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- 10.11.2003
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Wie Jakob, der Pilz, zu seinem Namen kam
Im Wald waren plötzlich Stimmen zu hören und Jakob erschrak nicht wenig. Die ganze Nacht hatte er sich mächtig angestrengt, ein Ahornblatt von seinen Schultern zu werfen und war vor Müdigkeit wohl für einen Augenblick eingeschlafen. Und nun dieser Krach und diese Rufe! Das hatte er doch schon einmal gehört, oder? War das gestern, als auch jemand so durch den Wald geschrien hatte? Oder war das schon vorgestern?
Auf jeden Fall war es genau so ein Morgen gewesen. Wie damals stand er auch jetzt an der gleichen Stelle, nur fehlten diesmal seine Mutter und alle seine Brüder. Aber er sah sie noch im Geiste: Sie standen vor ihm und schauten den Berg hinunter, schweigend und andächtig. Bis eben der Krach losging und Mutter etwas vor sich hin murmelte, was Jakob leider nicht verstand.
Er war deswegen nicht besorgt gewesen, denn erstens verstand er seine Mutter nie, wenn sie etwas sagte, und zweitens schien es auch seinen Brüdern nicht anders zu ergehen, denn sonst wären sie bestimmt nicht da stehengeblieben, oder?
Und so kam, was kommen mußte: Sie wurden gepflückt. Einfach so, Jakob hat es genau gesehen: Erst kam Krach, dann Stimmen. Sie kamen immer näher.
„Hey, das sind ja Pilze!“
„Wo? Ich sehen keine!“
„Da!“
„Wo, da?“
„Du mußt dich bücken, Jakob!“
Jakob, der zu dem Zeitpunkt noch nicht so hieß und auch nicht wußte, daß er ein Pilz war, schaute einmal nach links und einmal nach rechts. Er wollte sehen, wer mit Jakob gemeint sein könnte. Aber er sah niemand, auch seine Mutter und seine Brüder standen nach wie vor da wie angewurzelt, sagten kein Wort.
„Das bin ja ich“, dachte der kleine Pilz, „außer mir ist ja sonst niemand da!“
Und als ob er die Richtigkeit seiner Überlegung überprüfen wollte, bückte er sich ein wenig. Na ja, vielleicht bückte er sich gar nicht, vielleicht dachte er nur, daß er das tat, weil ihm nämlich just in dem Augenblick ein kleiner Ast samt ein paar Blättern auf den Kopf fiel, so daß er fast ins Wanken geriet. Aber er blieb trotzdem stehen. Jawohl! Obwohl er nur auf einem Bein stand.
Leider mußte er seine Heldentat teuer bezahlen: Er mußte zusehen, wie jemand seine Mutter und seine Brüder pflückte und mitnahm. Einfach so! Eine Hand kam und ergriff seine Mutter und zerrte sie hoch. Natürlich wehrte sie sich, aber die Hand war stärker, hob die Mutter samt dem Bodenbewuchs, an dem sie sich festhielt, hoch, so daß selbst seine Brüder ein wenig in Bewegung gerieten. Dann jedoch ließ die Mutter los, wohl damit ihre Kinder nicht mitgerissen würden. Es nütze nicht viel, leider, die Hand kam wieder und immer wieder und holte alle seine Brüder. Einer nach dem anderen verschwanden sie in die Höhe, und Jakob dachte schon, auch er würde dran glauben müssen.
Doch er wurde nicht geholt.
Plötzlich kam keine Hand mehr, nur Stimmen waren noch zu hören und ab und zu erzitterte der Boden unter ihm. Dann wurden die Stimmen langsam leiser, und bald sangen die Vögel wieder wie zuvor.
Es wurde ein schöner Tag - der erste im Leben des kleinen Pilzes -, doch er wußte das nicht zu würdigen, er mußte ja immerzu daran denken, was er früh morgens gesehen hatte. Gut, er war von Blättern fast ganz bedeckt gewesen und konnte nicht alles sehen, aber das, war er sehen konnte, erschütterte ihn zutiefst. Allein wie seine Mutter sich gewehrt hatte! Und dann seine Brüder, die kaum Widerstand leisten konnten! Natürlich, der eine oder andere ließ sich nicht so ohne Weiteres mitnehmen, aber im Grunde war alles Wehren zwecklos, und Jakob zweifelte nicht daran, daß auch er nichts dagegen hätte tun können, falls er entdeckt worden wäre.
Aber er wurde nicht entdeckt! Weil er gewarnt worden war! Hätte nicht jemand – war das seine Mutter oder einer seiner Brüder gewesen? - ihm laut zugerufen, daß er sich bücken sollte, er hätte sich nicht rechtzeitig unter den Blättern verstecken können.
Immerhin, er wußte jetzt, wie er hieß: Jakob. Der Name gefiel ihm. Ja, durchaus. Nur Schade, daß er die Namen seiner Brüder nicht wußte.
Aber was war das? Die Vögel sangen nicht mehr und der Boden zitterte. Und da, waren das nicht die gleichen Stimmen? O nein, sie kamen näher!
„Jakob, schau!“
Jakob schaute hoch und sah zuerst ein Gesicht, dann erzitterte der Boden erneut und ein zweites Gesicht zeigte sich.
„Der war aber gestern noch nicht da!“
„Doch, wir haben ihn bloß nicht gesehen!“
„Einen so großen Pilz übersieht man nicht!“
„Ja, aber gestern war er noch klein. Hat sich sicher unter diesem Ast versteckt.“
„Versteckt? Pilze können sich nicht verstecken!“
„Natürlich nicht, Jakob. Sie können auch nicht davonlaufen. Trotzdem …“
Als Jakob, der ganz still da stand und zuhörte, seinen Namen hörte, wollte er wegrennen, aber dann kam leider schon die Hand und ergriff ihn. Nach einer kurzen Gegenwehr wurde er in die Höhe gehoben und in einen Korb gelegt. Als er sich ein bißchen vom Schreck erholt hatte, merkte er, daß da schon andere lagen, die genauso aussahen wie seine Brüder, einer oder zwei sogar wie seine Mutter.
Das verwirrte Jakob so sehr, daß er nichts sagte und nur still dalag wie die anderen. Sollen doch die anderen was sagen, dachte er, wenn sie wirklich meine Brüder und Mütter sind!