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Wie Gott es wollte
Als ihr erstes Kind das Licht der Welt erblickte, schimmerte die Haut des Babys in demselben glänzenden Schwarz wie die Onyx-Cabochon der Ohrringe seiner Mutter. Sie gaben dem Mädchen den Namen „Jamila“, die Schöne.
Nun er reich war, hatte Abdallah viele Freunde. Sein Vermögen wuchs und wuchs. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem seine Flotte in einem Sturm unterging. Und mit ihr die gesamte auf Kredit gekaufte Ladung.
Auf einen Schlag war er ruiniert. Seine von dieser Katastrophe zerschmetterte Frau starb vor Kummer. Da er seinen Schuldenberg nicht zurückzahlen konnte, floh er nebst seiner Tochter in die Wüste jenseits der Kong-Berge, tausend Meilen von jedem bewohnten Land entfernt.
Ihm blieben nur ein Zelt, eine Handvoll Dromedare und eine Herde Ziegen, die an Akazienbäumen weideten. Jamila lebte dort allein ohne jemanden, mit dem sie spielen konnte. Ihre einzige Gesellschaft waren ihre Tiere. Obwohl es dazumal noch üblich war, dass kleine Prinzen sich in den Dünen blicken ließen, begegnete sie keinem.
Zweimal im Jahr bot ihr der Durchzug einer Karawane ein wenig Zerstreuung. Diese Karawane beförderte das Salz aus den Bergwerken im Binnenland zu den Städten am Meer. In der Gegenrichtung führte sie Hirse und Sklaven, die für diese Salinen bestimmt waren.
Eines Tages erfuhr Abdallah bei einer Plauderei mit den Kameltreibern, dass eine seiner Galeere, die er für verschollen hielt, seit einem Mond im Hafen angedockt hatte. Die Hälfte seiner „Dhimmis“, so sagt man ihm, hatte überlebt. Die Kräftigsten, die Teuersten. Abdallah beschloss daraufhin, sich sofort zur Küste zu begeben, um seine Ungläubiger zu versteigern. Als er ihr seinen bevorstehenden Aufbruch ankündigte, bot er seiner Tochter an, ihr auf die Rückreise ein Geschenk mitzubringen. Sie war kurz davor, ihren achtzehnten Geburtstag zu feiern.
„Da du mir ein Geschenk mitbringen willst", sagte sie zu ihm, "bring mir Kariténüsse, daraus kann ich Butter und Öl machen, dass ich mich parfümiere.“
Weiter gingen ihre Wünsche nicht.
Als Abdallah mit seinen drei Dromedaren den Hafen erreichte, hatte die Besatzung die Galeere verlassen und der Kapitän die Ladung verscherbelt. Nachdem es ihm gelungen war, den Wrack gegen zwei Säcke Erdnüsse einzutauschen, machte er sich auf den Rückweg. Arm wie zuvor.
Am fünften Tag, während er durch die Kong-Berge zog, stürzte ein Erdrutsch seine beiden Kamelstuten in eine Schlucht. Die eine trug sein Zelt und seinen Gebetsteppich, die andere seine silberne Teekanne und zwei Schläuche aus Ziegenhaut – seinen einzigen Wasservorrat. Er befürchtete bereits, an Wassermangel zugrunde zu gehen, als er eine trutzige Kasbah inmitten von Tamarisken oberhalb des ausgedörrten Wadis sichtete, in dem er entlang ritt.
Abdallah peitschte sein Dromedar, um den steilen Pfad zum Gipfel der Felswand hinaufzusteigen. Als er an der Burg ankam, war er sehr erstaunt, dass sie leer war. Dennoch, sobald er in den ersten Hof ging, fand er dort ein Lamm, das über einer Glut grillte. Er dachte, der Herr des Hauses würde sicher bald zurückkehren. Er musste nur warten.
Seine hölzerne Gebetskette durch die Hände wandern lassend, rezitierte er die neunundneunzig Namen des Herrschers über die sieben Himmel. Währenddessen schlug aus einer Schüssel voller Soße, die neben der Glut stand, der Duft von Olivenöl, Knoblauch, Kümmel, Koriander und Paprika an seine Nase.
Sein Hunger wurde übermächtig. Er konnte nicht mehr widerstehen, zog seinen Krummdolch und entnahm zitternd ein appetitliches Nierchen. Einige Minuten später war das zweite auch verzehrt. Eine Viertelstunde verging; niemand kam. Er stürzte sich auf das zarte Stück Lendchen, das er sorgfältig mit der Soße beträufelt hatte.
Da immer noch keine Menschenseele in dieser Kasbah zu sehen war, legte er sich auf die luxuriösen Teppiche, die auf dem Marmorboden ausgebreitet waren. Als Zeichen der Dankbarkeit stieß er hörbar auf, sagte fromm "Hamdullah" und schlief ein.
Als er aufwachte, fand er frische Gewandung anstelle seiner eigenen vor, die durch den Schaum verunreinigt worden war, den sein Reittier während des harten Aufstiegs gesabbert hatte. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Eine Schar von Kindern spielten in Gärten, die mit Teichen und von Blumenbeeten umgebenen Brunnen geschmückt waren. Er glaubte, er wäre im Paradies, so großartig war der Ort. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass das Tuch, das am Vorabend für ihn gedeckt worden war, abgeräumt war. An seinem Platz luden ihn silberne Tablette zum Frühstück ein, die mit süßem Milchbrot, Honigkuchen und dampfenden Teekannen bedeckt waren.
Mit beruhigtem Magen ging Abdallah hinaus, um sein Dromedar zu satteln. Die Mauer der Ställe war mit Karitébäumen gesäumt. Er erinnerte sich, Jamila Nüsse versprochen zu haben und griff nach denen, die er am schönsten fand. Dieser Palast muss einem guten Dschinn gehören, der sich meiner Lage erbarmt hat“, dachte er.
„Ergreift ihn!“
Vier unsanfte Hände packten Abdallah und warfen ihn brutal zu Boden. Ein Strick wurde um seinen Hals geschlungen.
„Ich habe dir Gastfreundschaft gewährt und als Dankeschön plünderst du meine Bäume!“, donnerte eine Stimme hinter ihm.
"Ich habe nichts getan!", rief er beschwörend.
Sprach die Stimme: „Raub wird mit dem Tod bestraft.“
Bei diesen Wörtern spürte Abdallah, wie ein eisiger Schauder durch seine Adern floss. Er drehte den Kopf. Zwei Schritte von ihm entfernt, stand eine hohe Gestalt mit einem eindrucksvollen schwarzen, blau schimmernden Bart und einem doppelten Reif um die Stirn, der ihn mit wütenden Augen ansah. Wenn er leben wollte – und er wollte es um jeden Preis, – musste Abdallah den Emir durch Flehen zu erweichen suchen. Das tat er.
„Gnädiger Gebieter“, bat er und küsste des Emirs Füße, „ich hatte nicht gedacht, dass ich Sie bestehlen würde. Meine Därme sollten preisgegeben sein, wenn dem im Entfernsteten so gewesen war! Ich habe nur ein paar Nüsse für meine Tochter gepflückt“.
„Du hast eine Tochter, sagst du? Wie alt ist sie?“
"Sie wird achtzehn, gnädiger Gebieter."
„Hm!“
Abdallah hatte den Eindruck, dass das Wasser dem Emir mit dem blauen Bart im Munde zusammenlief.
„Gut, ich gewähre dir vorläufig die Freiheit! Aber … unter zwei Bedingungen. Erstens: Deine Tochter soll freiwillig kommen, um deine Stelle anzunehmen. Zweitens: Falls deine Tochter sich weigern sollte, schwöre mir, vor dem nächsten Neumond wieder hierher zu sein.“
Jamilas Vater, von Natur aus nicht sehr empfänglich für Gefühlsduselei, konnte dennoch nicht in Betracht ziehen, seine Tochter zu opfern. Sie war sein einziges Kind. Hätte er mehrere gehabt, hätte seine verhärtete Seele vielleicht darüber nachgedacht. Aber das war nicht der Fall. Er, der ansonsten mit Versprechungen nicht geizte, schwor mit stockender Stimme wiederzukommen.
„Kommst du nicht, so wirst du den Tag verfluchen, an dem deine Mutter dich gebar. Deine Strafe wird den frechen Lügnern als abschreckendes Exempel dienen!“, drohte der Emir mit dem blauen Bart.
Ein paar Tage später fand Abdallah seine Herde wieder.
„Gelobt sei der Allerhöchste“, grüßte er seine Tochter und fügte hinzu, — was darauf deutete, dass er sich vom Himmel ungerecht behandelt fühlte: „Unter allen Umständen!“.
Er reichte ihr sein Felleisen mit den Worten: „Nimm mein Geschenk; diese Kariténüsse kommen deinem unglücklichen Vater teuer zu stehen.“
Logischerweise musste er nach dieser Kundgabe Jamila von dem schicksalsschweren Abenteuer erzählen, das ihm widerfahren war.
„Vater“, sprach sie mit etwas Emphase, denn sie starb vor Langeweile, hatte es satt, die Ziegen zu melken, und wollte um jeden Preis die Wüste verlassen:
„Du wirst nicht allein zu diesem Kasbah gehen; lieber hundertmal durch diesen Wilden ein Ende nehmen als einmal durch den Kummer, den mir dein Verschwinden bereiten würde!“
Als die Salzkarawane zurückkam, erkundigte sich Abdallah beim Madugu, dem Anführer der Kameltreiber, wer der Emir mit dem blauen Bart sei.
„Ich weiß, dass er ein mächtiger Fürst ist. Leute behaupten, er besäße einen Zaubertrank. Seine Großmutter soll das Tattoo der Menschenfresser am Bauch getragen haben. Sie hätte Kinder aufgezogen, die ihre Köchin wie Lammfleisch zubereitete …“.
Der Mond in seinem letzten Viertel ging gegen Mitternacht auf. Abdallah begab sich auf den Weg zum Palast. Jamila hatte sich durchgesetzt; sie begleitete ihn.
Als sie ankamen, sahen sie, wie schon bei seinem letzten Besuch, eine wunderschön ausgelegte Decke auf dem Teppich. Die Hauptgerichte waren in der Mitte. Schüsseln mit Vorspeisen und Gewürzen umgaben sie ...
Niemand wird sich wundern, dass weder Vater noch Tochter nach dem, was sie gehört hatten, Appetit auf Lammfleischbällchen hatten.
Von Minute zu Minute wurde Jamila bewusster, auf was sie sich eingelassen hatte, aber sie bemühte sich, bei Verstand zu bleiben. Ihre Vernunft schrie: "Rühr das Essen nicht an, dieser Enkelsohn einer Menschenfresserin weiß, dass du so dünn bist wie eine Gazelle, die an Kameldornbäumen weidet; er will dich mästen, bevor er dich auf den Grill legt."
Keiner von beiden hatte nur ein einziges Gericht angerührt, als der Emir mit dem blauen Bart in den Hof stürmte. Sie warfen sich mit sieben Körperteilen auf dem Kies wie beim Gebet nieder. Dem Metzger gleich, der Dromedare vor der Ersteigerung auf dem Freitagsmarkt abschätzt, ging der Prinz in einem Kreis um sie, dann streifte er Jamilas Kopf und sagte zu ihr:
„Ihr könnt Euch erheben.“
Sie richtete sich auf und starrte den Prinzen stolz an. Er hätte ihr Vater sein können. Als er sie fragte, ob sie wirklich freiwillig gekommen sei, antwortete sie ihm mit fester Stimme:
„Ja.“
Die Augen des Emirs glühten; gierige Augen eines Tieres, das sie beim lebendigen Leib vernaschen will. Sie meinte, ein spöttisches Grinsen in diesem Blick zu erkennen.
„Esst bitte“, sprach er und zog sich im Palas zurück.
Abdallah war gerettet! Er nahm viel Reis, vermied aber die Leberspieße; die Schöne berührte mit Bedacht nur die Oliven und die Gurken; dann gingen sie schlafen.
In ihrem Traum sah Jamila eine erhabene Dame, die nur wenig älter war als sie, eine der Jungfrauen des Paradieses, die zu ihr sprach: „Für dieses selbstlose Verhalten wird dir auf der anderen Seite des Tores vollkommenes Glück zuteil. Bis bald!“
Kaum waren die morgendlichen Lobpreisungen gesungen, da hatte der Prinz Abdallah vor die Tür gesetzt. Mit dem Verbot der Rückkehr. Als er fort war, beschloss Jamila, die wenigen Stunden, die sie noch zu leben hatte, nicht durch trübsinnige Gedanken zu verderben. Sie entschied sich für eine Besichtigung des Palastes. Als sie durch die Gänge schlenderte, erinnerte sie sich an die Geschichte von der Ziege, die eine ganze Nacht gekämpft hatte, um bei Sonnenaufgang gefressen zu werden, und sie sagte sich, dass sie auch kämpfen würde ...
Ihr Gedankengang zerriss, als sie das Schildchen „JAMILA“ über einer Tür merkte. Nachdem sie diese Tür aufgestoßen hatte, war sie von der Pracht geblendet, die im Raum herrschte. In seiner Mitte sah sie einen großen Webstuhl und eine hölzerne, mit Spulen farbiger Wolle und Seide überquellende Truhe. Auf einem Teppich vor diesen Möbeln waren neben Dutzenden Knüpfplänen, glasierten Keramikbecher voller gefüllter Datteln, getrockneter Feigen und anderen kandierten Früchten aufgestellt. „Man will nicht, dass ich mich langweile, aber dass ich dicker werde", dachte sie. „Man nimmt wohl an, dass dies einige Zeit dauern wird. Hätte ich nur ein paar Tage hierzubleiben, hätte man mich nicht so gut versorgt.“ Dieser Gedanke beflügelte ihren Mut und sie fing an, einen Funken Hoffnung zu nähren.
Mittags fand sie das Tischtuch aufgedeckt vor. Sie trank zwei Tassen Tee, knabberte drei Kichererbsen und setzte ihren Rundgang durch den sehr geräumigen Palast fort. Als sie durch die große Galerie im unteren Stockwerk ging, hörte sie Kinderstimmen, die Suren sangen. „Eine Schule“, dachte sie.
Abends kam der Emir mit dem blauen Bart, bevor sie ihr Vesper zu sich nahm.
„Kommt der Herr, um sicherzustellen, dass ich esse?“, fragte sie ihn.
„Würdet Ihr mir gestatten, Euch Gesellschaft zu leisten?“, gab er ihr zu Antwort.
Jamila beugte ihr Knie und sprach demütigt:
„Er ist der Herr. Befehlt, ich gehorche.“
„Nein, hier gibt es keine Herrin außer Euch“, sagte er und überreichte ihr einen Schlüsselbund: „Ihr habt Zugang zu allen Räumen im Schloss. Aber! ... Was das kleine Kabinett am Ende der großen Galerie in der unteren Etage anbelangt, verbiete ich Euch, es zu betreten.“
Jamila lebte wie eine Prinzessin im Palast. Obwohl sie nicht mehr befürchten musste, auf einem Spieß zu landen, achtete die Naschkatze, die Makroud – köstliche, mit Honig umhüllte und mit Orangen aromatisierte Grießkrapfen – so gern aß, aus Koketterie auf ihre Figur. Jeden Abend vor dem Mahl besuchte der Emir sie, unterhielt sich über den Fortschritt ihres Teppichs und brachte ihr Klatsch und Tratsch mit. Jamila hatte keine Angst vor ihm mehr, aber sie wäre fast vor Schreck gestorben, als er eines Abends fragte:
"Wollt Ihr meine Frau werden?"
Sie blieb eine Minute lang unfähig zu antworten, weil sie befürchtete, seinen Zorn zu entfachen, wenn sie ablehnte. Dennoch sagte sie zu ihm:
„Ich wäre glücklich, ich könnte Eure Freundin bleiben.“
„Ich werde Euch die Frage noch einmal stellen", sprach der Prinz, „nun esst bitte.“
Er verließ das Zimmer. „Schade, dass er so alt ist, er ist so nett! », dachte sie.
Es verging kein Tag, an dem Jamila nicht neue Güte an ihm entdeckte. Nur eines störte sie.
Jedes Mal, wenn der Prinz sie zur Teezeremonie einlud, fragte er sie, während er ihr den Parfümwerfer reichte, dessen Form an das Zeugungsglied mahnte, ob sie ihn heiraten wolle.
Jedes Mal lehnte sie ab.
Als sie es nicht mehr aushielt, platzte sie eines Nachts heraus:
„Ihr macht mich traurig. Ich wünschte, ich könnte Euch lieben, weil Ihr immer gut zu mir seid, aber dafür sollte mir erlaubt sein, Euren Palast, wie es mir passt, zu verlassen.“
„Nein!“
Er merkte ihre Enttäuschung:
„Sie müssen sich mit dieser Antwort begnügen!“
„Dann werde ich immer Eure Freundin bleiben“, sagte sie mit einer schnippischen Stimme.
Er war der Ungeduld nahe:
„Um Euch zu gefallen, will ich Euch die Gelegenheit bieten, einmal zu Euerem alten Herrn zurückzukehren, aber gebt mir Euer Wort, dass Ihr vor zwei Monden wieder hier sein werdet.“
„Ich schwör‘ es", sagte Jamila und konnte sich vor Glück der Tränen nicht erwehren.
„Ich erlaube Euch, noch heute Nacht aufzubrechen.“
Der Prinz reichte ihr ein Fläschchen: „Trinkt einen Fingerhut voll von diesem Trank, bevor Ihr euch zur Ruhe begebt“.
Und ergänzte:
„Dasselbe tut Ihr, wenn Ihr wiederkommen wollt. Und noch etwas ¼ Geht Euch das Geld aus, so gibt drei Tropfen davon auf eine Mimose und wiederholt diesen Zauberspruch.“
Er hielt ihr einen Knochen hin:
„Meine Mutter schrieb die Formel aus einem Märchen auf dieses Lammschulterblatt ab.“
Jamila steckte den Knochen in eine Tasche ihres Nachtgewandes, dann trank sie ein Gläschen von dem Zaubertrank und legte sich schlafen.
Als sie morgens aufwachte, war sie im Zelt ihres Vaters.
Groß war die Freude von Abdallah, als er seine Tochter wieder sah. Wenig fehlte und er wäre daran gestorben.
Sobald der Jubel verebbte, fand sie, dass die Tage in der Wüste den Passgang eines Kamels hatten. Binnen kurzem hatte sie nur noch einen Wunsch: Zurück zur Kasbah!
Der Mond hatte sich seit ihrer Ankunft nur um ein Viertel verändert. Eines Morgens informierte sie ihren Vater über ihre bevorstehende Abreise. Da er ihr Undankbarkeit vorwarf, – war es nicht sein Verdienst, dass sie den Emir kennengelernt hatte? – versprach sie, dass sie ihm vor ihrer Abreise etwas von unschätzbarem Wert schenken würde. Sie erzählte ihm von ihrer Phiole und von Geld. Geld! Seine Augen glitzerten vor Gier. Plötzlich ermutigte er Jamila, ihn zu verlassen: „Komm Kind, du darfst den Prinzen nicht unglücklich machen!“
Am Abend schluckte Jamila einen Fingerhut voll von ihrem Trank und gab ihrem Vater das Fläschchen zusammen mit der Zauberformel auf dem Schulterblatt. Sie schlief ein. Ehe sie aufgewacht hatte, befand sie sich wieder in ihrem Gemach im Palast.
Nachts hatte Abdallah kein Auge schließen können. Er hatte von Kopf bis Fuß gezittert und sich ständig hin und her gewälzt. Mit Ausbruch der Morgenröte konnte er es nicht mehr aushalten. Er eilte zur nächstbesten Mimose, träufelte drei Tropfen aus seiner Phiole auf den Stamm des Strauches und las mit lauter Stimme die magischen Worte: „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich."
Da flogen Gold- und Silbermünzen in einer Reihe kleiner trockener Knallgeräusche in seine Richtung. Er brauchte sie nur noch aufzuheben. Aber anstatt sich zu bücken, ging er zu einer anderen Mimose, goss erneut drei Tropfen und sprach: „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich."
Der Baum gehorchte: fang! fang! fang! Ein Schatz lag nun auf dem Boden. Der Händler wandte sich dem Himmel zu, um dem Allerhöchsten zu danken.
Geier zogen ihre Kreise im Azur.
Der Vater von Jamila wurde angesichts des vielen Geldes verrückt und rannte zu einer dritten Mimose, leerte den Rest des Trankes darauf und artikulierte vor Aufregung nur mühsam: „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich."
Der Dornbusch rüttelte sich, schüttelte sich, und mit einem Knattern, der dem Bukett eines Feuerwerks glich, warf, warf und warf immer wieder auf ihn. Als die Salven aufhörten, als das Knacken verstummte, als sich der Staub gelegt hatte, bedeckte mehr als eine halbe Tonne glänzendes Metall den Leichnam von Abdallah.
Wie üblich erwartete Jamila den Emir zum Essen am Abend ihrer Rückkehr. Er kam nicht. Eine Stunde verging. Dann zwei; die Schöne wurde unruhig. Die wenigen Tage in der Wüste hatten ihr die schönen Seiten und Vorzüge des Prinzen gezeigt. Der Gedanke kam ihr, er wäre vielleicht bettlägerig im Raum, zu dem er strengstens den Zutritt verboten hatte. Sie eilte in die große Galerie hinunter, wobei sie beinahe eine Person umgerannt hätte, die aus der klaffenden Tür des kleinen Kabinetts trat.
„Wo rennt das Gänschen hin?", fragte die Unbekannte, die Mitte vierzig war.
Jamila, die über eine solche Dreistigkeit erstaunt war, schoss das Blut in die Wangen.
„Wie könnt Ihr ...?“
„Ich bin die erste Frau“, erwiderte diese Prinzessin.
In ihrer Stimme lag eine Schärfe, die das Wort der Erwiderung abschnitt:
„Ich warne dich: Gehe nicht weiter!“
Jamila wusste, was der Anstand erheischt, und verbeugte sich. Dabei beschloss sie zu fragen:
„Warum diese Untersagung, hohe Herrin?“
„Sie ist zu deinem Besten. Glaub mir! Geh in deinem Gemach zurück! Salam alaykoum!“
Und auf diesen Abschied hin machte kehrt und drückte die Tür hinter sich zu.
Es war plötzlich Unbehagen in der Schöne. Zum einen war sie sich nun sicher, dass diese Tür zu den Gemächern der ersten Gattin führte, und es schien klar, dass die Alte dem Prinzen nicht von ihrer vorzeitigen Rückkehr berichten würde. Andererseits konnte Jamila sich nicht damit abfinden, sich wochenlang allein vor ihrem Webstuhl zu grämen. Minuten vergingen. Sie fand eine Idee – vielmehr sie fand ihre ursprüngliche Idee wieder: sich nach dem Befinden des Emirs zu erkundigen. Damit war ein Vorwand vorhanden, um hineinzugehen. "Inschallah (die Würfel sind gefallen)", dachte sie, als sie über die Schwelle trat.
Hier zu verraten, was sie entdeckte, wäre unredlich. Offensichtlich hatte der Prinz nicht auf sie gerechnet ... Hinter der Tür – statt ein „kleines Kabinett“ – führte ein langer Korridor in die Eingangshalle des Serails, wo der Mann einer täglichen Tätigkeit oblag, die auch Kamele drei- bis viermal am Tag – jedoch nur während der Regenzeit – nachgehen.
Was seine Gesundheit betraf: Er war in bester Verfassung!
Jamila durfte eine prachtvolle Hochzeit feiern. Während des üppigen Banketts, das ihr zu Ehren gegeben wurde, rührte der Prinz die Speisen kaum an, da er seit Kindestagen weder Fleisch noch Eier oder Milch zu sich nahm.
Zu dem vom Großeunuchen organisierten Fest war der ganze Harem eingeladen worden: die erste Dame und die Kollektion zweiter Ehefrauen; die zahlreichen Konkubinen; sowie ihre Kinderschwärme. Auch die zweiundsiebzig Jungfrauen des Paradieses nahmen an den Feierlichkeiten teil. Sie waren allesamt eingeladen worden, denn sie waren einander so ähnlich, dass Jamila nicht wusste, welche diejenige war, die sie in ihrem Traum besucht hatte. Sie ging in einer Duftwolke von Karitébutter von einer zur anderen und hielt mit jeder ein Schwätzchen, bis eine zu ihr sagte:
„Mashallah! (Gott hat diese Wonne für dich gewollt.) Ich freue mich über dein Glück, Jamila. Hatte ich es dir nicht angekündigt?“
„Ah, Ihr seid es! Ich danke Euch von ganzem Her...“
Die Erste Dame, die sich leise an sie herangeschlichen hatte, fiel ihr in die Rede:
„Ich hatte dich gewarnt.“
„Hohe Frau? …“, fuhr Jamila betroffen auf.
„Es ist an der Zeit, dass du wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehrst. Jetzt bist du nur noch eine Gattin. Bloß ein Weib mehr für den Emir. Ab morgen wirst du warten müssen, bis du für die Liebe an der Reihe kommst.“
Wenn du willst, dass etwas geschieht, verbiete es.
ANDERE IM SUDAN ZUM SPRICHWORT GEWORDENE MORAL
Und wäre das Huhn noch so schlau, eines Tages kommt es doch in den Kochtopf.