Wie es dem Magier Zorl letztens erging
Zorl hatte schon immer das Gefühl, daß man nicht fair mit ihm umging. Als Kind wurde er ständig gehänselt, weil er irgendwie anders als die anderen war. Als Jugendlicher konnte er sich nicht an den Vergnügungen beteiligen die zu jener Zeit für Jugendliche modern waren, weil er zusätzliche Schulstunden absolvieren mußte. Als Heranwachsenden ließ man ihn nicht den Beruf erlernen, der ihn am meisten interessiert hätte: fahrender Exekutivrichter. Und als fertig ausgebildeter Erwachsener ließ man ihn nicht einmal im Reinigungs- und Beseitigungsdienst arbeiten. Das war der Beruf, den man ihm letztendlich beigebracht hatte, und den er abgrundtief haßte. Jetzt saß er im Magistrat der Stadt Hirsegut, Abteilung Zunftwesen und Broterwerb.
Ihm gegenüber saß Scr. Phylus. Dieser feiste, alte Mann hatte sein Amt von seinem Initiationspaten geerbt und würde es in ein paar Monaten an sein Patenkind weitergeben. Schreiber, Verwalter, Stadtbediensteter und auch Bütteloffizier konnte ausschließlich werden, wer einen ebensolchen als Initiationspaten hatte. Naja, offiziell zumindest. Es war ein offenes Geheimnis, daß in Hirsegut die Säkularsimonie geradezu bizarre Blüten trieb. Das wäre Zorls einzige Chance gewesen, Exekutivrichter zu werden, doch er besaß nicht genug Geld dafür. Sein Initiationspate war der Schlachtmeister von Schlittingen, einem kleinen Marktflecken eine Tagesreise von Hirsegut entfernt. Schlachter war aber ein Handwerksberuf und daher nicht an die Vererbung durch den Paten gebunden, sondern an den Segen der Zunft. Doch war Zorl daran gar nicht interessiert, da er ein besonderes Verständnis für die Tiere hatte. Es kam ihm nicht richtig vor, sie zu töten.
Es kam ihm allerdings auch nicht richtig vor, sich bei Phylus einzuschleimen. Nicht weil er dazu zu stolz gewesen wäre; sein Stolz war schon früh gebrochen worden. Vielmehr hielt er Phylus für einen Eulenmann. So nannte man Menschen, die über die Maßen an Traditionen hingen und bei jeder Neuerung große Augen machten und den Kopf schüttelten. Tatsächlich war Scr. Phylus sehr stolz darauf, daß in seiner Abteilung der Ämterkauf kaum eine Rolle spielte; er behauptete oft, 17 Generationen der Amtsvererbung nachweisen zu können. Dennoch war er amtsmüde geworden und freute sich auf seinen Ruhestand. Im Magistrat galt die Abteilung Zunftwesen und Broterwerb als die frustrierendste, weil man dort ständig dem Druck durch die Zünfte und Gilden ausgesetzt war und – anders als in den meisten anderen Abteilungen – hauptsächlich Taugenichtse als Kundschaft hatte, die allesamt zu blöde zum Stundenschlagen waren.
Phylus war ausgesprochen schlecht vorbereitet auf dieses Gespräch. Zwar hatte Zorl ihm eine Woche vor dem Termin alle Zeugnisse und Freibriefe sowie die Knotenschnur geschickt. Doch anstatt die Knotenschnur an die Webstuhlabteilung weiterzuleiten, die ihm das auf der Schnur chiffrierte Persönlichkeitsprofil Zorls in Klartext übersetzt hätte, wollte Phylus sich lieber auf seine von den üblichen Speichelleckern vielgepriesene Menschenkenntnis verlassen. Mit der war es in Wirklichkeit nicht weit her, aber wer hätte sich getraut, ihm das ins Gesicht zu sagen! Also begann er erst, Zorls Lebenslauf durchzulesen, als dieser bereits vor ihm saß.
„Soso“, begann Phylus das Gespräch, „an der Höheren Knabenschule hat man sie also die Zusatzfächer Gespür, Charisma und Spruchwesen lernen lassen. Wie kam es denn dazu?“
„Bei der obligatorischen geistigen und politischen Gesinnungsprüfung zu Beginn der HaKa wurden bei mir abnorme Werte festgestellt“, antwortete Zorl. „Ich wurde als magisch begabt eingestuft. Haben sie denn meine Knotenschnur nicht erhalten?“
„Doch, doch. Aber seit der Durchführungsverordnung 21-16b aus dem vierten Jahr der Viperdynastie sind die Magierschulen in ganz Bilharien verpflichtet, jeden magisch Begabten nach dem Besuch der Höheren Knabenschule aufzunehmen. Der Planungsstab des Damenrats wollte damit den Niedergang des Zauberwesens aufhalten. Sehr umsichtig, wenn sie mich fragen. Jedenfalls müßten auch sie eine Magierschule besucht haben.“
„Ja“, sagte Zorl kurz angebunden. Er hatte wenig Lust, dieses Gespräch unnötig in die Länge zu ziehen.
„Was suchen sie dann hier? Sie sollten doch ein mächtiger Magier sein, der verhexte Tiere heilt, in Nachbarschaftsstreitigkeiten Flüche ausspricht oder entschärft, oder sogar Unterhaltungskunststücke in den Frauenstädten vorführt. Zu mir aber kommen üblicherweise die Nutzlosen, die Tagediebe, die Parasiten, die unglücklicherweise Residenzrecht in Hirsegut besitzen. Es handelt sich um Arbeitssuchende, um Hungernde, um Zerlumpte. Was will ein Magier in solch einer Gesellschaft?“
„Ich bin auch ein Arbeitssuchender, ein Hungernder, ein Zerlumpter.“ Tatsächlich war Zorl zwar nicht zerlumpt, aber doch eher schäbig gekleidet.
„Dann zaubern sie sich etwas zu essen und einen feinen Ausgehrock. Sie besitzen mehr Macht als ich, ich kann leider nichts für sie tun.“
„Aber mein Abschluß an der Magierschule…“, protestierte Zorl.
Nun warf Phylus einen Blick auf das nächste Stück Papier in Zorls Akte, das Zeugnis der Magierschule. In der Sparte „Empfohlenes Tätigkeitsgebiet“ las er „Reinigung von Gebäuden und öffentlichen Plätzen. Entfernung von Schmutz und Unrat.“ Unfaßbar, ein Magier soll als Putzknecht arbeiten. „Also das müssen sie mir erklären“, bat Phylus, „Man hat ihnen an der Magierschule putzen, aufwischen, zusammenkehren, Müllentsorgung und Ungeziefervertilgung beigebracht? Was war denn das für eine schäbige Schule?“
„Es war das angesehene Schore-Institut. Als der Damenrat befahl, daß wir Begabten alle aufgenommen werden müssen, hat er keineswegs Lehrmittelfreiheit beschlossen oder auch nur die Befreiung der Aufnahmegebühr. Sind sie sich eigentlich darüber im Klaren, was die Aufnahme in eine solche Schule kostet?“
„Nein, das bin ich nicht“, erwiderte Phylus leicht säuerlich. Er pflegte Kritik an den Beschlüssen der übergeordneten Gremien stets als persönlichen Angriff aufzufassen. Und zwar selbst dann, wenn es nicht nur Magistratsbeschlüsse waren, sondern Durchführungsverordnungen oder Gesetze aus den Regierungsstädten, die ausschließlich von Frauen bewohnt waren.
„ Von alters her mußte jeder Adept einen sehr hohen Preis zahlen. Wie hoch sehr hoch ist, hing natürlich von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Adepten ab. Aber schon während der Geckodynastie wurden aus verwaltungstechnischen Gründen festgelegte Staffelpreise eingeführt, die sich kaum jemand leisten konnte. So wurde es üblich, von den Adepten andere Opfer zu fordern. Wollte einer Seher werden, so mußte er sich die Augen ausstechen lassen. Telekineten wurde häufig das Rückgrat gebrochen. Regenmacher entmannte man meistens. Diese Maßnahmen waren ausgesprochen unbeliebt, daher kam es in Mode, die eigenen Kinder zu töten. Ein sehr hoher Preis, der üblicherweise für eine Ausbildung zum Allgemeinmagier mit ein oder zwei Spezialgebieten genügte. Es nahm aber überhand, daß Kinder nur zu dem Zweck gezeugt wurden, um für die Aufnahme ihrer Väter in die Magierschulen getötet zu werden. Vom Aufstand in der Frauenstadt Riebwald haben sie ja sicher gehört: Die dortigen Gebärerinnen fühlten sich ausgenutzt und traten in einen über dreijährigen Schwangerschaftsstreik. Letzten Endes beschränkte der Damenrat von Bilharien die Bezahlung der Aufnahmegebühr auf Geld in einer der vier weitläufigen Währungen. Das bedeutet für mich, daß man mich zwang, Magier zu werden, es mir aber gleichzeitig verweigerte, weil ich aus einer armen Familie komme, die den notwendigen Betrag nie aufbringen könnte. So brachte man mir nur die magischen Methoden bei, die man als Putzknecht brauchen könnte“
Ein solcher Fall war Scr. Phylus in seiner gesamten Laufbahn noch nicht untergekommen. Alles daran stank nach Inkompetenz auf Ämterseite. Das konnte unmöglich sein! Die Gesetze und Erlasse des Damenrats waren unfehlbar, das garantierten die Logikerinnen in den jeweiligen Grundlegungssyllogismen. Phylus kannte sich aus: Irgendwas mußte an Zorls Geschichte faul sein. Er blätterte nervös in den Papieren umher. „Da!“, rief er triumphierend aus. „Sie haben einen reichen Initiationspaten, den Schlachtermeister Gnaru aus Schlittingen. Warum hat er ihre Gebühr nicht bezahlt?“
„Seine Zunft hat es ihm verboten – Schlachter, Metzger, Jäger und Henker arbeiten prinzipiell nicht mit den Magierschulen zusammen. Gnaru meinte zu mir, die übergeordnete Blutzunft lehne offiziell Magie als Aberglaube ab, inoffiziell aber gehe es um Kompetenzstreitigkeiten. Sowohl die Magier, die ja auch als Heiler arbeiten, als auch die Mitglieder der Blutzunft wollen Euthanasie und Abtreibungen in ihrem Zuständigkeitsbereich wissen. Ein sehr einträgliches Geschäft, das niemand den Eichelhäher fressen lassen will.“
Zorls Auftreten kam Phylus immer anmaßender vor. Der Schreiber bekam wieder seine Kopfschmerzen. Er mußte diesen lästigen Knilch endlich loswerden. „Was können sie denn überhaupt?“, fragte er entnervt.
„Wie meinen Papieren zu entnehmen ist, kann ich ausgesprochen gründlich sauber machen. Kein Stäubchen bleibt übrig, keine Kakerlake flitzt mehr über den Boden, weder Pest noch Riebwaldkrankheit haben bei mir eine Chance. Ich arbeite natürlich auf magischem Wege. Ich erkenne alle Dinge und Lebewesen in einem Raum oder begrenzten Gebiet mit weitaus höherer Genauigkeit als ein normaler Mensch. Ich kann, während ich einfach so dastehe, alle Objekte, die als Schmutz oder unerwünscht gelten, unsichtbar markieren. Das genaue Verfahren dazu ist ausgesprochen kompliziert, und obwohl ich mich dabei nicht oder nur kaum bewege, ist es sehr anstrengend. Die markierten Objekte werden auf magischem Wege entfernt. Auf diese Weise kann ich eine akkuratere Sauberkeit erzeugen als jeder Putzknecht auf der Welt.“
„Na dann,“ seufzte Phylus erleichtert, „brauche ich sie ja nur an die Gilde der niederen Dienstleistungen zu überweisen. Melden sie sich dort, die sind für sie zuständig. Dorthin hätten sie sich eigentlich gleich wenden sollen, anstatt hier meine wertvolle Zeit zu verplempern.“
„Dort war ich schon. Sie weigern sich, mich aufzunehmen, da meine Reinigungsmethode nicht den althergebrachten Gildenbräuchen entspricht. Das halte ich zwar für eine Schutzbehauptung, denn die Brechknechte verwenden heutzutage die modernsten Abführ- und Brechmittel und werden auch bei Gelagen mit Besuchern eingesetzt, die nicht der Priesterklasse angehören. Das widerspricht ebenfalls eklatant den überlieferten Bräuchen. Vielmehr glaube ich, daß ich Standards in Sachen Hygiene und Sauberkeit schaffen würde, die von den anderen Gildenmitgliedern niemals eingehalten werden könnten. Das dürfte der wahre Grund für meine Ablehnung sein. Wie dem auch sei: ich wollte nie Magier werden, dann hat man mich dazu gezwungen und es mir gleichzeitig unmöglich gemacht. Und ich wollte nie Putzknecht werden, man hat mich dazu gezwungen, und nun wird es mir wieder unmöglich gemacht. Wohin soll ich mich denn jetzt wenden?“
Genau dieselbe Frage stellte sich auch Phylus, mit ähnlicher Verzweiflung. Dieser Kunde mußte weg, möglichst schnell. Aber wie? Ausnahmegenehmigungen für die Gilde der niederen Dienstleistungen hatte er keine mehr, denn die hatte er peu a peu gegen Bezugsberechtigungen für Lustknaben getauscht – auch dafür war diese Gilde zuständig. In eine andere Gilde oder Zunft konnte er ihn auch nicht schicken, was sollte er dort auch? Und ohne den Segen einer der Organisationen konnte Zorl zwar arbeiten, durfte aber nicht. Das würde über kurz oder lang Zuchthaus bedeuten. Scr. Phylus erschien das als unausweichlich. Weshalb also komplizierte Umwege gehen, sich das alte Hirn unnötig zermartern, sich ausgerechnet mit dieser Dienstleistungsgilde anlegen, die sowieso schon zuviel über ihn wußte? Ein schneller, ein professioneller Entschluß mußte her.
Phylus klatschte laut in die Hände und heulte auf wie ein abgestochenes Ferkel. Sofort ergriff er eine bestimmte der diversen Amtsglocken, die zu verschiedenen Zwecken neben seinem Schreibtisch auf einem Regal standen. Er läutete. Zorl war nur verdutzt über dieses Schauspiel, schon sprangen zwei Büttel herein, gefolgt von Phagus, dem diensthabenden Bütteloffizier. Dieser war ein Halbbruder Phylus’. „Dieser freche Putzknecht hat mich geschlagen. Bringt ihn weg von hier!“
Erst bewegten sich die Büttel nicht. Es hatte ja komische Gerüchte gegeben in letzter Zeit. Sie konnten zwar Phylus genausowenig leiden wie ihren Vorgesetzten Phagus. Dennoch kam es ihnen gobinisch vor, daß innerhalb von weniger als einem Vierteljahr schon zum dritten Mal ein junger Mann den Schreiber geschlagen haben soll. Doch Phylus konnte sich auf seinen Halbbruder verlassen. Er streckte seinen kleinen Finger aus, während er die Hand zur Faust ballte. Auf dieses Zeichen hin bestätigte Phagus: „Ich habe auch gesehen, wie Scriptor Phylus geschlagen wurde. Werft den Aufständischen in das Gefängnis, Abteilung „Wahrheit tut weh“!“
So kam es, daß Zorl ein Gefängnisinsasse wurde. Irgendwie wurde er nie wirklich fair behandelt.