Wie ich zum zweiten Mal Vater wurde
wie ich zum zweiten mal vater wurde
Wie ich zum zweiten mal Vater wurde.
„Pressen!“
Ein gellender Schrei wird von dem gegenüberliegenden Gebäude zurückgeworfen und pflanzt sich als Echo in der Universitätsstraße zwischen den Gebäuden der Frauenklinik, der Anästhesie, Rechtsmedizin, experimentellen Pharmakologie fort.
„Noch mehr pressen. Gut.“
Ich beiße die Zähne zusammen, denn ich bin ein wenig wehleidig, nicht sehr kräftig und rauche selbstgedrehte Zigaretten, weswegen meine Lungenfunktion sicherlich hinter den Normwerten meines Alters zurückbleibt. (Zwischen 30 und 40 jährige Männer gelten im Theaterbetrieb aber noch als Nachwuchstalente und sind die jungen Wilden unter den Regisseuren.).
„Weiter pressen.“, schreit Achim und ich schreie auch.
„Weiter atmen!“ brüllt er mich an.
Ich presse mit aller Kraft.
Der Kopf ist gar nicht das Problem, es sind die Beine. Ach, der Kopf, - der Kopf ist das geringste, den habe ich schon mehrmals hinein und hinaus bekommen.
„Und weiteratmen. Tief einatmen.“
Achim steht mir in meiner schweren Stunde zu Seite, er hat Erfahrungen mit kritischen Lebensereignissen: Er ist Boxer, Kinovorführer in einem Programmkino, Historiker mit dem Schwerpunkt Politische Propaganda, Ikonographie und Diktatur unter besonderer Berücksichtigung des Kinos als Instrument der Massenkommunikation und Manipulation und er ist derzeit arbeitslos.
Wir stehen an der Baby – Klappe der Frauenklinik und drücken mit aller Gewalt einen großen schlanken Körper in den Schacht. Immer noch schauen ein Arm und die Beine raus.
Wir drücken und pressen, Joscha schreit wie bei einer Geburt. Es ist unser dritter Versuch.
„Also so geht es nicht, als ganzes bekommen wir ihn nicht hinein. Wenn wir ihn nach der Wiener Teilung zerlegen, könnten wir ihn ein schlichten.“ Achim versteht sich auch aufs Zubereiten von mehrgängigen Menus, er besitzt etwa 34 Küchenmesser, und hat mehrere Heiratsanträge, die ihm wegen seiner legendären Vanillesoße gemacht wurden, bisher negativ beschieden.
Joscha ist deutlich gegen die Wiener Teilung, wenn dann bevorzuge er die französische Teilung. Ich neige dazu, sich erst in der gegenüberliegenden Rechtsmedizin zu erkundigen, ob man sein Kind auch portionsweise anonym in der Babyklappe abgeben darf oder ob der Nachwuchs als ganzes geliefert werden muss. Wir diskutieren das aus.
Neben uns stehen die kleine Annelie und die große Annelie, sowie Bastian, Freunde von Joscha. Sie leihen sich ein Feuerzeug und rauchen eine Zigarette.
„Du, Papa, vielleicht bin ich einfach zu groß. Vielleicht geht das jetzt nicht mehr.“
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen.
„Du hättest dir das früher überlegen müssen.“ fügt Joscha sehr schüchtern hinzu.
Vor siebzehn Jahren hatte ich schulterlange Haare, demonstrierte gegen Wackersdorf und war überzeugt, dass natürliche Verhütungsmethoden prima seien. Wir, meine Freundin und ich, hatten jahrelang keine Schwangerschaft. Jahrelang. Wirklich, ich empfahl die Ei-Sprung-Termin-Temperarturmess-und-ein-bisschen- Risiko- ist-immer- dabei- Methode auch meinen Freunden weiter.
So wurde ich mit 21 ein junger Vater, meine Freunde zogen bald nach und wir waren sehr viel auf den Spielplätzen der Stadt unterwegs. Nach 9 Jahren Beziehung, vier ohne Kind, fünf mit Kind trennten sich meine Freundin und ich. Sie übernahm das Kind und ich die Unterhaltskosten. Sie wohnte in Niederbayern und ich in Franken. Wir sprachen beide Hochdeutsch und die Frage, mit welchem Dialekt unser gemeinsamer Junge kulturisiert werden sollte, war glücklicherweise nie unser Konfliktstoff.
Jetzt wollte das Kind bei mir wohnen, um hier zu einer weiterführenden Schule zu gehen. Irgendwas mit Gestaltung und Kreativität. Wie grauenhaft.
Ich wollte meine Verantwortung gern an eine städtische Fürsorgeanstalt abgeben und Achim hatte sich bereit erklärt mir zu helfen. Schließlich kenne er sich mit Krisensituationen aus und er sei Boxer, das helfe in vielen Situationen, denen sich gewöhnliche Intellektuelle nicht gewachsen fühlen.
„Ich kann dich dann auch mal von der Uni abholen.“
Bloß nicht.
Seit dem Sommer 2002 bin ich alleinerziehender Vater. Und eine meiner neuen täglichen Erfahrungen ist der Umgang mit der Frage: Wo sind meine Feuerzeuge?