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Whiskeyweiberweihnacht

Beitritt
22.11.2005
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Whiskeyweiberweihnacht

Ein modernes Weihnachtsmärchen​

Die Straße, die ich mit schweren Beinen lief, führte durch die Eiswüste Nevadas bis hoffentlich Las Vegas, wo Jemand wie ich vielleicht noch Arbeit finden konnte.
Es war, als wären die Sterne vom Himmel gefallen, erloschen, verglüht und verdampft, und nur noch der Abendstern, die Venus, der Planet unser aller Ende, schien der Apokalypse zu trotzen, und ich humpelte auf ihn zu, benommen vom Hunger, hoffnungslos hoffend, die Whiskeyflasche am Hals umklammernd, ein Schluck für die Seele, einen auf die Wunde am Bein, einen für den Mut, einen für den Durst.
Es war vor zwei Nächten passiert: Ich war von Reno aufgebrochen um mein Glück in Las Vegas zu versuchen. In Reno gab es für mich nur noch die Prostitution. Lieber wollte ich elendig in der Kälte verrecken, als noch einmal meinen Arsch hinhalten zu müssen. Ein Pick-up mit zwei Leuten nahm mich mit. Ich musste wohl an einer falschen Meile der Straße gestanden haben, denn sie boten mir Allerlei für meinen Arsch, bis mir der Beifahrer schließlich sein Messer in den Oberschenkel stach, woraufhin ich ins Lenkrad greifen konnte, dass der Wagen auf dem Eis rutschte und kippte. Den Fahrer musste ich noch töten, der andere hatte den Unfall schon nicht überlebt. Viel mehr als eine Pulle billigen Whiskey und das Messer war nicht zu gebrauchen, auch das Auto war dahin. Ich will es nicht dramatischer erzählen, als es war. Passiert so was doch ständig. Ich hatte Glück. Mehr nicht.
Zuerst hielt ich den Lichtstrahl am Himmel für eine Fatahmorgana, aber desto näher ich kam, umso eindeutiger wurden die Konturen einer Oase.
Es war eine mit prallem, grauem Neonlicht beleuchtete, zu einer Bar umfunktionierte Scheune, ein kleiner Stall daneben. Jemand stand vor mir auf der Straße und pisste seinen Namen in den Schnee.
„Hey Rod!“, atmete ich. Das d war ihm misslungen. Meine Stimme klang fremd.
„Hey Mann. Sieht so aus, als würdest du es nicht mehr lange machen!“ Er schien nüchtern zu sein, schielte aber zu meiner Pulle. „Ich war mal Arzt.“
„Willst du die Hälfte der Pulle dafür haben?“
„Das ist ein deal!“ Er lachte.
„Siehst du den Stall dort? Es wird am besten sein, wenn du dich dort niederlegst. Ich werde mit Mull wiederkommen.“
„Einverstanden. Ich habe keine andere Möglichkeit, als dir zu vertrauen. Ich heiße John Christopher“, sagte ich, als er sich schon weggedreht hatte.
„Ich hätte dir die Flasche schon lange nehmen können. Für so eine Flasche muss ich da drin ganz schön oft meinen Arsch hochhalten. Aber ich finde dich irgendwie süß. Und ich will auch nicht, dass du in die Bar gehst. Mit dem Gemächt da zwischen deinen Beinen, würdest du uns nur die Kundschaft wegnehmen.“
„Oh nein. Die Zeiten sind vorbei. Eher sterbe ich.“
„Das werden wir vermeiden. Ich komme gleich wieder. Nicht weglaufen, Süßer!“
Ich ging zum Stall, der mit Schrott gefüllt war. Eine kleine Ecke war mit Stroh ausgelegt, und eine Hundekette, in der Wand verankert, lag herrenlos dort. Beim hinlegen fühlte ich mich schwer wie nie. Nicht dicker, beleibter oder fülliger. Einfach schwerer. So, als würde ich mit Sand volllaufen. Ja, wie ein Sack Sand drückte ich auf den Betonboden. Eine Kraft zog mich nach unten, wurde immer stärker. Nach unten heißt zur Mitte, zum Mittelpunkt, zum Kern der Kraft, zum Ursprung allem, meiner selbst.
Dann bekam ich einen Eimer Wasser ins Gesicht gekippt.
„Schlaf jetzt nicht ein, Hübscher. Sonst wars das mit dir.“
Um die Wunde nähen zu können, musste meine Haut erst auftauen.
„Sie haben darin eine Frau!“, sagte der langhaarige, mittlerweile betrunkene Rod.
„Ich dachte, es gäbe nur noch drei!“, schrie ich erschrocken. „Eine in London, eine in Tokio, und eine in …“
„Pssst! Glaubst du das wirklich? Was meinst du, was mein Boss damit verdient? Fünf Gallonen Öl für zehn Minuten. Der König nimmt sie ihm weg, ohne Bezahlung, wenn er es weiß. Und ausplaudern kann es niemand. Alle, die hier hinkamen, sind auch geblieben. Sie arbeiten tagsüber an den Ölpumpen hinter der Scheune. Die sieht man nachts nicht. Wenn sie die fünf Gallonen gemacht haben, dürfen sie vielleicht ran. Wir sind nahezu dreihundert mittlerweile, aber genau kann ich es nicht sagen. Sie töten sich auf den Feldern. Und wenn sie trotzdem nicht genug beisammen haben, mach ich es ihnen für zwei Gallonen.“
„Was wollt ihr mit den Gallonen?“
„Irgendwomit müssen wir ja bezahlen und bezahlt werden. Alles andere wäre pure Anarchie! Wir sind doch nicht in Europa!“
„Verstehe. Und? Gebärt die Frau?“
„Nur Jungs, wie all die anderen seit Jahren. Wie alle Frauen, seit ich denken kann! Der Mann ist zu einer Pest geworden, zu seinem eigenen Untergang. Kennst du die Sage?“
„Die erste Frau, Eva, hat einen Mann, Adam, aus einer ihrer Rippen geschnitzt.“
„Hey hey. Intellektuell ist der Hübsche auch noch. Ja, der erste Mensch war eine Frau. Also ist der letzte Mensch ein Mann.“
„Blödsinn!“
„So? Also glaubst du nicht an die christliche Evolutionstheorie von William Potos?“
„Nein, ich glaube an gar nichts.“
„Niemand glaubt an gar nichts. Agnostiker werden ihre Kirchen im Himmel bauen! Dann glaubst du vielleicht an die arithmetische Theorie von Abraham Nickel?“
„Dass das Universum die Frauen verschluckt, bevor sie geboren werden, dass sie auf der Venus genau so elendig zugrunde gehen wie wir hier? Das ich nicht lache. Sämtliche Untersuchungen sind auf Sand gebaut. Man hat für nichts einen handfesten Beweis. Wenn du mich fragst: Gaia hasst uns! Sie will uns elendig verrecken sehen. Alles fing doch mit der grauen Regression an. Der große Krieg, die große Bombe hat alles grau gemacht, uns die Farben genommen, und mit den Farben die Frauen. Den Nordpol haben sie zerbombt, Russland, Australien, China … die halbe Welt, das Klima haben sie gekippt, und dann hat der Antichrist „Apokalyptika“ gezündet. Diese Biobombe, die uns alle unfruchtbar machen sollte. Und dann habt ihr alle gelacht, als doch weiter Kinder geboren worden sind. Und wie lange habt ihr gebraucht um zu merken, dass es alles nur Jungs sind, dass einfach nur noch Jungs gezeugt werden können. „Apokalyptika“ hat ihr Ziel erreicht und der Antichrist lacht. Und dann wurde gefickt! Wie die Kesselflicker hat man früher einmal gesagt. Patriotisch wurde gefickt, christlich gezeugt, rituell, öffentlich, künstlich befruchtet. Die Themse war voll mit Föten! Hast du die Fotos gesehen? Und dann waren wir überbevölkert, überbevölkert mit Jungs. Kein Wunder, dass wir uns über den Haufen geschossen haben. Und wir sollten uns noch schneller über den Haufen schießen. Wir werden biologisch dezimiert! Wir können noch so viele Geschenke ins fruchtbare Land des Antichristen schicken. Wir haben nichts, was sie brauchen. Und sie haben alles, was wir brauchen im Überfluss. Sie rotten uns aus. Wenn die Bombe, an der so eifrig gearbeitet wird, fertig ist, dann können wir vielleicht noch mal Frauen von ihnen erpressen. Aber was, wenn sie sich nicht erpressen lassen? Dann ist alles Leben auf Erden beendet. Außerdem haben sie eine noch größere Bombe. Wenn wir, Milliarden von Männern die wir sind, einmarschieren, ist unser Endsieg das Ende der Welt. Der Antichrist sitzt am roten Knopf, und er würde nicht zögern. Und die Drei, beziehungsweise vier Frauen, die wir hier noch haben, sind alt. Sie machen nicht mehr lange. Was quält man sie so? Die ganze Welt soll es bei ihnen versuchen. Das Ende des Lebens ist eine riesige Bukkakeparty. Welcher Nostradamus hätte sich das erträumen lassen? Täglich pilgern sie zu den Tempeln, in denen die Frauen an ein Bett gekettet sind, und versuchen ihr Glück. Operationssäle mit Himmelbetten sind das. Nach drei Stunden schon kann man jetzt das Ergebnis erkennen, und immer ist es negativ. Ein Junge ist negativ und zack, spült man die befruchtete Eizelle wieder frei. Frag mich nicht wie. Widerlich!“
„Hast du es einmal versucht?“, fragte Rod und hielt die Nadel unters Feuerzeug.
„Nein, und ich werde es auch nicht versuchen! Da ist die Welt kurz vor dem Untergang, und wenn man mit der letzten Frau auf Erden schlafen will, muss man soviel Geld bezahlen, wie man nicht hat, und dass, obwohl es kaum noch Wert hat. Und ich hab kein Gesundheitszeugnis. Außerdem die ganze Bürokratiescheiße!“
„Stehst auch nicht auf Papierkram, wie?“
„Nein, man. Gib mir auch mal die Pulle. Wenn du gleich den ersten Stich machst, will ich betrunken sein. Weißt du, warum es nicht funktioniert? Diese ganzen reichen Wichser habens nicht drauf. Die sollen einen wie uns da mal ranlassen. Wär doch gelacht, wenn ich nicht das hübscheste Mädchen, was jemals geboren wurde, zeugen könnte.“
Wir lachten.
„Weißt du noch, wie Frauen aussehen, Rod?“
„Nur aus Filmen.“
„Ich träume immer von einer. Sie hat schwarzes Haar, grüne Augen und ein Lächeln wie der Sonneaufgang in der alten Welt.“
„Und? Hast du es schon mit ihr gemacht?“
„Nein, ich traue mich nicht. Einmal hätte ich mit meinem Finger fast ihre Lippen berührt.“
„Ich habe fünf Gallonen. Ich würde sie dir geben. Versuch es!“
„Nein, danke.“
„Sie heißt Maria!“
„Ja und? So hieß meine Mutter auch.“
„Verstehst du denn nicht, dass du der Messias bist? Sie ist Maria, und du … deine Initialen. John Christopher. JC! Jesus Christus! Und der Stall. Das hier ist die Weihnachtsgeschichte!“
„Und du bist der Esel! Mach dich nicht lächerlich, Rod.“
„Was hast du schon zu verlieren? Ich werde sie zu dir schaffen, hierhin, in diesen Stall. Ich bin für Marias allmorgendliche Reinigung zuständig. Sie kann nicht mehr gehen, ich werde sie tragen müssen.“
„Wie alt ist sie?“
„Ein ganz junges Ding! Vierundzwanzig. Sie ist die Tochter des Besitzers. Er selbst ist jeden Tag der letzte.“
„Ich wünsche euch die Bombe!“
„Ihr seid so gut, mein Messias! Aber auch ihr werdet bei ihrem Anblick nicht widerstehen können! Und jetzt schlaf, ich werde dich flicken.“
Das waren die letzten Worte, die ich hörte. Als ich aufwachte, saß eine schwarzhaarige Frau mit grünen Augen vor mir. Meine Wunde war genäht und schmerzte, Rod war nicht zu sehen. Um uns lagen Trauben und Kissen und Kerzen.
„Ich heiße nicht Maria!“
„So, wie heißt du denn, hübsches Kind?“
„Gaia!“
Ich lachte.
„Ich bin die Königin der Welt. Ich bin die letzte Frau auf Erden. Achte darauf, wie du mit mir sprichst.“
Sie war nackt und wunderschön. Wunderschön und nackt. Ich vergaß, dass zu erwähnen.
„Willst du nicht mit mir schlafen? Rod sagte, du seiest der Messias. Was auch immer das ist. Es klingt toll.“
In dem Moment griff ich das Messer und stach ihr in die wunderschöne Brust, dass wunderschönes Blut spritzte und sich ihre wunderschönen Augen schlossen.
Wenn ich mich nicht irre, war es genau dieser Moment, indem in einem kleinen Dorf nahe Florenz ein Mädchen geboren wurde. Man nannte sie Gaia.

Fröhliche Weihnachten nachträglich!!

 

Hallo Aris,

da sich niemand deiner Kg annehmen möchte, werde ich mal daran versuchen.
Mein erster eindruck war: Stark!
Den ersten Teil fand ich atmosphärisch intensiv geschrieben, düster und kraftvoll.
Deine Aufklärung dann, wie es um die Welt steht/ was geschehen ist, wirkt arg reingedroschen. Es sprengt den Rahmen der Geschichte, weil du das alles nur für den Leser erzählst. Die Figuren würden so nicht miteinander sprechen. Wenn man Visionen dieser Art unter bringen möchte, ist es natürlich immer etwas schwierig, dies authentisch rüberkommen zu lassen, aber hier hast du das etwas ungeschickt gehämmert.
Die Idee, die dahinter steckt, finde ich wiederum gut, wenn diese auch bereits aus diversen Endzeitfilmen bekannt ist ;)
Deine Anspielungen auf die Weihnachtsgeschichte finde ich angenehm dezent aber doch erkennbar gehalten. Das Ende jedoch wirkt mir dann wieder zu reißerisch.

Alles in allem einige starke Stellen, doch in seiner Gesamtheit noch nicht wirklich rund ...

grüßlichst
weltenläufer

 

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