Wie Grüner Tee & Sonnenblumenkernbrötchen
Es war einer dieser Tage, an denen man besser gleich im Bett bleibt. Gar nicht erst aufsteht. Lieber nicht die Holzjalousien hoch zieht, um die Sonne rein zu lassen. Nicht den 24 h Nachrichtensender auf Kanal 12 einschaltet und auch keinen Blick in den großen Spiegel an der Wand wirft. Das läßt man bleiben. Man sollte die Füße gar nicht erst über die sichere Bettkante hinaus schwingen und Gefahr laufen in die kalte Pizza von letzter Nacht zu treten. Champignon mit extra Käse. Die man sich während „Moonlight & Valentino“ eingepfiffen hat ... neben der Pralinenschachtel ... und der Familienpackung Schokoeis. Oder leere Pepsidosen um zu kicken und sich dabei womöglich noch vor lauter Blödsinnigkeit den Knöchel zu verstauchen. Das wäre vielleicht doch nicht so verkehrt. Denn dann könnte ich mich krank schreiben lassen ... für zwei ... drei Tage. Vielleicht auch vier. Dann bräuchte ich für eine kleine Weile mal nicht irgendwelche arschkriechenden Parasiten zu ertragen. Das wäre es wert. Und ich hätte es mir verdient. Obwohl es bereits Freitag ist, hängt meine Laune auf dem absoluten Nullpunkt. Ich räkel mich, lasse die Augen fest zusammen gekniffen und drücke mir das große Kissen auf den Kopf. Ein vergeblicher Versuch, den neuen Tag zu verdrängen. Ich raffe die Bettdecke und ziehe sie mir bis unters Kinn. Dann drehe ich mich wieder auf den Bauch und linse zum Radiowecker. Im gleichen Moment geht das Radio an. Zu laut und zu viel Bass. Mein Arm schnellt zum Nachttisch und drückt die Volumetaste mit dem eingekerbten minus.
Muß man wirklich zwanzig Jahre alt sein. Kann man dieses Jahr nicht einfach ... überspringen. Einschlafen und erst mit einundzwanzig wieder aufwachen? Als ob dadurch die Probleme und die inneren Kämpfe so einfach verschwinden würden. Zwanzig zu sein gefällt mir nicht.
Ich bin im Umbruch. Meine Persönlichkeit. Versuche mich neuerdings selbst zu finden. Aus Langeweile oder aus Überzeugung. Weil ich gerade nichts besseres zu tun habe. Um Zeit zu schinden. Ich habe keine Perspektive. Weiß aber ganz genau, was ich möchte. Und das ist viel. Nur weiß ich, daß das nicht geht. Alles auf einmal. Geschweige denn, daß es einfach ist. Möchte mich unabhängig machen. Von meinen Eltern und all den anderen überflüssigen Einflüssen. Strebe eine zweite Ausbildung zur Film- und Videoeditorin an. Habe aber höllische Angst, es anzupacken. Weil mir vielleicht die gegebene Sicherheit verloren geht. Was, wenn ich versage oder mich nur wieder selbst enttäusche.
Zu dieser unmißlichen Lage kommt auch noch das größte Übel, die Liebe. Seit ein paar Wochen schon habe ich nichts mehr von ihm gehört. Verdammte emotionale Beeinträchtigung. Frage mich, ob er einer tückischen Krankheit zum Opfer gefallen oder er plötzlich stumm geworden ist. Ob mein Telefon nicht funktioniert. Vielleicht ist er auch schon längst nach Kanada ausgewandert und lebt mit den Bären. Das komische ist, daß es mir gut geht ohne ihn. Nicht auf eine böswillige Art und Weise. Aber ich habe wieder mehr Zeit für mich und für die Dinge, die ich schon getan habe, bevor es ihn gab. Nehme mir die Zeit für meine Hobbys, die mich seelisch über Wasser halten. Natürlich fehlen mir seine Umarmungen und sein warmer Duft nach Geborgenheit.
Meine große Schwester vermisse ich wie verrückt. Sie ist vor einiger Zeit nach Dortmund gezogen, zu ihrem Freund. Aber sie fehlt mir unglaublich. Unsere morgendlichen Gespräche, während wir Zeichentrickfilme sehen und heißen Kakao trinken. Das gemeinsame lachen mit ihr. Als wir sie das letzte Mal zum Bahnhof brachten, hätte ich seit langem wieder heulen können. Hab ich aber nicht. Werde keine Schwäche zeigen und mich unterkriegen lassen.
Hab die halbe Kindheit in Operationssälen verbracht und von jeder Sorte Erfahrungen jede Menge gemacht. Das prägt den Charakter enorm und wirft ein ganz anderes Licht auf sein eigenes Leben. Man denkt viel nach, wieso es ausgerechnet mich treffen mußte. Bis man heraus findet, daß man eine Kämpfernatur ist. Und man stolz sein kann auf das, was einen ausmacht. Man lebt intensiver, bewußter.
Langsam denke ich, daß ich auch diese Hürde überwinden kann. Ich werde morgen wieder aufwachen und mich über eine Ausbildung informieren. Was ich für Möglichkeiten habe.
Wegen „ihm“ werde ich mir auch nicht länger den Kopf zerbrechen. Erkenne nur, daß ich ihm längst nicht so wichtig war, wie er dachte. Bin enttäuscht. Aber es tut nicht weh.
Gleich morgen werde ich meine große Schwester anrufen und sie fragen, was das Leben so macht und wie es sie behandelt.
Und heute Abend werde ich endlich wieder ruhig einschlafen. Wie froh ich doch bin, eine Kämpfernatur zu sein.