Wie lange noch?
Wie lange noch?
Klack.
Wieder fraß die Uhr ein Stück der Zeit, die obwohl endlos, für einen jeden begrenzt und doch für alle gleich zu sein scheint. Laub wird durch einen Wirbel nach oben gezogen. Eine alte Zeitung schmiegt sich durch den Wind an einen Papierkorb. Verweilt kurz und setzt seinen Weg fort. Nachrichten von gestern, die eben noch die Welt bewegten: Enthüllungen, Skandale und Börsennotizen. Uninteressant, es gibt Neues, noch unglaublicher, noch wichtiger, noch dringender. Er sieht auf die Gleise. Beobachtet die Zwischenräume. Manchmal gelingt es ihm eine Maus oder doch eher eine Ratte zu entdecken. Heute hat seine Jagd kein Erfolg. Nur verglühte Zigarettenkippen, Taschentücher und Dinge die zu deuten er kein Interesse hat.
Klack.
Schier ewig lässt der Zug auf sich warten. Ein alter Mann sitzt auf einer wohl noch älteren Bank. Das schmierige Fenster der Bahnhofshalle lässt die Gesichtszüge verschwimmen. Auch so wird die Last der Zeit auf den Schultern des alten Mannes sichtbar. Die Zigarre glimmt auf, Rauch bricht sich an der Hutkrempe, die der alte Mann weit in die Stirn gezogen hat. Weitere Personen warten. Ein jeder trägt seine Geschichte. Genug, um manch Abend zu füllen. Jetzt führen alle Stränge hierher. Hier sind sie alle gleich. Ob gerade vom Lebenspartner getrennt, auf dem Weg nach Hause, zu einem Freund. Aus dem Wettbüro, wo die letzten Münzen des Monatsgeldes auf den sicheren Tipp gingen. Die Besprechung, die entscheidend für Umsatz sorgen wird, denn die Zeiten sind schlecht, es ist Herbst.
Klack.
Die Gleise erstrecken sich bis in den Horizont, kein Zug, die Zeit vergeht. Kühl, ja es wird kühler. Ein Zeitgenosse hat dies wohl nicht bemerkt. Ganz hinten, zwischen der antiken Waage und dem Stahlträger. Den zerkratzten Koffer aus braunem Leder an dem Griff haltend, sitzt er in sich eingefallen, die Augen geschlossen, die Beine leicht von sich gestreckt. Sein Bauch spannt den Knopf seiner Weste. Lange wird sie dem nicht standhalten. Die Schuhe tragen tiefe Falten und auch die anscheinend liebevolle Pflege kann kaum verbergen, dass ihre besseren Tage lange hinter ihnen liegen. Armer Kerl. Hat wohl viel in seinem Leben mit Warten verbracht. Als Kind, wenn seine Mutter ihn beim Einkaufen in eine Ecke gestellt hat, mit den Worten, er solle hier auf sie warten. In der Schule, als seine Mitschüler ihn in der Umkleidekabine einsperrten und niemand ihn zu vermissen schien. Bei seinem Militärdienst, eine vergammelte Scheune bewachend, da sich dafür sonst keiner finden ließ. Seine Gedanken umkreisten den Mann auf der Bank, als sie durchbrochen wurden von einem mächtigen:
Klack.
Armes Schwein, dachte er sich. Mit dem würde er nicht tauschen wollen. Er....
Knack.
Ein Geräusch aufbrechenden Chitins. "Iiihhh, Mami, ich bin auf eine Kakerlake getreten!", kreischte ein kleines Mädchen zu seiner Mutter.
Wieder ein Leben dahin. 207 an der Zahl. Wie viele Reinkarnationen sind noch nötig bis der Zug kommt. Und der Mann auf der Bank wartet noch immer. Tot, aber seine Seele gefangen auf diesem Bahnhof.