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Wie ich es schaffte, Sissi in meiner Wohnung einzuquartieren
Manchmal verlaufen Wasserrohre nicht hinter der Wand. Aber ich hatte keine Lust, Sissi darauf hinzuweisen. Mir gefiel, wie sie in ihrem Blaumann über dem Holzboden robbte und den Nagelversenker ausprobierte. Sie sah hübsch aus mit ihren vor Begeisterung geröteten Wangen. Die Wände hatte sie halbhoch mit Folie abgeklebt, jetzt mussten nur noch einige Nägel verschwinden, damit wir mit dem Parkettschleifer loslegen konnten.
Der Hammer wirkte in ihrer kleinen Hand überraschend schwer. Anfangs waren ihre Schläge unsicher. Schnell lernte sie richtig zu treffen. Ein Nagel nach dem anderen verschwand im Boden. Sie war fast fertig, als es klingelte. Der Nachbar von unten führte uns aufgeregt in seine Wohnung. Im Schlafzimmer zeigte er zur Decke. Noch nie hatte ich einen Wasserfleck so schnell wachsen sehen. Sissi hatte versteckte Bodenrohre getroffen. An vier Stellen gleichzeitig, wie man mir Wochen später beim Wechseln der Bohlen verriet, aber da wollte ich es nicht mehr wissen.
Sissi heulte, als sie hörte, dass sie nicht einziehen konnte. Ich kochte ihr im Baustellendreck eine Tasse Kakao, um sie zu beruhigen. Sie trank in vorsichtigen Schlucken, sichtlich erschöpft.
„Der ganze Holzboden muss geöffnet werden. Dein Vermieter glaubt, dass es mindestens eine Woche dauert.“ Sissi war so fertig gewesen, dass ich für sie die Telefonate geführt hatte.
„Und wo soll ich hin? Ich dachte, ich könnte übermorgen hier einziehen.“ Sie sah wirklich verzweifelt aus.
„Du kannst bei mir wohnen.“ Ich besitze ein Gästezimmer, in dem sich nur ein Aquarium und ein Bett befinden.
„Bei dir? Eigentlich sollte ich Jan fragen“, setzte Sissi schnell nach. Aber ich wusste, das war nur Rhethorik. Ihr Liebster war seit über einer Woche verschwunden. Nicht zum ersten Mal übrigens, aber normalerweise tauchte er nach zwei Abenden mit schlechtem Gewissen und Tankstellen-Blümchen wieder auf. Ich war mir sicher, dass Sissi keinen Schlüssel zu seiner Wohnung besaß.
„Oh, Thomas, ich weiß gar nicht, wo ich meine ganzen Kartons lassen soll.“ In einer Nachtaktion hatten wir all ihre Sachen in Bananenkisten verpackt und in ihrer WG wartete schon der Neue auf die Räumung des nicht gerade kleinen Stapels.
„Du weißt doch, bei mir ist genügend Platz. Du kannst ein eigenes Zimmer haben.“
„Macht es Dir denn wirklich nichts aus? Ich möchte Dich nicht von Deiner Arbeit abblenken. Du hast mir schon beim Renovieren so viel geholfen.“
Ich fand es niedlich, wie sie sich wand. Aber schließlich hörte sie auf mit ihrem Thomas-ich-kann-das-nicht-annehmen und folgte mir in meinen Bulli, der unten vorm Haus stand.
Wir fuhren als erstes zu ihrer WG und räumten die Kartons ins Auto. Unterwegs hielt ich an einem Pizzaservice.
Bei Kerzenlicht aßen wir später in meiner Küche. Ich hatte noch ein paar staubige Kerzen gefunden. Während sie an ihrer Spinaci knabberte, bezog ich im Gästezimmer das Bett neu. Ich legte meinen alten Steiffbären aufs Kopfkissen. Er trägt immer noch die rote Hose, die meine Mutter ihm gestrickt hatte. Und bisher fand fast jede Frau meinen Stoffkumpel niedlich. Aufs Bettschränkchen stellte ich ein Glas Wasser, falls Sissi nachts Durst bekam und nicht den Kühlschrank fand.
Sie schlief bis zum Nachmittag.
Ich war mit ein paar Tabellen beschäftigt, als ich hörte, wie sie aufstand, um auf Toilette zu gehen. Dann huschte sie in mein Arbeitszimmer. Sie stand dort in ihrem Nachthemd und sagte „Hi Thomas.“ Dann lieh sie mein Telefon und legte sich wieder ins Bett.
Als ich später aufs Klo musste, telefonierte sie noch immer. Heimlich ließ ich die Tür ein paar Zentimeter auf stehen, so dass ich hören konnte, worüber sie sprach. Ich dachte, sie spräche über ihr Ausweichquartier und den netten Freund, der ihr dazu verholfen hatte. Aber nein, in endlosen Schleifen debattierte sie mögliche Aufenthaltsorte von Jan.
Ich hatte keine Lust, auch noch den Abend am Computer zu verbringen und klopfte an Sissis Tür.
„Magst Du heut Abend zur Kleinmesse gehen? Ein bißchen Aufmunterung könnte uns nicht schaden.“
„Eigentlich mag ich Kirmes überhaupt nicht“, sagte sie.
„Ich ehrlich gesagt auch nicht“, log ich. Aber wenn ich ihr zustimmte, könnte ich sie leichter überzeugen.
„Na, dann lass uns grad deswegen gehen!“, rief sie betont munter und lief ins Bad, um sich noch etwas fertig zu machen.
Eine Stunde späte bereute ich meinen Vorschlag. Nicht wegen dem engen Gedränge oder den firligen Lichtern, sondern weil Sissi jeden zweiten Satz mit Jan anfing. Wir waren Autoskooter gefahren und im Riesenrad war mir beinahe schlecht geworden, aber nichts hatte ihre Gedanken unterbrochen. Sie sah ihren Liebsten in zufälligen Details: in dem blonden Kurzhaarschnitt eines kleinen Jungen, der seinen Anorak gerade mit Eis bekleckerte oder in einem Rucksack, den auch Jan besaß. Dann fragte sie mich, was ich ihr raten könnte oder sie schwärmte von Jans Talenten und was für ein zärtlicher Mann er war. Ich konnte es nicht mehr hören. Wer half ihr beim Umzug, wer hörte sich tapfer ihre stundenlangen Monologe an?
„Jan liebt dich nicht“, sagte ich brutal in ihr erschrockenes Gesicht. „Er ist ein kleiner Egozentriker, er interessiert sich nur für sich selbst.“ Und als sie nicht antwortete, fuhr ich fort:
„Er macht, was ihm gerade einfällt. Und manchmal passt Du in sein Programm. Aber darüber hinaus bist Du ihm scheißegal.“
Für einen Moment war sie still, dann fing sie an, Jan zu verteidigen. Gegen Liebe ist kein Kraut gewachsen. Ich verstehe die Mädels nicht, sie scheinen immer die Typen zu lieben, die am wenigsten für sie tun. Eine Frau wie Sissi hätte ich niemals gleichgültig behandelt, aber wenn ich Glück hatte, würde sich dieser Lustknabe die nächsten Wochen sowieso nicht melden und ich hätte Zeit, Sissi von meinen Qualitäten zu überzeugen.
Später stiegen wir in die Geisterbahn. Die Sitze waren eng und es fehlten lustige Geister. Das ganze Ding entpuppte sich als Achterbahn für Schüchterne und Sissi drängte sich näher an mich und endlich durfte ich sie im Arm halten, zitternd. Als wir ausstiegen, vergaß sie, dass ich sie immer noch fest hielt. Wir probierten blaue und rosa Zuckerwatte, bissen in klebrige Paradiesäpfel und später waren Sissis Mund vom Wein so rot und ich hatte große Lust, ihre aufgesprungenen Lippen zu küssen.
Wir hatten beide keine rechte Lust nach Hause zu gehen und als sie später im Nachthemd auf meiner Couch saß, bedankte sie sich „für den schönsten Abend seit langem“.
Und obwohl darauf das schönste Frühstück folgte, mit einem Ofen voller Brötchen und einem
„Thomas, du bist ja ein richtiger Gentleman“ , änderte sich in den nächsten Tagen nicht viel. Wir gingen tagsüber unseren Dingen nach und trafen uns erst abends zum Essen in der Küche. Sechslitertöpfe mit Spagetti, Salate oder Backbleche voll Knoblauchkartoffeln, die Sissi ungeschält in die Röhre geschmissen hatte, „Essen, das sich selbst zubereitet“. Wir waren beide gleichermaßen faul und genießerisch und ich fand, dass wir nicht nur in diesen Punkten gut zusammenpassten.
Den Wasserschaden schien sie völlig vergessen zu haben und ich tat den Teufel, sie daran zu erinnern.
„Hättest Du vielleicht Lust für immer hier einzuziehen?“, wollte ich sie gern fragen, aber bevor ich auch nur den Mund aufmachte, wußte sie was los war und stand schnell auf , um das Spülwasser zu erhitzen oder eine Kanne Espresso auf dem Ofen zu kochen.
Später setzte ich mich meist wieder an meinen Computer und Sissi hatte sich angewöhnt, währenddessen auf meiner Couch zu liegen.
„Ich hab heute wieder solche Rückenschmerzen“, stöhnte sie dann und ich ermunterte sie mit meiner ritualisierten Antwort:„Ja, leg dich ruhig hin.“
Es tat mir weh, sie zwischen meinen Büchern und Kissen liegen zu sehen. Ihr Rock rutschte oft hoch und ich fragte mich, ob sie das mit Absicht machte.
Sissi war beim Bäcker, als Helmut vorbeischaute. Er lief gleich in die Küche und ließ sich in den Schaukelstuhl fallen und hoffte wohl auf eine Tasse Kaffee.
„Bei dir hat sich ja einiges geändert. Sieht aus wie im Dschungel!“, musterte er staunend die Drachenbäume und Palmen.
„Schön wär´s, aber das Grünzeug gehört mir nicht.“
„Sondern?“ Helmut ließ sich seine Neugier zumindest nicht anmerken.
„Sissi, du weißt schon.“
„Die Kleine, die mit diesem komischen Möchtegerndichter rumläuft? Ich glaube, den habe ich gestern auf dem Weihnachtsmarkt gesehen. Flirtete gerade mit der Schmuckverkäuferin.“
„Ist ja interessant.“ Ich hatte keine Lust, ihm zu erzählen, dass Sissi die halbe Stadt verrückt machte. Ich gab mir wirklich Mühe nicht gleich sarkastisch zu werden.
Ich hoffte, Helmut loszuwerden, bevor Sissi mit den Brötchen wiederkam. Wenn Helmut ihr von dem Schmuckflirt erzählte, würde sie den ganzen Nachmittag im Bett liegen und heulen. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich keine Lust, Jans Name in meiner Wohnung zu hören. Obwohl – Die Gelegenheit war günstig, wenn man den Flirt ein wenig ausbaute... Leider spielte Helmut nicht mit und so blieb der status quo unverändert bis zu dem Abend, an dem ich verfroren aus der Stadt kam, zwei Stunden eher, als erwartet und es schon im Treppenhaus nach herrlichem Auflauf roch. Nach all den Blechen voller Kartoffeln, hätte ich Sissi so viel Kochliebe gar nicht zugetraut. Ich öffnete den Ofen und lüpfte den Deckel vom Römertopf: Fenchel in Rotwein. Dass sie sowas überhaupt kannte! Sie hatte tatsächlich schon gedeckt. Liebevoll standen zwei Weingläser neben den Tellern, in der Mitte ein kleiner Rosenstrauß. Ich wollte die Kerzen anzünden, aber fand nicht den Leuchter.
Sie bückte sich zum Ofen und streckte mir dabei ihr Hinterteil entgegen. Sie bemühte sich, mit einem Geschirrtuch den Auflauf herauszunehmen. Ihr Hände zitterten und schon hatte sie sich verbrannt. „Schnell, halt deine Finger unters kalte Wasser!“ Und während das Wasser lief, drehte sie ihren Kopf über die Schulter und sah mich an:
„Ich habe eine Überraschung für dich.“ In ihren Augen lag so ein Leuchten, es war mir vorher nie aufgefallen. Und ihre Haare fielen zum ersten Mal, seitdem wir uns kannten, ungebändigt über ihren Rücken. Ich hatte mich oft gefragt, wie lang ihre Haare eigentlich waren. Schon morgens, wenn sie schlaftrunken zum Klo stolperte, waren sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Ihre zerwühlten Locken sahen weich aus und ich hätte gerne mein Gesicht darin versteckt.
„Das ist mein Abschiedsessen. Morgen ziehe ich aus.“ Sie sagte das ganz ruhig und ich wollte protestieren, als plötzlich der Leuchter im Türrahmen schwebte. Inmitten der Kerzen erkannte ich Jan; er lächelte noch voller Behagen, ein lichttragender Engel mit goldschimmernder Brust, der Sissi in meiner Abwesenheit umarmt hatte. Immerhin hatte er seine Pluderhose wieder angezogen.
Wir schafften es tatsächlich, einen dritten Teller hinzustellen und aßen. Wir tranken sogar noch einen Mokka und Jan erzählte, wie er den Fenchel gekocht hatte, worüber hätten wir uns auch sonst unterhalten können. Meine Hilfe beim Kartonschleppen lehnten beide ab und während ich sie im Treppenhaus keuchen hörte, legte ich mich auf die Couch. Ich roch an den Kissen. Das hätte ich den beiden wirklich nicht zugetraut. Aber unserem kleinen Ästheten war es zwischen den Kartonstapeln um Sissis Bett wohl zu ungemütlich gewesen.
Sissi versprach mich anzurufen. Der Stoffbär liegt noch immer auf ihrem Kopfkissen nebenan. Und in der Bärenhose steckt Sissis Abschiedsbrief, ganz zerknittert. Manchmal nehme ich den kleinen Zettel heraus und rolle ihn auf.