Wie ein nasser Sack
„So, jetzt alle rüber zu den Seilen!“. Tobias stöhnte leise auf. Ausgerechnet heute! Es war schon schlimm genug, wenn die Jungen aus seiner Klasse zusahen, wenn er wie ein nasser Sack am Seil hing. Aber heute hatten sie gemischten Sportunterricht, das hieß zusammen mit den Mädchen. Und das wiederum bedeutete, zusammen mit Rebecca. Sie ging seit zwei Monaten in Tobias Klasse und war ganz anders als seine anderen Mitschülerinnen. Die kicherten immer nur albern herum, während Rebecca das süßeste Lächeln der Welt hatte. In der letzten Zeit hatte Tobais das Gefühl gehabt, als wenn sie ihn besonders häufig anlächelte. Aber das würde sich bestimmt ändern, wenn sie erst Zeugin von Tobias Versagen geworden war. Warum konnte Frau Richter nicht etwas anderes mit den Kindern machen? Etwas, worin Tobias gut war. Laufen, zum Beispiel, konnte er wirklich schnell, und er war auch ein toller Volleyballspieler. Aber er schaffte es einfach nicht, dieses blöde Seil hinaufzuklettern.
Währenddessen hatte die Klasse sich an den drei dicken Tauen zusammengefunden, die in einer Ecke der Turnhalle von der Decke hingen. „Links in drei Reihen aufstellen“, befahl die Sportlehrerin. Dann klatschte sie in die Hände: „Los jetzt“. Die ersten drei Schüler kletterten langsam an den Seilen hinauf. Als sie wieder unten waren, liefen sie zur rechten Seite, und die nächsten drei waren dran. Ulli schaffte es bis ganz nach oben, aber auch die anderen erreichten mindestens die Hälfte des Seils. Bis Tobias an der Reihe war. Während er auf das mittlere Tau zulief, dachte er: „Diesmal muss ich es schaffen. Jedenfalls ein paar Meter“. Er umfasste das Seil mit beiden Händen und stieg mit den Füßen auf den dicken Knoten am unteren Ende. Und dort hing er dann, fest an das Tau geklammert, und unfähig, Hände und Beine zu bewegen. Irgendjemand kicherte. „Hier wird niemand ausgelacht“, schimpfte Frau Richter und sagte dann: „Das reicht, Tobias. Der nächste ist dran“.
Mit rotem Kopf sprang Tobias vom Seil und lief zu der Gruppe auf der rechten Seite. Ulli empfing ihn mit einem überheblichen Grinsen, und auch die anderen schienen sich über ihn lustig zu machen. Zur anderen Seite sah Tobias lieber gar nicht erst hin. Mit gesenktem Kopf stand er da, um nur ja nicht Rebeccas Blick zu begegnen. Daher verfolgte er auch nicht, wie die anderen Jungen und Mädchen mit dem Klettern zurechtkamen. Erst als er Mario flüstern hörte: „Die hängt da wie ein nasser Sack“, sah er wieder auf. Und er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen: Rebecca klammerte sich an das schwankende Seil, die Füße auf dem Knoten. Sie schaffte es nicht, auch nur einen Zentimeter nach oben zu klettern. Entgeistert starrte Tobias sie an. Und dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Es machte ihm überhaupt nichts mehr aus, dass er nicht Seilklettern konnte. Denn das war schließlich auch etwas Besonderes. Das merkte er genau, als Rebecca nun auf ihn zukam. Woran? Natürlich an ihrem strahlenden Lächeln.