White Cubes
Monoton-hypnotische Klangschleifen bahnten sich gefolgt von wuchtigen Bässen den Weg durch die Kopfhörer in den Gehörgang und von dort aus weiter mit vibrierenden Schwingungen mitten ins Gehirn. Mia erhöhte die Schlagzahl. Sie atmete schnell, aber gleichmäßig und tief - drei Schritte lang ein, drei Schritte lang aus. Inzwischen hatte sie sich an das Tragen der Schutzmaske gewöhnt und hielt ihre tägliche Strecke auch bei hohem Tempo ohne die durch Sauerstoffmangel verursachten Seitenstiche durch.
Sie hätte noch schneller laufen und sich an die Grenze der Belastbarkeit bringen können - bis an jenen Punkt, an dem ihr Körper die glücklich machenden Endorphine ausschütten würde. Doch sie war vorsichtig geworden, seit sie vor einigen Tagen über einen Leichnam gestolpert war, der mitten auf dem Gehsteig lag. Eine blutende Verletzung, ein aufgeschlagenes Knie oder auch nur eine Hautabschürfung in Folge des Sturzes hätten eine unmittelbare Infektionsgefahr bedeutet. Sie wäre sofort von einer Einheit der mobilen Seuchenpräventionsaufsicht S.P.A. verhaftet und in ein Quarantäne-Zentrum außerhalb der Stadt eingewiesen worden. Die SITUATION war trotz anderslautender Meldungen immer noch nicht unter Kontrolle.
Mia bog auf einen asphaltierten Parkweg ab und lief auf die Wohnanlage mit den aufreizend weißen Neubauten zu, die in den hochglänzenden Werbebroschuren führender Immobilienmakler liebevoll „White Cubes“ genannt wurden. „Bonzenghetto“ sagten Mias Freunde dazu, oder besser - ihre ehemaligen Freunde.
In den ersten Wochen nach ihrem Umzug hatte sie noch ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch dann wollte sie sich bei niemandem mehr entschuldigen. Sie hatte es geschafft - auch wenn sie wusste, dass sie ihren Erfolg vor allem ihrem Vater verdankte, der ihr in den Start-Up-Jahren die notwendige finanzielle Unterstützung geben konnte. Ihr Vater war es auch gewesen, der die Fortsetzung dieser Unterstützung davon abhängig machte, ob sie in ihrer Galerie richtige Kunst zeige - Kunst, in die es sich zu investieren lohne.
Kaum waren die ersten Ausstellungen im neuen Stil angekündigt, gingen die Fensterscheiben der Galerie zu Bruch, Farbbeutel flogen, später auch Brandflaschen - Aktionen, zu denen sich eine militante Zelle der Revolutionären Nachbarschaftshilfe bekannte. Mias Aufstieg als Galeristin aber wurde dadurch nicht aufgehalten, im Gegenteil. Die Feuilletons aller Couleur waren begeistert von dieser jungen Frau, die sich „mutig im Geiste einer Jeanne d'Arcs für die Freiheit der Kunst dem Terror unverbesserlicher Chaoten und Dilettanten entgegenstellte“.
Mia verschwieg, dass sie damals am liebsten alles hingeworfen hätte und diese Zeit nur aufgrund regelmäßiger Lieferungen von Prozac, das sie rezeptfrei in den Grauzonen des Internets einkaufte, überstanden hatte. Dann aber veränderte sich alles.
Der Mann röchelte noch, als ihn der Putztrupp zwischen den Müllcontainern eines Einkaufszentrums fand - ein Obdachloser mit völlig entstellten Gliedmaßen, an denen das Fleisch bis an die Knochen verfault war und in dunklen Fetzen herabhing. Sprechen konnte er nicht. Sein Gesicht war von eitrigen Geschwüren bedeckt, die sich durch Mund und Nasenöffnungen bis ins Körperinnere hineingefressen hatten. Der herbeigerufene Notarzt kämpfte gegen ein Gefühl der Panik, das bei diesem Anblick in ihm aufstieg. Aus sicherer Distanz stellte er eilig den Totenschein aus und ordnete unter Berufung auf einen bis dahin nie angewandten Ausnahmeparagraphen die sofortige Entsorgung des Leichnams durch Verbrennung vor Ort an. Gerüchte sagten, dass sich der brennende Körper noch lange bewegt haben soll.
Am Nachmittag des selben Tages bekam eine Angestellte der Reinigungsfirma hohes Fieber, begleitet von Schüttelfrost, Magenkrämpfen und heftigen Brechreizen. Sie entdeckte rote Flecken an ihren Armen, die sich bald über den ganzen Körper bis ins Gesicht ausgebreitet hatten. Trotz einer kombinierten Antibiotika-Kortison-Therapie verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Die Flecken entzündeten sich, wurden zu eitrigen und übelriechenden Geschwüren. Ohne die letzten Ergebnisse aus dem Labor abzuwarten, rief die Gesundheitsbehörde den Notstand aus. Innerhalb weniger Stunden wurde einstimmig ein „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Seuchen und Infektionskrankheiten“ verabschiedet. Mit sofortiger Wirkung wurden Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen verboten. Vor allem in den ärmeren Stadtgebieten wurden auf unbefristete Zeit nächtliche Ausgangssperren verhängt. Mobile Sondereinheiten der S.P.A. waren befugt, sich jederzeit und unangemeldet den Zutritt zu Wohnungen zu verschaffen, um die Einhaltung des häuslichen Hygienestandards zu überprüfen. Bei Verstößen lag es im Ermessen des jeweiligen Einsatzleiters, die Zwangsdeportation in ein Quarantäne-Zentrum oder – wie etwa im Falle ungeschützter sexueller Aktivitäten jeglicher Art - eine sofortige gezielte Tötung zur Infektionsverhütung anzuordnen. Anfängliche Proteste gegen die Methoden der S.P.A. wurden gewaltsam niedergeschlagen, mutmaßliche Rädelsführer verhaftet, an geheime Orte transportiert und vergessen.
Quasi über Nacht hörten damit auch die Angriffe auf Mias Galerie auf. Trotz – oder gerade wegen der SITUATION verkaufte sie mehr Kunstwerke als je zuvor. Schönheit wurde zu einer seltenen Ressource. Mia nannte den Preis dafür und wurde reich. Als ihr von einem Sammler und Immobilienmakler ein kleines Luxusapartment zum Vorzugspreis in den „White Cubes“ angeboten wurde, bekam sie das erste mal in ihrem Leben einen größeren Kredit ohne die Bürgschaft ihres Vaters. „Ich bin erwachsen geworden“, dachte Mia und setzte stolz ihre Unterschrift unter den Kaufvertrag.
Auf den letzten Metern noch einmal alles herausholen! Mia winkte kurz in die Kamera, die an der Zufahrt zur Wohnanlage installiert war. Den Door-man, der in der Zentrale dahinter wachte, hatte sie noch nie gesehen, aber sie wusste, dass sie hier sicher war und setzte zum Endspurt an. Erschöpft erreichte sie das Eingangstor GATE A, das sich nach Eingabe eines sechsstelligen Zahlencodes lautlos öffnete und sich ebenso sanft hinter ihr wieder schloss. Mia gab ihre Laufschuhe und die Atemmaske an der Desinfektionsstation des unbemannten Empfangsterminals ab. Dann nahm sie den Aufzug zu ihrer Wohnung im fünften Stock. Vorschriftsmäßig ging sie sofort ins Badezimmer, zog den dünnen Schutzanzug samt der Einwegunterwäsche aus und entsorgte alles in dem dafür vorgesehen Sondermüllcontainer.
Sie betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden mit ihrem Körper, der trotz des täglichen Trainings seine weiblichen Formen nicht verloren hatte. Sie mochte ihre kleinen Brüste mit den empfindlichen Nippeln, die sich beim Joggen an der Kleidung rieben, anschwollen und sie erregten. Seit Beginn der SITUATION hatte sie keinen anderen Körper mehr berührt. Direkter Hautkontakt mit Personen war wegen der akuten Infektionsgefahr verboten. Inzwischen war das Verbot auch auf sexuelle Selbststimulation ausgeweitet worden. Für Männer wurden Hygienestationen eingerichtet, in denen sie unter behördlicher Aufsicht einzig zum Zwecke von Samenspenden masturbieren durften. Frauen dagegen sollten die Erregung ihrer Schleimhäute unbedingt vermeiden. Die ultrakonservative Gesundheitspartei Mens Sana forderte bereits die Einführung der Beschneidung weiblicher Genitalien.
Mia roch den Schweiß ihres Körpers. Das Kribbeln im Unterleib wurde stärker. Sie schloss die Augen und spürte, wie sie feucht wurde. Sie steckte sich ein Handtuch in den Mund und drehte das Wasser in der Dusche an. Der Nachbar hatte sie sie nach hause kommen sehen, und Mia konnte sich nicht sicher sein, ob er nicht vielleicht an der Wand lauschte. In letzter Zeit häuften sich anonyme Anzeigen und Denunziationen wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Hygieneverordnungen. Mia biss fester ins Handtuch, streichelte sich dabei mit immer kleiner werdenden Kreisbewegungen, so als würde sie die Buchstaben des Alphabets einzeln auf ihre Klitoris schreiben. Kurz vor dem Höhepunkt stieg sie unter die Dusche. Als es ihr kam, entspannte sie dabei ihre Blase. Ihr Herz raste, als sie ihren Urin betrachtete, der sich mit Wasser vermischte und als hellgelber Strudel im Abfluss verschwand. Sie schloss die Augen und wartete, doch es blieb ruhig. Der Hygienedetektor war nicht angesprungen. Sie spülte die Duschwanne mit heißem Wasser und Desinfektionsspray gründlich sauber. Dann trocknete sie sich ab und zog sich an. Alles war gut gegangen, aber sie wusste, dass sie vorsichtiger sein musste und die Kontrolle über sich nicht verlieren durfte.
Mia nahm einen Trinkbecher aus dem Küchensterilisator, schüttete den Inhalt einer Tüte keimfreien Nahrungsextraktes der Geschmacksnote „Bio-Vanille“ hinein und verrührte das weiße Pulver mit kochendem Wasser. Dann machte sie sich es auf ihrem Sofa bequem und schaltete den Fernseher ein. Im Morgenmagazin lief ein Beitrag zur sachgemäßen Desinfektion von häuslichen Sanitäreinrichtungen. Mia nippte nervös an ihrem dickflüssigen Frühstücksgetränk. Im Anschluss war ein Bericht über die aktuelle Ausstellung ihrer Galerie angekündigt, die am heutigen Abend eröffnen würde. BEAUTY CAN'T PROTECT US war der Titel einer Serie von großformatigen und farbenfrohen Airbrush-Arbeiten, für die Mikroben unter einem Mikroskop dem Künstler Modell standen. Die Ausstellung hatte schon im Vorfeld für Furore gesorgt. Für die einen waren die Bilder mutige Werke, mit denen der junge Künstler der drohenden Apokalypse fröhlich den Mittelfinger entgegenstreckte, für die anderen charakterloser Sensationalismus und eine zynische Verharmlosung der SITUATION. Mia wusste, dass die Eröffnung wegweisend für sie werden würde. Jetzt aber gab es nichts, was sie noch tun konnte. Die Galerieräume waren desinfiziert, versiegelt und durften bis zum Beginn der Vernissage um achtzehn Uhr nicht betreten werden. Mia erwartete weit mehr als die gewöhnlich zulässige Anzahl von Besuchern. Die Genehmigung dafür war neben einer horrenden Bearbeitungsgebühr an eine Reihe von Sondermaßnahmen zur Einhaltung des hygienischen Sicherheitsstandards gekoppelt. Das Tragen eines Mundschutzes und von Latexhandschuhen war Pflicht. Bei Zuwiderhandlung würde die S.P.A. die Veranstaltung ohne Vorwarnung auflösen. Aufgrund aktueller Ereignisse wurde die Innenstadt zur Hochsicherheitszone erklärt, die niemand ohne autorisierte Einladung betreten durfte. Dies war eine Reaktion auf anhaltende Gewalt in den Quarantäne-Zentren. In letzter Zeit war es dort vermehrt zu Protesten und Unruhen gekommen. Offiziellen Meldungen zufolge hatten die Sicherheitskräfte der S.P.A. die Lage vollends unter Kontrolle. Gleichzeitig sickerten unabhängige Berichte über verheerende Bedingen in den Lagern durch. Von völlig überfüllten Unterkünften und unzureichender Versorgung mit Lebensmitteln war die Rede, aber auch von Folterungen, Vergewaltigungen und willkürlichen Tötungen. Angeblich war es nun einer kleinen Gruppe von infizierten Rebellen gelungen, aus der Quarantäne auszubrechen und unbemerkt ins Stadtgebiet einzudringen.
Trotz der strengen Kontrollen im Vorfeld und der restriktiven Kleiderordnung war die Galerie brechend voll. Der Künstler stand neben dem bonbonfarbenen Portrait einer tausendfach vergrößerten Streptokokkenmutation und gab bereits das dritte Interview an diesem Abend. Art must not be afraid of death ... and money. Mia schnappte die Gesprächsfetzen im Vorbeigehen auf. Jemand, den sie nicht kannte rief ihren Namen und gab ihr eine Visitenkarte. „Ein faszinierender Abend“ sagte der Unbekannte und guckte ihr dabei geradewegs in die Augen. Mia war froh, dass der Mundschutz ihr verlegenes Lächeln verbarg. Dann fiel ihr Blick auf seine Hände. Sie atmete tief gegen die heftige Erregung an, die plötzlich in ihr hochstieg. „Reiß Dich zusammen“ sagte sie leise zu sich selbst, drehte sich weg und kümmerte sich um eine Gruppe anderer Gäste. Diese trugen wie alle Anwesenden weiße Ganzkörperanzüge, Mundschutzmasken und cremefarbene Latexhandschuhe - Standardmodelle aus den öffentlichen Spendern. Um so mehr stachen die in schwarzes Latex gehüllten Hände des Unbekannten aus der weiß-beigen Einheitlichkeit heraus. Mia wusste sofort, was dies bedeutete - ein geheimer Code, der sexuelle Präferenzen signalisierte - die Bereitschaft, zu Sex mit Körperkontakt und Flüssigkeitsaustausch. Dahinter stand ein komplexes System aus Konspiration mit immer wechselnden Treffpunkten und hohen Bestechungsgeldern, die an die Hygienespitzel der S.P.A. bezahlt werden mussten. Mia steckte die Visitenkarte ein. Sie wusste nicht, woran er es erkannt hatte. Allein der Gedanke daran machte ihr Angst - Angst die sich mit pochender, drängender Lust vermischte. Ihr Entschluss stand fest. Mit dem Erlös des nächsten verkauften Bildes würde sie sich den Zutritt in eine verbotene Welt verschaffen.
Die Gäste der Galerie waren zufrieden - mit sich selbst oder auch einfach nur glücklich, dabei zu sein, mitten drin, ein Teil der Szene. Das Alkoholverbot wurde mit sogenannten happy shots umgangen, die seit einiger Zeit vermehrt im Umlauf waren - kleine Gelatinekapseln, die sich unter der Zunge auflösten und den Körper in schützende Watte packten. Niemand achtete auf das, was draußen passierte, bis ein bewaffneter Trupp der S.P.A. schreiend die Galerie stürmte und ohne Vorwarnung in die Luft schoss. „Alle nach hinten, auf den Boden legen, nicht zu bewegen!“ Eigenartigerweise brach keinerlei Panik aus. Die Gäste gehorchten fast fröhlich, als sähen sie sich als Teil einer Inszenierung oder einer Performance, deren Sinn sich ihnen erst später erschließen würde. Nur Mia stand am Fenster und guckte gebannt nach draußen.
Seit Beginn der SITUATION hatte es keine Kundgebungen, keinen öffentlichen Protest mehr gegeben. Jetzt bewegte sich eine Gruppe von etwa 20 nackten Menschen auf die Galerie zu. Die Demonstranten riefen Parolen gegen die Bedingungen in den Quarantäne-Zentren und forderten gleichzeitig die Abschaffung der Sexualprohibition. Sie trugen Transparente, auf denen Slogans wie GENITALER WIDERSTAND JETZT! oder einfach nur ANTI-S.P.A. zu lesen waren. Ein Mann lief vorne weg. Er hatte eine starke Erektion und masturbierte mit aufreizenden Gesten. Sofort stürzten sich drei Leute der S.P.A. auf ihn, rissen ihn nieder und traten ihm mit ihren Stiefeln solange in der Unterleib, bis er reglos liegen blieb. Eine junge Frau mit kahl-rasiertem Kopf zog ein blutgetränktes Tampon aus ihrer Scheide und schleuderte es mit einem lauten Schrei den Sicherheitskräften entgegen. Ein gezielter Schuss feuerte ein Projektil ab, das durch die nackte Brust hindurch mitten in ihr Herz traf und dort explodierte. Ohne genau zu wissen warum, ging Mia plötzlich hinaus auf die Straße. Sie wusste, dass es sinnlos war. Sie würde niemanden schützen können, aber sie ignorierte die Stimmen, die sie anflehten, stehen zu bleiben und umzukehren. Mia's Blick fiel auf ein Paar, dass etwas seitlich am Eingang der Galerie stand. Die Frau war an die Wand gelehnt, der Mann drückte sich an sie. Sein Becken bewegte sich rhythmisch, während sie ihn fest umklammerte. Die Frau guckte Mia auffordernd an und lächelte: „Komm!“. Mia atmete schnell. Sie zog den Schutzanzug aus, dann öffnete sie ihr Kleid, das über Brüste und Po nach unten rutschte. Darunter war sie nackt. Sie wusste, dass sie die Kontrolle über sich bereits verloren hatte und ließ es zu.
Eine Kugel traf den Kopf der Frau genau zwischen den Augen. Ihr Körper zuckte unter der Wucht des Einschlags. Der Mann hielt sie noch fest - dann wurde auch er getroffen und sank mit ihr zu Boden. Als Mia die beiden erreichte, versuchte er röchelnd etwas zu sagen. Mia beugte sich zu ihm herab. „Ich weiß“, sagte sie und streichelte dabei sein blutiges Gesicht. Dann schloss sie die Augen und küsste zärtlich seine noch warmen Lippen.