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Wie DEUTSCHLAND gerettet wurde!
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Berlin, im Mai 2045. Die irgendwann mal freie deutsche Journalistin und Schriftstellerin Ulrike Glas erinnert sich in ihrem Aufsatz „Vom Clou zum Schuh“ an die Rettung Deutschlands im Jahr 2006.
Hautnah dabei war Ulrike Glas oft, wenn es darum ging, über brandaktuelle gesellschaftliche Themen zu berichten. 2006 war sie eine der wenigen, die über einen geheimen Modellversuch der deutschen Regierung zur Rettung Deutschlands informiert wurde. Die heute 83-jährige verrät uns ein wenig, wie es damals war:
„Damals... wusste die Öffentlichkeit so gut wie nichts. Deutschland war schon seit Anfang 2003 gelähmt. Regierung und Opposition sprachen von Zusammenarbeit, aber sie hätten es nur mit Not geschafft, gemeinsam eine Knorr-Hühnersuppe aus der Packung zuzubereiten. Die Arbeitslosigkeit stieg in fröhlichem Einklang mit der Staatsverschuldung, die Kassen waren leer und es gab eine große Wirtschafts- und Steuerflucht ins Ausland. Ebenfalls ins Ausland geflohen (und untergetaucht) waren dann im Mai 2005 auf einen Schlag alle Mitglieder der damaligen Koalitionsregierung aus SPD und den GRÜNEN.
Auf Neuwahlen wurde verzichtet, weil sich die SPD und die GRÜNEN ersatzlos auflösten, was wenigstens konsequent war, und es bildete sich eine Regierung aus CDU/CSU und der F.D.P., die als erste Amtshandlung den Bundestag abschaffte, der ohne Opposition keine Funktion mehr hatte.
Im Januar 2006 erhielt ich dann eine Einladung der deutschen Bundeskanzlerin Angelika Eisenbock nach Bayern. Es ging um die Präsentation eines Modellversuchs zur Rettung Deutschlands mit dem Namen ‚Neuer Standort Deutschland Plan’. Auf dem Programm standen zuerst eine Expertenanhörung und tags darauf die Besichtigung einer Schuhfabrik in Weilheim. Außerdem sollte ich mich auf einen längeren Aufenthalt einstellen. Meine Person und andere herausragende Journalisten sollten mit Angestellten der Schuhfabrik zusammentreffen und diskutieren, um uns ein Bild vom ‚Neuen Standort Deutschland Plan’ zu machen.
In der Anhörung trafen wir Journalisten auf eine Reihe hochrangiger Wirtschaftsexperten wie den Arbeitgeberpräsidenten Dieter Köter und den hessischen Ministerpräsidenten Roland Cock.
Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen. Fortschrittsfeindliche Organisationen wie Gewerkschaften, Kirchen und soziale Gruppierungen sollten anfangs an der Diskussion gehindert werden, um eine negative Voreingenommenheit in der Bevölkerung zu vermeiden. Eine positive Stimmung war wichtig. Ich war stolz, dabei zu sein.
Wir erhielten ein bahnbrechendes Thesenpapier. Es müsse darum gehen, so war zu lesen, die Deutschen aus der Depression zu führen. In einer zunehmend von materialistischem Denken dominierten kapitalistischen Gesellschaft war der Blick verbaut auf die grundlegenden emotionalen Bedürfnisse der Menschen.
War es nur Geld, das glücklich machte? War Freiheit eine Garantie für ein erfülltes Leben? Gab es nicht gesellschaftliche Modelle statischer Ordnung, in denen Menschen zufriedener waren als heute? Suchten nicht Menschen aller Epochen nach ihrem festen Platz in der Welt?
Wir erfuhren, man habe die Stadt Weilheim zu einer separaten Zone gemacht, in der seit kurzem ein innovatives wirtschaftliches System gelte, inklusive separater Steuergesetze und separatem Bürger- und Staatsrecht. Weilheim war abgeriegelt, es galt Telefon- und Handyverbot - es gab keinerlei Möglichkeiten, Informationen aus Weilheim nach draußen zu bringen. Panzerwagen bewachten die Zufahrtsstraßen. Es war wahnsinnig aufregend!
Am zweiten Tag gab es den berühmten Besuch der Weilheimer Schuhfabrik, den ‚Knobelbecher-Gang’ (wie er später in den Geschichtsbüchern genannt wurde), wo wir Journalisten Gelegenheit bekamen, mit Weilheimer ‚Arbeitnehmern’ (wie es damals noch hieß) zu sprechen.
Als Erstes hörten wir die Rede des Weilheimer Bürgermeisters Rudolph Riebel. Er informierte uns, dass Weilheim auf Grund des neuen Modells die Arbeitslosenquote auf null Prozent gedrückt habe: Vollbeschäftigung. Da fielen uns natürlich die Plomben aus den Zähnen.
Der Vorarbeiter der Schuhfabrikhalle, ein dicker Mann namens Bernhard Bündig in einem blaufarbenen Flanellhemd, betrat das Podium und erzählte mit breitem Gesicht und einer Miene, als hätte er kurz vorher draußen das Christkind getroffen, dass er endlich wieder ruhig schlafen könne: „Das Schlimmste für uns Schuhfabrikarbeiter war die Angst vor der Kündigung, dass wir kein Dach mehr über dem Kopf haben und unsere Kinder nicht mehr ernähren können“, sagte er. „Und ich sogar, obwohl ich gar keine Kinder habe.“ Aber das sei jetzt glücklicherweise vorbei, weil Deutschland sei jetzt zumindest in Weilheim wieder international wetterwerbsmäßig, sagte er und schaute zum Bürgermeister, als er fertig war.
„Er meint wettbewerbsfähig“, sagte der Bürgermeister. „Das Entscheidende für diese Menschen hier ist, dass sie Sicherheit haben und dass sie... dazu gehören. Das Schlimmste für einen Arbeitslosen oder auch Rentner ist doch das Psychologische... das Gefühl, überflüssig zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden. Es ist menschliche Bindung, die zählt.“
Mich hielt es jetzt nicht mehr auf dem Sitz, ich sprang auf, ergriff das Wort und fragte Bernhard Bündig, ob er glaube, sich seines Arbeitsplatzes jetzt bis zur Rente sicher zu sein. Bündig schaute zum Bürgermeister. Blickte in die Runde der Journalisten und Kollegen und Politiker und sagte dann in eine gespannte Stille, die vollkommener nur in den Tiefen des Universums zu finden ist: Er wisse jetzt nicht so recht, was ich mit Rente jetzt genau meinte? Ich rief: „Na, eben Rente!“ Und als Herr Bündig nichts mehr sagte, sondern nur wieder zu seinem Bürgermeister schaute, erhob sich Bundeskanzlerin Eisenbock und ergriff ihrerseits das Wort in der Schuhfabrik, dem Geburtsort des Neuen Standort Deutschlands, - wie uns später für immer klar wurde.
Frau Eisenbock erklärte, dass endlich verstanden worden wäre, dass es die Politik - also der Staat - war, der Deutschland jahrelang gelähmt hatte - Regulation, Gesetze, pure Strangulation jedes Unternehmergeistes.
Da unterbrach ich: „Wie kann es in Weilheim Vollbeschäftigung geben, während deutschlandweit die Arbeitslosenquote bei 16 Prozent liegt?“ Ich war aufgeregt und wandte mich noch mal an den Vorarbeiter Bernhard Bündig, mit der Frage, wie viel er denn jetzt verdiene, aber statt zu antworten schaute er zum Bürgermeister, hob die Arme und ließ sie wieder sinken. Er sah aus, als hätte ich ihn gefragt, warum man nachts keinen Sonnenbrand bekommen kann. Dann fragte er mich, wie ich das jetzt genau meinte mit dem Verdienen?
Und ich rief: „Verdienen eben, Gage, Lohn, Gehalt!“ Aber die letzte Silbe meines Ausrufs zitterte noch in der Luft, als bei mir ganz langsam der Groschen fiel - wie wenn eine schwere, teure, chinesische Blumenvase aus einer Dynastie des 14. Jahrhunderts unerreichbar weit weg in Zeitlupe von der Kommode kippt.
„Kein Lohn - keine Lohnnebenkosten“, grinste Bundeskanzlerin Eisenbock. „Aber dafür Dazugehören. Wir müssen neue Wege gehen. Wir haben es geschafft in Weilheim, und wir werden es bundesweit schaffen. Kein Lohn - keine Streiks, keine Beschränkung der Arbeitszeiten, kein Altersruhestand und keine Rentenkassenproblematik mehr - nur noch die erfüllende Einheit von Betrieb und Mitarbeitern: Es ist das Wir-Gefühl, das zählt.“
Und sie stellte den politischen Plan vor: Den Unternehmen und Konzernen war ab sofort erlaubt, einfach zu machen, was sie wollten, und zwar uneingeschränkt.
Warum war denn die Beschäftigung von Maschinen und Computern so billig im Vergleich zu Menschen? Weil man für sie keine Steuern oder Lohnnebenkosten zu zahlen hatte und weil sie... Eigentum der Unternehmen waren!
Und genau das war der Clou beim aktuellen System, unübersehbar wie ein Rudel Flusspferde auf der Landstraße: Man hatte in Weilheim die Arbeitnehmer privatisiert und dem Unternehmenskapital hinzugefügt. Nach einem ausgeklügelten Schlüssel waren sie an die Unternehmen und Konzerne verteilt worden.
Neun Monate später installierte man dann das neue System in ganz Deutschland.
Mit einem Schlag waren alle Arbeitslosen untergebracht. So wie das Vieh auf einem Bauernhof musste ab sofort keiner mehr Angst haben, seinen ‚Job’ zu verlieren. Wie die Milchkühe im Stall und auf der Weide auch hatte jeder freie Kost und Logis.
Gleichzeitig konnte die ‚Regierung’ die Rentenkasse abschaffen, denn man arbeitete ab sofort bis zum Lebensende - solange man ‚Milch gab’ - eine Idee des Arbeitgeberpräsidenten Dieter Köter. Der Nachwuchs indes hatte seinen festen, gottgegebenen Platz in der Gesellschaft, indem er mit der Geburt in den Besitz des Eigentümers der Eltern überging. Wer gerade tatsächlich nicht zu gebrauchen war, konnte woanders hin verliehen werden. Die wirklich komplett Nutzlosen, darunter viele ehemalige Politiker der F.D.P., wurden ins Ausland transferiert, zum Beispiel in die USA verkauft oder in schwerwiegenden Fällen von Nutzlosigkeit (wie bei Guido Wellenwester) nach Afrika verschenkt (um in den Dürregebieten Spaß und Optimismus zu verbreiten).
Durch das neue Modell konnten selbst extreme Billiglohnländer nur noch schwer mit Deutschland konkurrieren: Massenhaft kehrten die Arbeitgeber ins Standortparadies Deutschland zurück und ‚schafften Arbeitsplätze’. Enorme Kostensenkungen ergaben sich zusätzlich durch die Auflösung der demokratischen Parteien und Organe zu Gunsten einer kompetenten Führungscrew aus Vertretern der Wirtschaft: Deutschland war gerettet! - Und jeder war direkt daran beteiligt, hatte seinen Platz und seine spezielle Verantwortung für die Gemeinschaft.
Ich zum Beispiel wurde verantwortlich dafür, dass die Weilheimer Schuhe Schnürsenkel haben. Man hat mich damals in der Schuhfabrik nämlich gleich da behalten. Es war für die Gesellschaft wichtiger, dass ich Schnürsenkel in Schuhe einfädle, statt Journalistin zu bleiben. Ich war schon lange unglücklich mit dem Schreiben, was ich aber all die Jahre einfach nicht gemerkt hatte. Erst die Weilheimer Arbeit hat mich wirklich frei gemacht. Und das bin ich jetzt: wirklich frei, obwohl es natürlich verboten ist, das Schuhfabrikgelände zu verlassen. Nun - ein wenig zittrig bin ich schon beim Schnürsenkelfädeln - wie es halt so ist, wenn man bald vierundachtzig wird.“