Wie Ernie Erpelgrün schwimmen lernte
Wie Ernie Erpelgrün schwimmen lernte
Ernie Erpelgrün war schon zwei Wochen alt und hatte noch nie einen Fuß ins Wasser gesetzt. Seine sechs Geschwister schwammen bereits seit vielen Tagen immer wieder ausgelassen mit der Mutter im Teich herum. Was hatte Mama Erpelgrün nicht alles versucht, um auch ihren kleinen Ernie ins Wasser zu bekommen! Gebeten hatte sie ihn! Angefleht! Geschimpft hatte sie und sogar damit gedroht, ihm beim nächsten Essen keinen Nachtisch zu geben! Das alles hatte nicht gewirkt. Ernie wusste, dass Mama ihn viel zu lieb hatte, um ihm den Nachtisch – leckere Mückeneier! – zu verweigern. „Das Wasser sieht eklig und tief aus und ist bestimmt sehr kalt!“, sagte Ernie, wenn Mama oder sonst jemand ihn fragte, warum er nicht schwimmen würde.
„Alle Enten schwimmen!“, erklärte Mama ihm, „schon wenige Tage nach der Geburt!“
„Ich nicht - ich kann nicht schwimmen!“, sagte Ernie dann.
„Dummes Zeug“, hatten Mama und Papa Erpelgrün schon oft gesagt, „alle Enten können schwimmen! Von Geburt an! Wir Enten brauchen nicht mal einen Schwimmlehrer!“
„Ich kann nicht schwimmen!“, beharrte Ernie. Und so saß er am Ufer, während Mama und Bobby und Bibi und Trutzi und Lucy und Luggi und Mucki auf dem Teich herum schwammen. Ernie beachtete sie gar nicht. Er schaute gelangweilt in den Himmel, baumelte mit den Beinen und tat so, als höre er nicht, wenn es doch mal wieder jemand versuchte: „Los, Ernie, komm doch ins Wasser! Es ist herrlich warm! Und Schwimmen ist groovy und kükenleicht!“
Nein, Ernie wollte nicht schwimmen.
Auch Papa Erpelgrün, der jeden Tag auf dem nahegelegenen Bauernhof arbeitete, versuchte abends, seinen ängstlichen Sohn zu ermutigen. „Schwimmen ist für uns Enten lebenswichtig!“, erklärte er seinem Sohn. „Wenn ein Fuchs hinter dir her ist und du dich ins Wasser retten willst, musst du schnell und ausdauernd schwimmen können! Füchse sind nämlich gute Schwimmer!“, hatte er seinem Sohn erzählt und ihm damit nur noch mehr Angst bereitet.
Sogar Karl Karpfen, ältester Bewohner und Bürgermeister des Teiches, tauchte gelegentlich nahe dem Ufer auf und versuchte, Ernie zu ermutigen. „Komm blubb doch ins Wasser blubb, Ernie!“, blubberte Karl, dessen Rücken schon von Moos überwachsen war. „Ich pass blubb auf dich auf blubb, damit du blubb nicht unterblubberst!“ Damit konnte er Ernie die Angst vorm Schwimmen nicht nehmen. Nein, Ernie war sicher, nicht schwimmen zu können und sofort unterzugehen und zu ertrinken, wenn er sich ins Wasser begeben würde. Also blieb Ernie am Ufer sitzen und langweilte sich.
Hey – wer kommt denn da angewatschelt!? Das ist doch … das ist doch Fiona Federweich! Ernies Lieblingskameradin aus der Regenwurmgruppe von Frau Bürzelbreit im Kükengarten! Oh – Fiona …! Ernie konnte nicht leugnen, dass er ein wenig in Fiona verliebt war! Sein kleines Herz schlug heftiger, wenn sie morgens in den Kükengarten kam und ihn begrüßte: „Guten Morgen Ernielein, nag nag! Hast du gut geschlafen, nag nag?“ Mit keinem Küken spielte Ernie so gerne Fangen und Verstecken und „Entchen in der Grube“, wie mit Fiona! Und nun kam sie hierher, zu ihm an den Teich! Ernie war ganz aufgeregt! Und wie schön sie wieder aussah! Ach - Fiona …!
„Hallo Ernie, nag nag, was machst du hier, nag nag?“, fragte Fiona, als sie bei ihm war. Da fiel es Ernie auf, warum die kleine Entendame noch hübscher aussah als sonst! Sie trug eine wunderschöne rote Schleife um den Hals!
„Ach … ich schau Mama und meinen Geschwistern beim Schwimmen zu!“
„Und warum schwimmst du nicht mit, nag nag?“, fragte Fiona.
Um von der Frage abzulenken, lobte Ernie: „Das ist aber eine schöne Schleife, die du da trägst, Fiona!“ Fiona war geschmeichelt. „Findest du wirklich, nag nag, Ernie?“, fragte sie und wiegte sich in den Hüften.
„Aber ja!“, sagte Ernie, „ sie ist wunderschön! Sie steht dir unheimlich gut!“ Und um den schönen Stoff zu spüren, zupfte Ernie mit seinem Schnabel ein wenig an Fionas roter Halsschleife.
Oh weh! Das hättest du besser nicht tun sollen, Ernie Erpelgrün!
Fiona, ganz aufgeregt von Ernies großem Lob, tänzelte vor Freude auf der Stelle. Und als Ernie an dem einen Ende der Schleife zupfte – nur ganz vorsichtig tat er das! - da löste sich die Schleife von Fionas zartem Hals! Und ein kleiner Wind kam - huiiii - ergriff die Schleife, trug sie bis zur Mitte des Teiches und ließ sie dort ins Wasser fallen!
„Uääähuäckuäckuäck! Uääähuäckuäckuäck! Uäääck!“, begann Fiona sofort und herzerweichend zu weinen. Ernie war verzweifelt! Seine Fiona - bitter weinend! Dort auf dem Teich schwamm ihre wunderschöne Schleife, die unterzugehen drohte, wenn sie nicht schnell geborgen wurde! Mama und Ernies Geschwister waren weit fort im Schilf. Dort tobten sie so laut herum, dass es zwecklos war, nach ihnen zu rufen – sie würden ihn nicht hören! Und selbst von Karl Karpfen war nichts zu sehen!
„Uääähuäckuäckuäck! Uääähuäckuäckuäck! Uäääck!“ Fiona weinte immer lauter, immer herz- und steinerweichender!
„Was mach ich nur – was mach ich nur!“, fragte Ernie sich und Fiona verzweifelt.
„Du musst sie holen, uäck uäck, bevor sie untergeht, uäck uäck!“, schluchzte Fiona.
„Ja … sicher ... du hast recht … ich werde … das ist … ist eine gute I-i-idee!“, stammelte Ernie und spürte, wie ihm vor Angst übel wurde.
„Nun mach schon, uäck uäck, Ernie! Sieh doch – sie geht gleich unter, uäck uäck!“
Ernie schluckte schwer. Dann ging er vorsichtigen Schrittes die Uferböschung hinab. Da stand er, nur einen Entenfuß vom Wasser entfernt! So nah war er dem Teich noch nie gewesen! Und wie der roch! Und wie der aussah! So grün und so kalt und so tief! Und Fionas Schleifchen so weit draußen auf dem Wasser! „Bis dahin könnte ich zehnmal ertrinken!“, ging es Ernie durch das angsterfüllte Köpfchen!
„Ernieeee - uäck uäck!“, hörte er Fiona jammern.
Und dann nahm Ernie das bisschen Mut, das er in seinem Herzen finden konnte, zusammen. Ganz vorsichtig stippte er den linken Fuß ein wenig ins Wasser. „Brrrr!“ Schnell zog er ihn wieder heraus. Dann stippte er den rechten Fuß ganz vorsichtig und nur mit der Spitze ins Wasser und zog ihn – „Brrr!“ – sofort wieder heraus.
„Ernieeee - uäck uäck uääääck!“
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn er Fiona jemals wieder unter die bezaubernden Augen treten wollte, musste Ernie ins Wasser! Und wenn er dabei ertrank!
Er legte die Spitzen seiner Flügelchen über Augen und Schnabel, sprang und landete - Plitsch! - im Wasser!
„Hey – was ist … was ist das?“, dachte Ernie und strampelte unter Wasser mit seinen großen Füßen. „Ich bewege mich auf dem Wasser!“, rief er. „Ich gehe nicht unter – ich schwimme!“, freute er sich und jubelte ganz laut: „Und es ist gar nicht kalt!“
„Da - seht mal: Ernie schwimmt!“, hörte er Bobby rufen – oder war es Bibi?
„Na also blubb, es geht doch blubb! Ich habs dir doch blubb immer gesagt blubb!“, blubberte Karl Karpfen, dessen gewaltiger Schädel plötzlich vor Ernie aus dem Wasser tauchte.
„Mama – sieh mal! Ich kann schwimmen!“, rief Ernie seiner Mutter zu, die flugs angeschwommen kam.
Ernie schwamm links herum. Und Ernie schwamm rechts herum. Und wieder links herum und noch mal rechts herum! Ernie schwamm ein richtiges Entenballett auf dem Teich!
„Ernieeee - uäck uäck uääääck!“
Oh je! Fast hätte Ernie vergessen, warum er ins Wasser gesprungen war! Hurtig schwamm er zur Mitte des Teiches, begleitet von seiner Mutter und seinen Geschwistern! Er fand Fionas Schleife – schon ein Stück weit unter der Wasseroberfläche! Ernie steckte das Köpfchen ins Wasser und das Schwänzchen in die Höhe und tauchte und tauchte, bis er Fionas Schleifchen zu fassen bekam! Waren das ein Jubel und ein Applaus, als Ernie wieder auftauchte, mit dem roten Schleifchen im Schnabel!
„Na siehst du, Ernie!“, sagte Mama Erpelgrün, „was hab ich dir gesagt – du kannst schwimmen! Und sogar tauchen kannst du!“
„Ja, Mama, iff kann pfimmen“, nuschelte Ernie und öffnete das Schnäbelchen mit der Schleife darin nur so weit, wie es zum Sprechen unbedingt nötig war, „und ab jepft pfimme ich immer mit euff mit! Aber jepft muff iff erftmal …“
„Ernie! Du hast sie! Du hast meine Schleife!“, freute sich Fiona und hüpfte aufgeregt am Ufer auf und ab.
Und nur wenig später band Ernie gemeinsam mit seiner Mutter die Schleife wieder um Fionas Hals herum.
„Danke Ernie, nag nag!“, sagte Fiona und küsste ihren Freund sogar auf die Stirn! „Ich war so aufgeregt und so ängstlich – ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, selbst in den Teich zu springen und die Schleife herauszuholen!“
„Ach, das macht doch nichts!“, winkte Ernie ab, „ich hab das gerne getan, ich schwimme und tauche nämlich sehr gerne, weißt du, Fiona?“
„Natürlich!“, sagte Fiona, „alle Enten schwimmen gerne, Ernie!“
„Ja genau“, sagte Ernie und zwinkerte seiner Mutter mit einem Auge zu. „Was ist, Fiona - hast du Lust mit mir schwimmen zu gehen?“
„Aber ja, nag nag!“
„Los – wer als Erster im Wasser ist!“, rief Ernie. Und er und Fiona und seine Geschwister liefen los und sprangen alle fast gleichzeitig ins Wasser. Und der alte Karl Karpfen erlebte eine tobende Entchenschar, wie er sie in seinem langen Leben noch nicht oft gesehen hatte. Und am lautesten und ausgelassensten schwamm und tauchte und tobte Ernie Erpelgrün im Wasser herum!