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Wie geht es dir?
Wir hatten uns durch Zufall wieder gesehen.
Wie geht es dir, fragte ich. Ich dachte nicht darüber nach, warum ich das fragte. Ich dachte nicht über den Inhalt meiner Frage nach. Welche Frage hätte ich sonst stellen sollen. Welche hätte sich im Zustand der allgemeinen Überraschung besser und schneller stellen lassen. Welche wäre es in diesem Moment mehr wert gewesen.
Und so weiter. Aber.....
Die Überraschung lag auf beiden Seiten. Ich hatte jedoch auf diese uns Beide betreffende Situation mit meiner Frage zu schnell reagiert. Ich reagiere öfter zu schnell, auch in weniger und nicht überraschenden Situationen. Auch ohne es zu kennen, eile ich manchmal meinem Ziel voraus.
Doch wie war es mit dem Wahrheitsgehalt meiner Frage bestellt?
Wollte ich tatsächlich wissen, was ich so überstürzt gefragt hatte?
Ich glaube nicht. Nicht mehr. Nicht so.
Vielleicht war es die Peinlichkeit des Wiedersehens in einem Moment, in dem ich in keiner Weise damit gerechnet hatte.
Oder aber: Ist vielleicht Unvorhergesehenes komplizierter als Geplantes? Und: Wenn ich mit dieser Situation in jedem Moment gerechnet hätte, wäre ich vorbereiteter gewesen? Obwohl, wenn ich darüber heute nachdenke....
Es ist gleich.
Ich hatte zwar mit dieser Situation gerechnet, doch nicht in dem Moment, in dem diese passierte. Es könnte gut möglich sein, dass ich in einem anderen Moment, an einem anderen Tag, zu einer anderen Stunde, auch eine andere erste Frage gestellt hätte.
Ich bin mir nicht sicher, was ich darüber denken soll, jetzt, wo diese Situation gewesen ist und andere, die auch erlebt werden wollen, Schlange stehen..
Die eventuell andere Frage wäre letztendlich eine ähnlich dumme Frage geworden. Sie wäre, da ich sie trotzdem spontan und auf Grund des mich irritierenden Überraschungsmoments gestellt hätte, mit der selben Inhaltslosigkeit ausgestattet gewesen. Es wäre wahrscheinlich so gewesen, aber nicht mit Sicherheit. Es ist reine Theorie, aber diese Frage ,Was wäre, wenn?’ beschäftigt mich. Anders gesagt: Das Wiedersehen mit meinem Bekannten aus den so genannten ,guten alten Tagen’ wäre möglicherweise anders verlaufen.
Früher schien mir diese Frage oberflächlich und für den Befragten, wenn der mir dabei in die Augen blickte, auf ihren Wahrheitsgehalt gleichsam beurteilbar, transparent, durchschaubar; ja manchmal sogar peinlich dann für mich, ob der Schnelle, mit der das durchschaut Werden passierte.
Ich dachte darüber nach und ab einer Zeit schien mir die Frage unpassend zu werden, eine Frage, die der Person des Anderen zutiefst ein Interesse an genau dieser absprach, in einer Form, die auch beleidigend sein kann.
Ich hatte beschlossen, sie in die Kiste zu sperren, in der schon die Peinlichkeiten ,Eigentlich’ und ,Überhaupt’ weggeschlossen waren. Ich hatte gut daran getan und habe die Frage dann in dieser Form nicht mehr gestellt. Eben bis zu diesem Moment, als wir uns an der Kreuzung eines Straßengewirrs wiedersahen. Straßen, die uns trotz ihrer unterschiedlichen Richtungen, Steigungen und Breiten irgendwann doch zusammengeführt hatten.
Zurück zu diesem Wiedersehen:
Nachträglich betrachtet waren die Umstände, die dazu führten, äußerst schlecht. Wiegerade danach die Sicht darüber immer eine andere zu sein scheint. Umstände sind im Moment ihres Vorhandenseins als gegeben hinzunehmen, nicht austauschbar, schon gar nicht, wenn sie zu Überraschungen beitragen. Vordergründig wirkt die Überraschung. Die Wahrnehmung des Umstandes, der zu dieser führte, erfolgt später. In meinem Fall sage ich leider, weil ich gerne verhindert hätte, nicht überrascht zu werden. Doch hat vielleicht der Umstand des überraschenden Wiedersehens diese meine erste Frage geradezu heraufbeschworen.
Wie auch immer. Über die Antwort, die ebenso überraschend schnell gegeben wurde, denke ich heute nach. Gut, hatte sie gelautet. Ganz einfach: Gut.
Gut, hatte er geantwortet.
Dazu muss ich weiter ausholen.
Er begann mir aus dem Weg zu gehen, als er sich für die Beziehung mit dieser Frau, die niemand von uns kannte, entschloss. Wenn ich sage, dass sie niemand von uns kannte, dann meine ich damit, dass er sie keinem von uns jemals vorgestellt hatte. Man erzählte sich, dass er sie auf Händen trüge, darauf bedacht, sie ganz für sich zu haben. Gerüchte über sie, über ihre atemberaubende Schönheit, wurden kolportiert. Er besaß ein Haus in einem teuren Teil der Stadt. Wenn er mit ihr im Cabrio den Fluss entlang fuhr, ließ er das Verdeck auch im Sommer geschlossen. Wenn er zum Tennisspiel kam, war er wortkarg, spielte seine Partie und verschwand wieder. Irgendwann blieb er dem Tennisplatz fern. Irgendwann hatte er den gut bezahlten Job in einem Unternehmen, das sich mit Projektmanagement befasste, aufgegeben.
Es wurde damals erzählt, er sei mit ihr nach Spanien gegangen.
Er hatte kurz geschnittenes Haar und schien äußerst gut gelaunt, als er in seiner Stammbar den letzten Abend schmiss. Er ließ angeblich nichts zurück. Keine Telefonnummer, keine Adresse. Er sagte nicht, wo man ihn erreichen könne. Er verschwand und ließ uns mit den offenen Möglichkeiten nach dem Warum zurück. Zum Zeitpunkt seines Aufbruches gehörte er zu meinen Freunden. Er hatte auch mit mir nicht über das Warum gesprochen.
Wenn ich mich genau erinnere, waren es demnach fast acht Jahre, dass ich nichts mehr von ihm gehört hatte, als wir unser wortkarges Wiedersehen an dieser Straßenecke hatten.
Nach seiner knappen Antwort hatte ich nicht weiter gewusst.
Er stand da, mit krummem Rücken, bleich, aufgedunsen im Gesicht, beide Hände in den Taschen seiner Hose. Er trug Sandalen, weiße Socken. Ein Motorrad fuhr donnernd an uns vorbei. Sein Blick hing daran, ging dann wieder zu mir, dann zu Boden. Er fragte nichts, wartete. Es ging ihm darum, dass ich beginne, meine ich, wenn ich daran zurückdenke. Wir wichen zur Seite, als eine Frau ihren Kinderwagen an uns vorbeischob. Ein Taubenschwarm stieg vom Dach des gegenüber liegenden Hauses auf. Die Sonne war unangenehm, weil stechend.
Eigentlich ist es schon komisch, nach der langen Zeit dich hier zu treffen, sagte ich und die Kiste, in der ich Vieles weggesperrt hatte, stand meilenweit offen. Wieder war mir erst danach bewusst, welchen Unsinn ich hier stammelte.
Ja, kam seine Antwort, ja, nach der langen Zeit.
Er betonte das Wort der. Ich hatte nicht erkannt, dass es ihm schlecht ging. Ich hatte seine altmodische Hose angestarrt und mir war wichtig gewesen, die Frau mit dem Kinderwagen vorbei zu lassen. Ich würde ihm die Hand reichen, wenn ich die Situation noch einmal abrufen könnte. Jedoch hatte ich nichts davon gemacht. Ich erinnere mich an seinen schmalen Schatten, der sich an der Kante des Gehsteigs brach, löchrig über einem Kanalgitter lag.
Und überhaupt, begann ich wieder, wo warst du? Ich wollte Rechtfertigungen von ihm hören, Eingeständnisse einer, seiner, Schuld, unbewusst von mir. Und doch unverzeihbar.
Seine Stirn faltete sich, er öffnete seine Lippen. Er sagte nichts. Ich sah, dass Zähne fehlten. Seine Hand spielte mit dem Schlüsselanhänger, den er an einer Gürtelschlaufe trug. Heute glaube ich, dass er seine Einsamkeit in meinen Fragen doppelt gespürt haben musste.
Dann: Wo? Seine Gegenfrage überrumpelte mich.
Wind kam auf. Abkühlung. Eine leere Coladose rollte gegen den Randstein.
Ich muss, sagte er, mach’s gut.
Er sah auf seine Armbanduhr. Er hatte mich abgeschrieben. Er hatte mich durchschaut, hatte mich beurteilt. Meine Transparenz war mir peinlich. Ich hatte alles falsch gemacht.
Du auch, sagte ich. Er ließ mich zurück wie schon Jahre zuvor.
Er hastete über die Strasse, kramte sein Handy hervor, schien einen Anruf erwartet zu haben.
Die Frau mit dem Kinderwagen kam vom Einkauf, fuhr problemlos an mir vorbei. Auf die Dachfläche des gegenüber liegenden Hauses, die jetzt in grauen Schatten lag, kehrten die Tauben zurück. Die Sonne hatte sich zwischen den Wolken verheddert. Das Geräusch eines Motorrades kam aufdringlich aus einer der Seitengassen.
Er war zwischen dem Gewirr von Flieder, Reklametafeln und Wolkenschatten verschwunden.
Ich frage mich immer wieder, ob es hätte so sein müssen.