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Wie ein Schmetterlingsleben
„Also habe ich dir mein Leben zu verdanken?“, fragte Francesca. Sie hatte ihren langen Pony über die linke Gesichtshälfte gekämmt, um die Brandnarben zu verbergen.
Ruben senkte den Blick und schwieg, als überlegte er, was er ihr entgegnen sollte. Die Stimme dieser Frau erinnerte Ruben an das kleine Mädchen von früher. Nur viel härter.
„War es wegen Dana, dass ich das Glück hatte?“
„Ich kann nicht jedes Leben retten“, zuckte Ruben mit den Schultern und Francesca merkte plötzlich, dass sie, trotz seiner ergrauten Schläfen und des Botschaftertitels, nicht mehr zu ihm aufsah, wie sie es als Kind getan hatte.
***
„Ist er tot, Daddy?“, Danas Augen schauten groß und golden zu ihm hinauf. Rubens Tochter stand neben Francesca, deren kleine Kinderhände ungeschickt einen im Vergleich zu ihnen riesigen schwarzen Falter umklammerten und seine geknickten Flügel weiter verbogen. Ruben befreite das Insekt vorsichtig aus den rosigen Fingern. Irgendetwas war noch da in diesem kleinen Klumpen aus Chitin und Fleisch, das leicht am Rande seines Bewusstseins kribbelte, wenn Ruben danach Ausschau hielt. Ungelenk setzte er sich auf den Waldboden, um auf Augenhöhe mit den Mädchen zu sein.
„Daddy?“, Dana ziepte ungeduldig an seinem Anzugsärmel.
„Der Schmecherling ist dosch schon tot.“ Paul, eines der Nachbarskinder, stand plötzlich neben ihnen und ihm folgten die drei anderen, auf eine kindlich grausame Art neugierig mal auf das dunkle geflügelte Insekt auf Rubens Hand, mal auf die beiden Mädchen schauen. Danas Augen füllten sich mit Tränen.
„Du darfst nicht weinen“, stellte Francesca letztendlich ernst fest und putzte den grauen Staub, der ihre Finger bedeckte, an der kurzen Hose ab. Fast ein Jahr älter als die anderen, war sie die unangefochtene Anführerin der kleinen Bande. „Der war eh hässlich, schwarz!“, ergänzte sie und griff nach Dana, um sie wieder zu den Spielgefährten zu ziehen. Aber das rothaarige Mädchen blieb stur stehen, die Augen immer noch fragend auf ihren Vater gerichtet.
„Warum ist er tot, Daddy?“, und als der erste, salzige Tropfen die Kinderwange entlang lief, deckte Ruben den Falter mit der anderen Hand zu und schloss für einen Augenblick die Augen, darauf konzentriert, ein bisschen Leben in das kleine Wesen zu pumpen. Er öffnete die Hände und pustete auf das Insekt, wie ein Zauberer, der aus einem bunten Tuch plötzlich Tauben hervorbringen möchte. Der Nachtschmetterling zögerte kurz und war dann plötzlich weg, ein dunkler Fleck gegen das helle Licht, das durch die Baumkronen fiel.
„Er war doch gar nicht tot, bloß krank – er wollte schlafen“, sagte Ruben und das Lächeln, das Danas Gesicht unter den roten Augen zum Leuchten brachte, ließ auch ihn grinsen. „Und jetzt husch, und stört keine weiteren Schmetterlinge beim Schlafen! Ihr dürft sie nicht einfach so mitnehmen.“
Ruben beobachtete die Kinder, welche die Überraschung schnell vergessen hatten und zum nahen Haus, mit seinem kleinen Spielplatz und schier endlosem Spielzeugvorrat spurten, Dana und Francesca wie immer fest aneinander geklammert und aufgeregt irgendwas diskutierend, was in ihrer Kinderwelt ausgesprochen wichtig war.
Dann hörte er andere Schritte hinter sich, kein Tippeln kleiner Füße.
„Nicht gerade pädagogisch wertvoll'“, bemerkte Claire und ging neben ihm in die Hocke. „Dana wird lernen müssen, mit dem Tod umzugehen. Sie können nicht jeden retten, Botschaftsattaché Linder.“ Die Witzelei konnte die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang, nicht verbergen.
Ruben atmete schwer ein und blieb ihr eine Antwort schuldig. Natürlich hatte sie recht, aber...
Claire setzte sich auf den Boden und legte den Kopf auf Rubens Schulter. Er umarmte sie. Hinter ihnen spielten die Kinder und Danas silbernes Lachen war deutlich gegen das Zirpen der Waldinsekten zu hören.
***
Dana, die sonst nicht gerade unter Schüchternheit litt, klammerte sich an sein Bein. Das Rot ihrer wilden Locken war der einzige Farbfleck in dem weißen, sterilen Raum. Ruben hob sie auf und seine Tochter suchte sich in seiner breiten, langsam füllig werdenden Gestalt zu verstecken.
„Ich weiss nicht, ob es der Kleinen gut tut...“, meinte die Krankenschwester und blickte sich unsicher umher, stumm ihre Kollegin um Unterstützung bittend, die ihren Kopf bloß tiefer in den Akten verbarg.
„Darüber, was gut für unser Kind ist, entscheiden wir als Eltern. Die schriftliche Zustimmung meiner Frau liegt vor. Und Francescas Mutter hat Dana eine Besuchserlaubnis erteilt.“
Wenn Dana älter werden und Ruben keuchend die Karriereleiter erklommen haben würde, würde sie diese Stimme ihres Vaters als die Stimme erkennen: Sehr weich, leise, aber mit einem metallenen Unterton, sollte sie zum Markenzeichen von Botschafter Linder werden. Aber für Dana war sie jetzt wie später etwas sehr beruhigendes.
Die Krankenschwester schob ihm die Papiere herüber. „Als Erziehungsberechtigter und Begleitperson müssen Sie das hier ausfüllen. Und für die Krankenzimmer brauchen Sie einen Kittel, ich muss schauen, ob wir einen passenden für das Kind haben. So junge Besucher werden normalerweise nicht hierher gebracht!“
„Wird sie sterben, Daddy?“, fragte Dana, als sie endlich vor Francescas Bett saßen. Sie schien sich den Satz lange auf der Unterlippe kauend überlegt zu haben und Ruben streichelte ihr beruhigend mit den Fingerkuppen über das warme Kinn, um sie davon abzuhalten.
„Ich weiß es nicht, Dana“. Er hielt die Kleine fest umarmt, mit der Nase fast ihren zart duftenden Kindernacken berührend. „Das geschieht manchmal. Keiner weiß, was passieren kann, weißt du? Aber jetzt ist Francesca ja da und auch wenn sie nicht mit dir sprechen kann, kann sie dich sicherlich hören. Magst du ihr was schönes erzählen?“
Dana blickte scheu zu dem Bett und dem kleinen Körper, der unter den Lacken kaum zu erkennen war.
„Daddy – kannst du sie gesund machen? Wie den Schmetterling?“
Kluges Kind, das sich an so vieles erinnerte.
„Daddy ist kein Zauberer.“
Sie runzelte die Stirn, als könne sie sich nicht entscheiden, ob er log. Erwachsene waren Zauberer und ihre Eltern, ihr Daddy, besonders.
Ruben setzte Dana vorsichtig auf den Boden ab. Er wusste ja weswegen er gekommen war.
„Erzähl Francesca von dem Kindergarten. Erzähl, wie ihr mit Frau Anneke im Zoo wart!“
Dana schwieg.
„Was für Tiere habt ihr da gesehen?“
„Pferde und Fische... Und einen Löwen. Und Elefanten.“
„Und was haben die Elefanten gemacht?“
Während er Dana automatisch weitere Fragen stellte, bis sie selbst zu erzählen anfing, machte er einen Schritt in Richtung des Bettes und griff nach der unter Verbänden versteckten Hand des Kindes, suchte nach einem Fleckchen offener Haut, fand es und spürte die Welle des Schmerzes gegen sein Bewusstsein anrennen, versuchte sie abzuwehren, ohne die eigenen Abgründe offen zu legen. Nicht einem Kind...
Er konnte Francesca nicht, wie dem Schmetterling, einfach einen Teil seiner Kraft geben. Eine solche Infusion würde bestenfalls Stunden halten, aber das Kind nicht retten. Aber er konnte seinen gesunden Körper dem anderen zuflüstern lassen, was zu tun sei, konnte die latent bei allen Menschen vorhandene Fähigkeit zur Selbstregeneration, die bei ihm selbst zusammen mit der Kraft so stark ausgeprägt war, auch in Francesca aufwecken.
Das leise Wirken der Apparate wurde plötzlich durch eine ohrenbetäubende Kakophonie des Alarms ersetzt. Ohne die Ausschläge auf den Monitoren zu verstehen, wusste Ruben doch, dass Francescas Körper den Kampf aufgenommen hatte. Vor Müdigkeit und Schmerz kaum etwas sehend, drückte er seine Tochter, die in ihrer Erzählung innegehalten hatte, an sich und sich in die Ecke des Krankenhauszimmers, um von den hineinstürmenden Ärzten des Raumes verwiesen zu werden.
Die Krankenschwester am Empfang der Station schaute Vater und Tochter vorwurfsvoll hinterher. Sie wusste nicht, was geschehen war. Wie wäre ihr Blick sonst? Dankbar für das Leben des Kindes? Vorwurfsvoll, weil er seine Kraft nicht dem Krankenhaus zur Verfügung stellte? Angewidert, weil Francesca nun verändert war und ihr Leben lang fremde Erinnerungen in sich tragen würde, die Erinnerungen eines Erwachsenen, eines Mörders, der sich bewusst dagegen entschloss zu retten, wen er retten konnte? Nur Danas Wärme neben ihm hinderte Ruben daran, jenes Geheimnis, das er und mit ihm Claire seit so vielen Jahren hüteten, in die Welt hinaus zu schreien und damit das Gewicht der Entscheidung von seiner Seele zu nehmen.
Draußen, auf der Parkbank, sah das rothaarige Mädchen mit unkindlichem Ernst zu ihrem Vater hinauf, krabbelte dann in seinen Schoß und verharrte bemerkenswert leise und geduldig dort, ein kleiner, klarer Leuchtturm in dem Nebel der Erschöpfung um Ruben, bis Claire die beiden abholte. Auf dem Weg zum Auto stützte sich Ruben schwer auf sie.
***
„Wie kannst du es wagen, eine Entscheidung zu treffen, welches Leben es wert ist und welches nicht?“
„Es ist komplizierter als das“, entgegnete Ruben, aber Francesca wollte sich nicht damit zufrieden geben.
„Warum ich und nicht das Kind im Zimmer nebenan? Vielleicht hätte es mehr Chancen auf ein gutes Leben gehabt als ich. Das ist anmaßend, dass nur weil deine Tochter es wollte...! Woher glaubst du das Recht dafür zu haben, den anderen zum Tod zu verurteilen?“
Wie viel einfacher war es für die anderen. Für Menschen wie Francesca, die ohne die Kraft geboren worden waren. Für die brabbelnden Idioten, deren Kraft durch Hirnschäden oder die wegen der Strahlungsbelastung noch häufiger gewordenen chromosomale Abberrationen getriggert wurde.
„Ich habe kein Recht dazu. Aber habe ich nicht das Recht zu entscheiden, wie ich Leben rette? Ich gehe hinaus in diese Welt und verhindere Kriege. Oder willst du Atomraketen in Berlin und Moskau einschlagen sehen, nicht nur in Vatikan, Jerusalem, Delhi? Meine Kraft reicht vielleicht dazu vielleicht jede Woche, vielleicht einen Menschen zu retten, der ohne meine Hilfe vielleicht sterben würde und der vielleicht den Preis für diese Heilung zahlen will: Danach verändert zu sein und einen Teil meiner Persönlichkeit in sich zu tragen. Sicherlich kann Botschafter Linder mehr Leben retten, als Ruben, der Mann, dessen Kraft leider nicht mit einer geistiger Behinderung einherging.“ Früher, als er sich eingebildet hatte, niemand außer ihm und Claire wisse von seinem Fluch, und sich der Illusion hergab, selbst über sein Schicksal bestimmen zu können, hatte Ruben diese Rede oft geübt, um sie vor dem Tribunal der Öffentlichkeit vorzutragen. Obwohl er nun wusste, dass seine Entscheidung von den höchsten Stelle gestützt wurde, kamen ihm die Worte leer vor.
„Ich möchte keine Grundsatzdiskussion mit dir führen, Francesca“, sagte Ruben schließlich müde.
„Was willst du dann?“
„Dass du dich aus der Sache raushältst.“
„Deinetwegen? Oder wegen Dana? Erwartest du, dass ich meine Treue gegenüber meiner Kindheitsfreundin über meine Treue den Menschen gegenüber stelle?“
„Nein, weder meinetwegen noch wegen meiner Tochter. Deinetwegen, Francesca.“
Sie blickte ihn, das rechte, sehende Auge weit aufgerissen, an. Und begriff. In jemands Augen war seine Arbeit wichtiger, als das Leben so vieler Kranker. Auch als das Francescas.
„Ist Dana...?“, fragte Francesca nach einer langen Pause und ließ das Wort unausgesprochen. Ein Freak? Eine Massenmörderin, jeden Tag ein schwer verletztes Kind, eine an Tuberkulose erkrankte Schwangere, einen von AIDS geschwächten Vater umbringend? Für Francesca war es wichtig, zu erfahren, ob auch Dana sie verraten hatte.
Ruben schüttelte den Kopf. Dana war nicht einmal seine leibliche Tochter, er hätte diese Last einem Kind nicht aufbürden können.
Als Francesca sich entschuldigte und sein Kabinett verließ, starrte Ruben lange die geschlossenen Türen an. Dann ließ sich Botschafter Linder von seiner Sekretärin bestätigen, dass für heute keine weiteren Termine anstanden und hievte seinen schweren Körper aus dem Sessel. Er würde heute früher heimgehen, zu Claire und zu Dana, die wie immer, wenn ihr Vater nicht gerade in einem der Krisengebiete eingesetzt war, ihre Semesterferien bei den Eltern verbrachte.