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Wie der kleine Hase den heiligen Franz traf
Der kleine Hase rannte um sein Leben. Hinter sich, auf dem Feld, hörte er die Hunde kläffen.
Wenn ein einzelner Hund hinter ihm herjagte, konnte er leicht entkommen, indem er Haken schlug. Aber diesmal waren es zu viele, und der Hase musste sich vor ihnen verstecken. Deshalb lief er auf den Waldrand zu. Er wusste, der Wald war gefährlich; dort gab es Füchse und andere wilde Tiere. Aber für den Augenblick war der Wald die einzige Rettung.
Er lief in das dichteste Unterholz und hoffte, dass die Hunde zu groß seien, um ihm zu folgen. Und tatsächlich: Schon bald wurde das Gebell hinter ihm leiser, bis es gar nicht mehr zu hören war. Doch der Hase lief immer weiter, so verängstigt war er.
Endlich gelangte er auf eine Lichtung, wo er erschöpft liegen blieb. Von Zeit zu Zeit fiel eine einzelne Schneeflocke auf sein Fell. Wenn nur der Winter endlich vorbei wäre!
Plötzlich sagte eine sanfte Stimme: „Wovon bist du denn so außer Atem, kleiner Hase?“
Der Hase blickte auf und bekam gleich wieder Angst. Vor ihm stand ein Mann. Obwohl er keine Hunde dabeihatte, würde ein Hasenbraten ihm sicher gut schmecken. Aber weil der Hase zu erschöpft war, um weiterzulaufen, blieb er einfach liegen und flüsterte: „Bitte tu mir nichts.“
Der Mann setzte sich neben ihn in das Gras, das schon wieder durch die Schneedecke ragte. „Aber ich will dir doch gar nichts tun“, sagte er. Er sagte es so freundlich, dass der kleine Hase ihm glaubte. Und der Mann begann, das Fell des Hasen zu streicheln. Das tat gut.
„Wie kommt es“, fragte der Hase nach einer Weile, „dass du verstehst, was ich sage?“ Er hatte noch nie einen Menschen getroffen, der ihn verstand.
„Oh“, sagte der Mann, „das weiß ich auch nicht – es ist einfach so. Ich rede oft mit den Tieren. Vielleicht hast du ja schon von mir gehört. Mein Name ist Franz.“
Dem Hasen fiel ein, dass er tatsächlich einmal von einem Mann gehört hatte, der zu den Tieren sprach. Und die Amsel, die ihm von diesem Mann erzählt hatte, hatte ihn den heiligen Franz genannt. Deshalb nickte der kleine Hase.
Nun fragte Franz noch einmal: „Wovon warst du denn so außer Atem?“
Da erzählte ihm der Hase, dass die Menschen ihre Hunde auf ihn gehetzt hatten.
„Ja, das ist schlimm“, sagte Franz. „Aber die Menschen tun das nicht, weil sie böse sind. Sie tun es, weil sie Hunger haben. Der Winter dauert an, und die Vorräte der Menschen sind aufgebraucht. Deshalb machen sie Jagd auf wilde Tiere.“
„In den letzten Tagen wurde es besonders schlimm“, erzählte der Hase. „Jeder versucht, einen Festtagsbraten zu fangen. Für dieses schreckliche Fest, das die Menschen Ostern nennen.“
Auf einmal sah Franz sehr traurig aus.
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: „Ich verstehe, dass das für euch Tiere schrecklich ist. Aber eigentlich ist Ostern etwas Wundervolles. Das Osterfest sollte uns lehren, dass niemand dem anderen etwas Böses antun muss. Weißt du, vor langer, langer Zeit lebte ein Mann mit Namen Jesus. Der sagte, dass jeder in Frieden leben soll. Viele Menschen meinten, das sei nicht möglich, aber er wusste es besser. Wenn man nämlich ganz fest an etwas glaubt, dann wird es wahr.“
Der kleine Hase überlegte, dann fragte er: „Du meinst, wenn die Menschen ganz fest daran glauben, genug zu essen zu finden, dann ist es auch so? Dann brauchen sie auch keine Hasen mehr zu jagen?“
Franz lächelte und nickte. „Eines Tages ist Jesus dann gestorben, aber weil er ganz fest daran geglaubt hatte, wurde er wieder lebendig. Und zur Erinnerung daran feiern die Menschen Ostern. Damit sie niemals vergessen, dass einfach alles möglich ist.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Leider vergessen sie es manchmal trotzdem. Besonders, wenn sie Hunger haben.“
Der Hase dachte lange über das nach, was Franz gesagt hatte. Er hatte es nicht eilig mit dem Nachdenken, denn solange er hier bei Franz war, fühlte er sich ganz sicher. Und es war schön, gestreichelt zu werden.
Plötzlich fragte er: „Wenn ich den Menschen etwas zu essen bringen würde – meinst du, sie würden dann aufhören, Tiere zu jagen? Wenigstens zu Ostern?“
„Ich finde, das solltest du auf jeden Fall ausprobieren“, antwortete Franz.
Doch schon wurde der Hase wieder ganz mutlos. „Aber wo soll ich um diese Jahreszeit etwas zu essen für die Menschen finden, ohne den anderen Tieren zu schaden?“
Dem heiligen Franz fiel so auf Anhieb auch nichts ein, deshalb sagte er: „Du wirst bestimmt etwas finden. Das hat uns Jesus nämlich auch gesagt: Wer etwas sucht und sich wirklich Mühe gibt, der findet es auch.“
Wieder begann der Hase, nachzudenken.
Da kam ein Zaunkönig angeflogen und setzte sich auf Franz’ Schulter.
„Na, kleiner Vogel“, begrüßte der Mann den Zaunkönig, „wie geht es dir?“
„Mir geht es gut“, piepste der Zaunkönig. „Unser Nest ist fertig, und meine Frau hat Eier gelegt und brütet.“
Bevor Franz antworten konnte, sprang der Hase auf und rief: „Eier! Das ist es!“ Vor Schreck flog der Vogel davon.
Franz aber nickte und sagte: „Natürlich, du hast recht. Und ich weiß auch, wo du Eier bekommen kannst. Hier im Wald leben viele Hühner, die ihren Bauern davongelaufen sind, weil sie in die Suppe sollten. Die legen viel mehr Eier, als sie ausbrüten können. Wenn du ihnen sagst, dass ich dich geschickt habe, geben sie dir sicher welche ab.“
Aufgeregt machte sich der kleine Hase an die Arbeit.
Bald fand er die Hühner, von denen Franz gesprochen hatte. Und tatsächlich gaben sie dem kleinen Hasen so viele Eier, wie er brauchte. Allerdings hatte er in seinem Eifer nicht daran gedacht, dass er sie gar nicht tragen konnte. Deshalb lief er zurück zu Franz, um ihn noch einmal um Rat zu bitten. Franz nahm ein paar Zweige, flocht daraus einen Korb und setzte ihn dem Hasen auf den Rücken. So hüpfte der Hase wieder zu den Hühnern und holte die Eier.
Als es dunkel wurde, begann der kleine Hase, die Eier zu den Menschen zu bringen. Eigentlich wollte er sie vor die Haustüren legen, aber dann hatte er eine bessere Idee. Er würde die Menschen daran erinnern, was Jesus gesagt hatte – dass man fleißig suchen muss, um etwas zu finden.
So verbrachte der kleine Hase die ganze Nacht vor Ostern damit, die Eier in den Gärten der Menschen zu verstecken.
Am Morgen waren die Kinder die ersten, die zum Spielen herauskamen. Als sie durch Zufall ein paar Eier entdeckten, begannen sie, nach weiteren zu suchen. Bald kamen die Erwachsenen dazu, und am Ende hatten sie so viele Eier gefunden, dass sie viele Tage lang davon satt werden konnten.
Der kleine Hase, der aus einem Versteck heraus zusah, freute sich darüber, wie glücklich die Menschen waren.
An diesem Osterfest waren die Tiere auf dem Feld und im Wald sicher vor den Jägern. Deshalb beschlossen der Hase und die Hühner, es in Zukunft jedes Jahr so zu machen.
„Aber ein bisschen mehr Mühe sollen sich die Menschen beim Suchen schon geben“, sagte der Hase. „Die leuchtend weißen Eier waren ja viel zu leicht zu finden, weil in den Gärten kaum noch Schnee lag. In Zukunft werde ich die Eier vorher anmalen.“
Jahr für Jahr versteckte nun der kleine Hase zu Ostern die bunten Eier, und bald nannten ihn alle nur noch den „Osterhasen“. Der heilige Franz aber war glücklich, denn endlich konnten sich auch die Tiere über das Osterfest freuen.