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Wie ein Flüstern im Wind
Es ist September. Die Sonne steht hoch und brennt heiß von einem wolkenlosen Himmel herab. Flimmernd liegt die Hitze über der spanischen Landschaft, wie eine Glasglocke, die Mensch und Tier gleichermassen die Luft zum Atmen nimmt.
Ich sitze unter dem großen Olivenbaum im Garten meiner Finca, den Rücken an den alten knorrigen Stamm gelehnt und die Arme über der Brust verschränkt. Über mir erstreckt sich, von starken Ästen getragen, ein riesiges, grünes Blätterdach. Es ist so dicht, dass es fast keinen Sonnenstrahl hindurchlässt und mir wohltuenden Schatten spendet. Entspannt schließe ich die Augen, genieße die Ruhe und schicke meine Gedanken auf Reisen. Nur die Geräusche der Natur dringen ab und zu in mein Bewusstsein, das Summen der Bienen – das Gezwitscher der Vögel – das vereinzelte Bellen eines Hundes. Am Himmel zieht eine Möwenschar laut schreiend ihre Kreise und lässt mich die Nähe zum Meer spüren. Eine leichte Brise fährt durch die silbrig schimmernden Blätter des Olivenbaums. Es klingt wie ein sanftes Flüstern und wenn ich mich ganz genau darauf konzentriere, kann ich es sogar verstehen.
Der Baum erzählt mir die Geschichte von der schönen Maurenprinzessin Zahara und dem Christen Juan, die vor über sechshundert Jahren in dieser Gegend gelebt haben.
„Die Mauren hatten damals Spanien besetzt und in eigenständige Kleinreiche, die sogenannten Taifas eingeteilt“, beginnt der Baum leise zu murmeln.
„Zahara war die Tochter des grausamen Maurenfürsten Ben Abed El Hacid, der den Landstrich zwischen Valencia und Alicante beherrschte. Sie galt als das hübscheste Mädchen unter Allahs Sonne, groß gewachsen, von schlanker Gestalt und mit langen schwarzen Haaren, in deren Glanz man sich spiegeln konnte. Ihr Vater hütete sie wie seinen Augapfel, denn ihre Mutter war seine Lieblingsfrau Fatima. Eines schönen Sommertages schlich sich Zahara unbemerkt aus der Burg. Sie liebte es, im warmen Sonnenschein spazieren zu gehen und die Natur zu betrachten. Als sie müde wurde, legte sie sich unter mein dichtes Blättergeflecht und schlief bald darauf ein. Und genau an dieser Stelle entdeckte sie Juan, der ganz in der Nähe auf dem Weinfeld seines Vaters gearbeitet hatte und auf seinem Heimweg an der schlafenden Prinzessin vorbeikam. Oh ja“, seufzt der alte Olivenbaum, „der arme Juan war vom ersten Augenblick an wie verzaubert von Zaharas Schönheit. Und wie er sich so über sie beugte, die zarten Züge ihres Gesichts mit den sanft nach oben gebogenen, langen Wimpern und dem vollen Mund betrachtete und schließlich nicht umhinkonnte, sie vorsichtig zu berühren, da erwachte sie und schaute ihn mit ängstlichen, weit aufgerissenen Augen an. Es waren die schönsten Augen, die Juan je gesehen hatte, dunkelbraun mit hunderten von kleinen leuchtenden Sternen darin. Zahara wich zunächst erschrocken zurück, doch Juan gelang es, sie zu beruhigen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Von dem Moment an hatte auch Zahara ihr Herz verloren. Sie trafen sich nun fast jeden Tag bei mir, die schöne Maurenprinzessin und der arme Bauernbursche. Unter meinen Ästen hielten sie sich im Arm und gaben sich einen ersten zaghaften Kuss. Ihre Liebe wurde von Tag zu Tag tiefer, doch in ihrem tiefsten Inneren wussten beide, dass die Verbindung niemals eine Zukunft haben würde. Eine Muslimin und ein Christ durften sich nur hassen und niemals lieben.
Aber Allah und Gott lächelten wohlgefällig auf die beiden herab.
Zur gleichen Zeit wollte es das Schicksal, dass der Sultan Hassan Ibn Ben Mullay von Zaharas Schönheit gehört hatte und vorhatte, diese zu seiner zweiten Frau zu nehmen. Zahara fing fürchterlich an zu weinen , als ihr Vater ihr eröffnete, dass sie in einem Monat die zweite Frau des Sultans werden sollte. Sie tobte und schrie, dass sie diesen Sultan niemals heiraten würde, obwohl sie wusste, dass sie sich ihrem Schicksal fügen musste. Noch einmal wollte sie sich mit ihrem Geliebten treffen, um diesem von ihrem traurigen Schicksal zu erzählen. Also schlich sie sich ein letztes Mal aus der Burg um sich mit Juan im Schatten meiner Äste zu treffen. Sie hatte jedoch nicht bemerkt, dass ein Bediensteter ihres Vaters ihr gefolgt war, welcher diesem natürlich genaustens Bericht erstattete. Als der Fürst erfuhr, dass sich seine Tochter mit einem Bauernjungen, der noch dazu ein Christ war, traf, sperrte er Zahara ein und schwor, sie erst wieder am Tage ihrer Hochzeit herauszulassen.
Juan wartete nun täglich vergebens auf seine Zahara“, flüstert der alte Olivenbaum und lässt seine Blätter traurig nach unten hängen.
„Juan war verzweifelt und gab die Hoffnung nicht auf, seine Geliebte noch einmal zu sehen. Tag um Tag verging, doch Zahara erschien nicht. Er beschloss, nur noch ein einziges Mal in meiner Nähe auf sie zu warten.“
Der Baum hält einen kurzen Moment inne. Es scheint, als ob es ihn viel Mühe koste, mit der Geschichte fortzufahren.
„Als Juan am nächsten Tag auf mich zukam, sah er schon von weitem Zahara, die, ihm den Rücken zudrehend, an meinem Stamm lehnte. Ihr Haar und ihr Gesicht waren von dem golddurchwirkten Schleier bedeckt, den sie auch bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte. Überglücklich wollte Juan seine Geliebte in die Arme schließen. Doch in dem Moment, als er ihre Schultern berührte, drehte sich die Gestalt herum und stieß einen Dolch in sein Herz.“
Der Olivenbaum raschelt mit seinen Blättern, es klingt so, als ob er schluchzt.
„Nie werde ich diesen Ausdruck auf Juans Gesicht vergessen“, flüstert er, „diesen Ausdruck von Schmerz, Entsetzen und gleichzeitigem Erstaunen, als er erkannte, dass es Zaharas Vater war, der ihn in ihren Kleidern getäuscht hatte und ihm nun den Tod brachte.“ Auch mir werden jetzt die Augen feucht und als der Baum mir das Ende der Geschichte erzählt, wie Zahara vom Tod ihres geliebten Juans erfuhr und am Tag ihrer Hochzeit zu Füßen des alten Olivenbaumes wieder für immer mit ihm vereint war, da kann ich es nicht mehr verhindern, dass mir die Tränen die Wangen hinunterlaufen, Tränen des Mitleids über das traurige Ende dieser Liebesgeschichte, und Tränen der Wut darüber, dass unterschiedliche Religionen und Standesunterschiede wieder einmal unüberwindbare Hindernisse waren.
„Was für ein trauriges Ende“, sage ich und streichel zärtlich über die alte, zerfurchte Rinde des Olivenbaumes, der mir bestimmt noch viel mehr erzählen könnte.
„ Und weißt du was, mein lieber Baum, obwohl deine Geschichte vor vielen hundert Jahren passiert ist, sind die Menschen noch nicht klüger geworden."
Ich stehe auf und gehe langsam zurück zum Haus. Der Wind fährt in die Äste des alten Olivenbaums, und noch lange vernehme ich sein Geflüster.