Mitglied
- Beitritt
- 03.05.2017
- Beiträge
- 79
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Wie ein Adler so frei
Wenn er die Nase voll hat, dann kommt er hier hinauf, liegt manchmal stundenlang im Grün der Wiese und betrachtet die Wolken, die träge oben vorbeischwimmen. Er mag die Wolken, weil sie ihm jedes Mal eine andere Geschichte erzählen. Von Drachen, Schiffen, Hunden, manchmal auch Walen.
Er mag sie, weil sie ihn einfach so daliegen und zusehen lassen. Sie fordern nicht. Reden nicht. Sagen ihm nicht, er solle sein Zimmer aufräumen oder endlich seine Hausaufgaben machen. Schimpfen nicht, wenn er zu lang draußen war oder endlich ins Bett gehen soll.
Wenn er genug hat, schließt er die Augen. Dann sind sie weg und er hat seine Ruhe. Sie erzwingen seine Aufmerksamkeit nicht, auch nicht seinen Gehorsam. Das mag er am liebsten. Sie sind nicht laut, brüllen ihn nicht an. Sie sind durch und durch friedliche Geschöpfe.
Das mag er eigentlich noch viel mehr.
Das Gras ist weich wie ein Bett und duftet noch dazu. Wenn es hoch genug ist, findet man ihn nicht, selbst wenn man nach ihm sucht. Das ist allerdings - zum Glück, denkt er - noch nie vorgekommen.
In seinem Bett im Zimmer hat er sich früher manchmal unter der Decke verkrochen, aber da war es dunkel und stickig und wirklich verstecken konnte er sich darin nicht. Erst hat er seinen Herzschlag gehört, ganz laut, und das Rauschen in seinen Ohren, bis das Gebrüll beides übertönte. Es folgte ihm ins Dunkel und hallte in seinen Gedanken wider, dass er es noch hören konnte, lange nachdem die Eltern aufhörten zu streiten. Es hatte sich eng mit seinem Zimmer verwoben, verfolgte ihn bis in seine Träume oder stichelte ihn, damit er gar nicht erst einschlief.
Wenn die Eltern gestresst waren und nicht einander hatten, um sich anzubrüllen, dann schimpften sie mit ihm. Oft wusste er nicht einmal, dass er etwas falsch gemacht hatte, aber sie fanden immer einen Grund. Dann warf ihm der Vater vor, er sei nicht Mann genug, der Junge. Oder seine Mutter sagte ihm, er sei zu rücksichtslos, unordentlich und faul.
Einmal hat sein Vater ihn geschlagen. Mit der flachen Hand auf die Wange, dass es nur so klatschte. In der Betäubung, die danach über ihn hinwegschwappte, war er sich nicht einmal sicher gewesen, was mehr wehtat – das ewig nachhallende Brüllen oder die Schelle, die ihm Atem und Würde geraubt hatte.
Im Grunde, musste er feststellen, war es ihm gleich. Schmerz ist Schmerz.
Nur hier draußen ist er sicher, denn hierhin folgen sie ihm nicht. Ob es ihnen die Anstrengung nicht wert ist oder ob sie dann einfach in der Tür stehen bleiben und die Luft anbrüllen, weiß er nicht genau. Was für ihn zählt, ist die Sicherheit und die Ruhe. Unter den Wolken wartet er so lang, bis der Vater in die Kneipe geht und die Mutter im Sessel einschläft. Dann rennt er zurück und schleicht sich leise in sein Zimmer.
In der Schule fehlt er nun häufiger, weil er seinen sicheren Ort nicht verlassen will. Inzwischen ist es seiner Klassenlehrerin aufgefallen, denn wenn er doch hingeht, hebt sie halb streng, halb besorgt die Brauen. Einmal wollte sie sogar mit den Eltern darüber sprechen, aber er hatte wild den Kopf geschüttelt.
Nur das nicht.
Dann würden sie ihn noch vor der ganzen Schule zur Schnecke machen, hatte er gedacht, aber den Mund gehalten. So würde er niemals über die Eltern reden, das haben sie ihm früh und unmissverständlich beigebracht. Also war er ein guter Sohn gewesen und der Lehrerin gegenüber standhaft geblieben, bis sie seufzend mit den Schultern zuckte und ihn gehen ließ.
Wenn er einmal groß ist, stellt er sich vor, während er im Gras liegt und die Wolken betrachtet, wenn er groß ist, wird er sich nicht mehr hierhin flüchten müssen. Ein Haus will er haben, am besten ganz weit weg. Aber auch in der Nähe einer Wiese, eine, die genauso ist wie die hier.
Und er will gemeinsam mit seinen Kindern dort hingehen, lachen und herumtoben. Wenn sie müde werden, würden sie sich ins hohe Gras legen, den Geschichten der Wolken zusehen und sich genauso geborgen fühlen, wie er es jetzt tut.
Wenn er einmal groß ist, wird er der beste und netteste Vater der Welt sein, das schwört er sich jedes Mal, wenn er dort liegt und in den Himmel sieht. Und er wird eine Frau haben, die er liebt. Genau wie seine Kinder. Nie wird er laut werden oder sie gar schlagen.
Über ihm schwimmen die Wolken träge dahin, formen einen Vogel – einen Adler, denkt er sich, der frei und unbekümmert über die Welt hinwegsegelt.
Wenn er einmal groß ist, dann wird er genauso frei und unbekümmert sein.
Lange kann es doch nicht mehr dauern.
Und bis dahin bleibt er vielleicht einfach hier liegen.
Finden wird ihn hier ja sowieso niemand.