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Wie ein Vogel
Prüfend hält er die Feder ins Licht. Sie schillert in einem dunklen Nachtblau, das ihm gefällt. Am liebsten würde er sie behalten, aber das geht nicht.
Es ist eine Elsterfeder. Er lacht leise, als er daran denkt, wie gut das doch passt. Wo er doch selbst wie eine Elster ist. Nur sammelt er keine glänzenden Gegenstände, sondern Federn.
Für sie. Alles nur für sie. Alles, was er tut.
Er verstaut die Feder in seinem Rucksack, vorsichtig legt er sie zwischen die Seiten seines Vogelbuchs, das er nur wegen ihr gekauft hat. Ihn interessieren diese Viecher nicht besonders, aber er kann ihre Leidenschaft trotzdem verstehen, natürlich kann er das.
Wie ein Vogel will ich sein, hat sie immer gesagt. Sie wollte fliegen.
Sie wird sich freuen, wenn er ihr wieder ein paar schöne Federn bringt, ganz bestimmt. Und dieses Jahr werden es noch mehr und noch schönere Federn sein, das hat er sich vorgenommen. Er will sie doch nicht enttäuschen.
Er sucht noch ein wenig weiter, obwohl er weiß, dass er nichts Brauchbares mehr finden wird. Aber die Elsterfeder, auf die ist er wirklich stolz. Wie wunderschön sie ist!
„Sie schimmert im Licht der Sonne wie deine Augen“, flüstert er.
Er fährt sich mit der Hand über das Gesicht, erschöpft. Schon seit dem frühen Morgen ist er hier und hat gesucht. Viele Stunden lang, bis er das Juwel fand, das jetzt in seinem Rucksack steckt.
In seiner Wohnung sieht er sich die vielen Federn an, die er in den letzten Monaten für sie gesammelt hat. In allen Größen und Farben liegen sie vor ihm auf dem Küchentisch. Die meisten würden sie für wertlos halten, diese Sammlung, für die er so viel geopfert hat.
Er sieht sie sich alle einzeln an, Feder für Feder. Manche sind ein wenig zerzaust, andere zu gewöhnlich oder nicht schön genug. Eine Feder nach der anderen landet auf dem Boden, achtlos hat er sie hinter sich geworfen.
Am Ende liegen nur noch vier Federn vor ihm. Eine braun-weiße, die von einem Rotmilan stammt, einem ihrer Lieblingsvögel. Die blau-schwarz-gestreifte eines Eichelhähers. Und die schimmernde Elsterfeder, die er am Morgen gefunden hat.
Die letzte Feder ist ganz weiß. Er weiß nicht, von welchem Vogel sie stammt. Er hat nie nachgesehen, dabei hat er sie schon am längsten.
Er nimmt sie in die Hand und dreht sie langsam zwischen den Fingern.
„So weiß wie die Lilien auf deinem Sarg“, sagt er.