Zentimeter darunter, direkt im Epizentrum der Pizza, ließ der Schmerz bei der Berührung mit kühlschrankwabbeligkalten Pizzateig nach. Er zog den Finger heraus, was hatte er dort auch zu suchen, lutschte ihn kurz ab und sah sich einmal mehr seiner größten Herausforderung des täglichen Junggesellendaseins gegenüber:
Warten:
Auf den nächsten Tag!
Der nächste Tag:
Er bewegt sich nicht. Nicht nach hinten, nicht zur Seite und auf keinen Fall nach vorn. Es ist dunkel und es schneit. Wenn er die Vorhänge hochzieht vor seinem Fenster ist es als würde der Theatervorhang geöffnet und auf der Bühne liegt er und bewegt sich nicht. Er weiß genau das alle Nachbarn darauf warten das sich bei ihm die Vorhänge öffnen und man ihm beim Nichtbewegen zusehen kann. Wie er einfach nur daliegt. Manchmal sieht er ein Staubkorn an sich vorüberfliegen wenn sich ein Wintersonnenstrahl durch die matten Fensterscheiben in sein Theater verirrt hat. Er zählt die Deckendielen und sucht nach Furniergesichtern. Er Prüft jeden Gegenstand in der Nähe. „Der Tisch!“ denkt er und prüft: „Sehen, Fühlen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht hören!“ „Die Wasserflasche. Sehen, Fühlen, nicht riechen, bedingt schmecken, nicht hören!“ Er weiß nicht ob er die Flasche auch schmecken kann. Grundsätzlich kann man ja alles schmecken wenn man sich dazu überwindet. Sogar wenn er sich jetzt bewegen würde und am Tisch lecken würde hätte er vielleicht Geschmack. Die Nachbarn blicken neugierig in sein Theater, das weiß er ganz genau. Er bewegt sich, was gar nicht in sein Theaterstück passt. Dem Publikum stockt der Atem vor Spannung. Er kniet sich vor den Tisch streckt die Zunge heraus und leckt am Tisch. „Was macht der da schon wieder?“ denkt sich sein Publikum und sieht ihn Notizen machen. „Leicht salzig, fast geschmacksfrei. Klebrig!“ schreibt er auf einen Zettel und klebt ihn an den Tisch. Er geht zum Fernseher, streckt erneut die Zunge raus. Das Publikum lacht und schüttelt den Kopf. „Kristallig, staubig, erneut salzig. Fad neutral. Glas.“ Schreibt er und klebt. Er zieht stellvertretend für alle Bücher eins aus dem Regal und leckt daran. „Pelzig neutral. Papier!“ . Der Schrank „Überraschend säuerlich, fast interessant. Kurzer Nachgeschmack!“ Er leckt erneut am Schrank. Die Lampe „Siehe Fernseher!“ Das Bett „Extrem fusselig, salzig. Unangenehm!“ Die Computertastatur „Völlig geschmacksfrei!“ Die CD „Glatt. Sehr kurzanhaltender aufblitzender undefinierbarer Geschmack!“ Dann legt er sich wieder auf die Bühne und bewegt sich nicht. „Und hab ich was versäumt?“ fragt einer aus dem Publikum „Ja der hat grade die ganze Wohnung abgeleckt und beschriftet!“ „Warum?“ Der Zuschauer zuckt mit den Achseln. „Und was macht er jetzt?“ Der Zuschauer verzieht das Gesicht und grinst: „Er wartet!“
Warten:
Auf den nächsten Tag!

 

hi,

ich nochmal: je öfter ich die geschichte lese, desto mehr kippe ich da hinein. sie ist irgendwie so galsklar ...

das ist so genial, wie er sich zuerst von dem ei provozieren lässt ... dann die affäre mit dagmar ...

"... Und wenn er schon mit Eiern kommunizieren konnte warum also nicht auch mit Frauen, na gut, mit Radiomoderatorinnen ... " ... meine absolute lieblingsstelle.

und: wer leckt nicht hie und da mal an einrichtungsgegenständen? bietet identifikationsfläche, die story ... WEITER SO :D

 

Hallo du,


ich muss auch sagen, dass ich von deiner Geschichte begeistert bin. Kann mich dem Vorredner nur anschließen, eine echte Fundgrube an Ideen und Kreativität. Alles sprudelt und ist dennoch stimmig, alle Erzählstänge lösen sich gegen Ende auf. Eine echte Meisterin, diese Wenigschreiberin.

Gruß

- S -

 

hi,

:dagegen: bin ich nicht, im gegenteil!!!:D
:huldig: vor deiner phantasie, schreibeskunst

:read: deiner story hinterlässt bei mir ein
undefinierbare emotion-mix :crying: :lol:

thanx
:cool:

 

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