Wie die Zeit vergeht
Wie die Zeit vergeht. Eines Morgens wachst du auf und merkst, dass du alt und krank und müde bist. Dass dich das glühende Feuer des Lebens verzerrt hat. Wo sind all die langen Stunden geblieben, in denen du mit deinen Freunden über Gott und die Welt philosophiert hast? Wo sind all die Jahre geblieben, in denen du dich um dich selbst gedreht hast, gefangen im goldenen Käfig deiner eigenen bescheidenen Welt?! Wo sind all diese magischen Momente geblieben, in denen du davon geträumt hast, die Welt zu verändert, berühmt zu werden, zum Mond zu fliegen, die Sterne zu erreichen? Eines Morgens wachst du auf und merkst, dass du alt und krank und müde bist. Und dann weisst du, dass die Zeit auch gegen dich laufen kann.
Das alles ging ihm durch den Kopf, als er an einem verregneten Abend durch die trüben Gassen der Altstadt ging. Eigentlich war es mehr ein schleichen, wie er da mit tief in die Taschen vergrabenen Händen und hochgeschlagenem Jackenkragen über die kleinen schwarzen Mosaiksteine der gepflasterten Strasse tigerte. Der leichte Sprühregen fing sich an den undurchsichtigen Fensterscheiben der Häuser und rieselte an ihnen hinunter. Öde Wasserlinien malend, denen nichts Schönes und schon gar nichts Interessantes abzugewinnen war. Der Himmel war grau, genauso wie die Wände der Häuser, wie die Mäntel der vereinzelt über das Pflaster der Gasse huschenden Menschen, bei denen er ein „guten Abend“ murmelte, wenn sie an ihm vorüber gingen. Und meist murmelten die Gestalten einen Gruss zurück, der sich aber in der kühlen Abendluft verlor und im leeren Raum hängen blieb, ohne bei ihm anzukommen.
Ja, es musste lange her sein, als er noch mit seinen Freunden in einer verrauchten Kneipe gesessen hatte und sie über halbleeren Gläser bitteren Bieres philosophiert hatten. Über Gott und die Welt, über Hoffnungsvolles und Trauriges, über Liebe und Hass hatten sie damals gesprochen. Meist hatte ein ironisches Lächeln um ihre Mundwinkel gespielt, als sie ihre Gedanken gekonnt in Worte gefasst hatten. Und als sie dann jeweils tief in der Nacht mit ihren Betrachtungen des irdischen Daseins an ein Ende gekommen waren, war das Lächeln sentimental geworden und schlussendlich ganz verschwunden. Zu trostlos war das Leben, wenn man es genauer betrachtet, wenn man es unter die Lupe der Gedanken nimmt und es versucht zu verstehen. Manchmal hatten sie nach einem lächerlichen Strohhalm gegriffen und gemeint, man müsse das Leben eben nicht verstehen, sondern geniessen, aber es war ein zu billiger Genuss, den ihnen dieses unverständliche Leben bot.
Etwas nachdenklich blieb er vor der geschlossenen Türe eines verwitterten Altstadtlokales stehen. Eigentlich dachte er nicht, er erinnerte sich nur zurück an jene Gesprächsrunden, jene Philosophiestunden, an jenes ironische Lächeln seiner Freunde, an jene aufkeimende Sentimentalität. Sie hatte sich in ihm festgesetzt, unverrückbar und selbstverständlich, sie war ein Teil von ihm geworden, diese Sentimentalität, eine Brille, durch die man alles betrachten konnte und durch die alles etwas grau erschien. Es war ja auch grau. Es regnete, es wehte ein schaler Geruch von Staub und Stein durch die Gassen. Er hätte in diesem Augenblick die Hände in den Taschen vergraben und den Jackenkragen hochgeschlagen, wenn er das alles nicht schon getan hätte. Die alte Kirchenuhr schlug. Fade klangen die Glocken in der ausklingenden Abenddämmerung. Er senkte den Kopf und sah auf dem schwarzen nassen Mosaikpflaster die soeben angegangenen Strassenlaternen sich spiegeln. Ihr gelbliches Licht floss trübe über die Wände der Altstadthäuser und zeichnete dunkle Schatten in verwinkelte Gassen. Der Abend war zur Nacht geworden, das grau zu schwarz. Wie die Zeit vergeht