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Where the streets have no name
Jeden Tag wieder trafen sie sich hier. Die meisten kamen um 17 Uhr von der Arbeit, alle waren angeblich überzeugte Junggesellen. Die Frage, ob der Gegenüber wirklich von seinem Single-Leben überzeugt war, wurde nie gestellt, vielleicht, weil man sich davor fürchtete, dasselbe gefragt zu werden. Martin und Sascha kamen meist nicht von der Arbeit, sie kamen vom Sport. Seit einigen Jahren schon studierten sie Sport an der Uni, spielten Basketball in der Regionalliga. In der kurzen Zeit zwischen Studium und Training waren auch sie hier, um die kurze Pause mit ihren alten Schulfreunden zu verbringen. Ab und zu fragten sie sich, ob es wohl viele Männerfreundschaften wie diese gab: seit über acht Jahren - seit ihrem Abitur - trafen sie sich fast täglich in diesem Bistro und redeten über Gott und die Welt; wobei ihre Götter meist Sportler waren. Sie trafen sich hier, obwohl sie alle in derselben Siedlung wohnten. Hier war es einfach schon immer gemütlich gewesen.
19.06.2002
Henning wollte sich gerade auf den Weg nach Hause machen, als Martin und Sascha den Raum betraten - später als gewöhnlich, die anderen waren schon weg.
"Hi, Kleiner."
"Na, ihr. Gleich ist's dunkel und ihr traut euch noch aus dem Haus?!"
"Mach keine Scherze. An der Uni wird gestreikt, darum kamen wir nicht in die Sporthalle. Und das kurz vor den Prüfungen", antwortete Sascha prompt. Er war nicht wenig genervt gewesen, was aber vergessen war, als sich die beiden zu Henning an den Tresen setzten.
"Der Trainer hat den Schlüssel besorgt, hat aber `ne Stunde gedauert" schob Martin noch hinterher, der auch gleich auf die übliche Art vom Wirt begrüßt wurde: mit einem Schulterklopfen, das ihn regelmäßig fast vom Hocker warf.
"Die anderen sind schon weg, wie ihr seht, vor ein paar Minuten. Ich wollte nur noch in Ruhe das Spiel zu ende gucken, dann wollte ich auch gehen" sagte Henning und zeigte auf den Fernseher oben in der Ecke, auf dem gerade Colina zu sehen war, wie er einem Mailänder Spieler eine gelbe Karte gab (Herr Colina ist ein italienischer Fußball-Schiedsrichter, was hier aber nichts weiter zur Sache tut). Es war eine Wiederholung von kurz vor Ende der Saison, aber es war eben Fußball.
"Hast du Lust, noch etwas zu bleiben. Zu dritt wäre Skat doch nicht schlecht."
"In Ordnung, hab' kein Date heute."
20.06.2002
Henning hatte immer noch einen leichten Kater, als er nach der Arbeit vom Büro direkt zum Bistro fuhr. Dort angekommen bestellte er sich einen Kaffee und ein Baguette, das er in Ruhe in einer Ecke des kleinen Raumes aß. Er war der erste heute, da er als Einziger samstags arbeiten musste und nach der Arbeit keine Lust hatte, in seine einsame Wohnung zu fahren. Die anderen kamen immer erst nachmittags, was ihm an diesem Tag ganz recht war. So konnte er sich noch etwas entspannen. Die beiden Sportler konnten ausschlafen, er hatte jetzt gerade seine Erholungs-Phase. Bei einer Partie Skat konnte er nicht nein sagen, ob er nun am nächsten Morgen früh raus musste oder nicht. Wenn nur die Sambuca-Runden nicht wären, die man auszugeben hatte, wenn man eine Schnapszahl oder Leiter hatte, oder wenn man sich vergab, was im angetrunkenen Zustand schon einmal vorkommen konnte.
Gerade, als er seinen Teller zum Tresen gebracht und einen weiteren Kaffee bestellt hatte, kamen Thomas und Jo zur Tür herein. Henning sah sie und erweiterte seine Bestellung sofort auf drei Kaffee. Wie jeden Tag tranken Tom und Jo ihren Nachmittags-Kaffee.
Die beiden Sportler ließen heute auf sich warten (warum nur?), aber sonst waren sie vollständig versammelt, als im Fernseher ein Wochenrückblick auf die Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft über die Mattscheibe lief.
"Meine Güte, siehst du heute ausgepumpt aus", lachte Jo den etwas müde wirkenden Henning an. "Gestern wieder Geld verloren?" Anscheinend hatte jemand geplaudert. Er hatte beim Cent-Skat ein paar Euro verloren, was bei seinem Alkoholpegel am letzten Abend kein Wunder war.
"Wer hat dir das denn in's Ohr gesetzt?"
"Ich hab unsere Super-Basketballer gerade am Bahnhof getroffen. Sie kommen auch gleich und wollen dir eine Chance geben, deine 30 Euro wiederzubekommen."
Henning schaute etwas erstaunt. Er wusste ehrlich nicht, ob die beiden übertrieben hatten oder ob er nur zu betrunken gewesen war, sich an so eine Summe erinnern zu können.
"Die beiden haben aber dick aufgetragen", versuchte er sich schnell rauszureden.
"So wie deine Augen und deine Hautfarbe heute nicht lügen können, kannst du mir auch nichts vormachen. Du siehst ja aus wie der Kerl an der Bushaltestelle!"
Henning schaute nach draußen und musste sofort blinzeln. Seine Augen waren tatsächlich etwas empfindlich heute, aber er sah den angesprochenen Mann, wie er direkt vor dem großen Fenster des Bistros auf der Wartebank der Haltestelle saß. Er sah nicht aus wie ein Penner, aber auch nicht wie ein "Normalbürger". Es lag eine gewisse Traurigkeit in seinem Gesichtsausdruck, dass konnte er sogar von der Seite sehen.
"Ach, bestell mir noch `nen Kaffee und dann pöbele andere Gäste an", sagte Henning grinsend und schubste Jo leicht weg.
"Den vierzehnten Kaffee für unseren müden Freund hier", rief Jo wild gestikulierend, als ob es ein Notfall sei. Der Wirt lachte und wandte sich zur Küche um, wo er bereits die zweite Kanne in den letzten 30 Minuten gekocht hatte. Nachmittags kochte er immer ganz normale Kannen Kaffee, die er den Freunden preiswert überließ.
23.06.2002
Das Viertelfinale hatte seine Spuren deutlichst auf der Konstitution der Stammkundschaft hinterlassen. Jo war an diesem Tag zu Hause geblieben, alle anderen diskutierten bei Kaffee und Kuchen über die Spiele der letzten Tage. Da Jo nicht da war, benutzte Henning dessen Spruch von vor drei Tagen, um Sascha zu erheitern.
"Meine Güte, ich fühle mich ja schon nicht gerade gut heute. Aber du, du siehst ja aus wie der Penner von der Bushaltestelle!"
"Ich glaube nicht, dass er ein Penner ist. Dafür ist seine Brille und seine Kleidung zu fein", antwortete dieser völlig trocken, um Henning den Wind aus den Segeln zu nehmen.
"Und warum sitzt er dann manchmal stundenlang da und lässt jeden Bus vorbeifahren? Doch wohl deshalb, weil er hier von draußen etwas fernsehen kann und es hier warm ist, dank des Kaufhauseingangs nebenan."
"Ich weiß nicht. Hast du seine Schuhe gesehen? Sehen auch nicht nach Penner aus."
"Mensch, jetzt versuch nicht, ihn schön zu reden. Was macht ein Mittvierziger jeden Tag hier? Arbeiten? Als Platzanwärmer?"
"Was weiß ich. Frag ihn doch", konterte er.
"Ja, sicher, um mir Läuse einzufangen."
24.06.2002
Sie waren alle gutgelaunt und früh im Bistro erschienen, das erste Mal seit den Viertelfinals vollständig. Da der Wirt Geburtstag hatte, war die Stimmung ausgelassen; schließlich kostete heute alles nur die Hälfte, woraufhin auch die beiden Studenten Sascha und Martin ein Pils nach dem anderen bestellten. Sie waren die einzigen, die nicht gut verdienten und dadurch auch die einzigen, die selten mit dem Taxi nach Hause fuhren (nämlich nur dann, wenn die anderen auch ein Taxi nahmen).
"Sieh mal, da ist der Penner wieder", nahm Sascha das Gespräch vom Vortag wieder auf und schob Hennings Kopf Richtung Fenster.
Henning verzog das Gesicht, stand auf und ging zur Tür.
"Was machst du denn jetzt", fragte Thomas.
"Ich hol den angeblichen Penner rein. Ich will jetzt endlich wissen, warum er hier tagtäglich sitzt und immer nur für kurze Zeit verschwindet."
"20 Euro auf Penner", konterte Thomas prompt. Henning ging darauf ein.
Henning drückte die Klinke runter, ging um die Ecke, direkt am Fenster vorbei. Er setzte sich neben den Mann auf die Wartebank und sprach ihn offensichtlich an. Die anderen konnten nur glotzen und fragten sich, was er wohl sagte.
"Wahrscheinlich pumpt er ihn gerade an."
"Ach, hör auf", sagte Jo und schaute Thomas gespielt böse an. Die Grimasse gelang nicht wirklich, dafür waren seine Gesichtsmuskeln durch den Alkohol schon viel zu entspannt. Selten war er um die Uhrzeit schon so betrunken, aber was sollte man machen, wenn der Wirt der Stammkneipe Geburtstag hatte?!
Nach einigen Minuten standen Henning und der Unbekannte auf und kamen herein.
"Kannst mir die 30 Euro schon mal rausholen!"
"20".
"Schade."
Der Mann hatte noch nichts gesagt, zog seinen Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe neben der Tür.
Henning stellte ihn vor: "Winni."
"Eigentlich Winfried, aber ich finde den Namen grässlich. Schon als Kind wurde ich nur Winni gerufen", sagte der Mittvierziger und kam näher. Der Wirt kam schon, die Freunde baten ihn, sich zu setzen.
"Auch, wenn es etwas peinlich ist, wir fragen uns seit Tagen, was Sie da draußen machen."
"Ich konnte ja nicht ahnen, dass es so auffällig ist. Aber euer Freund Henning sagte mir schon, dass ihr so gut wie jeden Tag hier seid. Da muss es ja auffallen."
"Dann spann uns nicht weiter auf die Folter", preschte Thomas hervor.
"Etwas mehr Feingefühl bitte", sagte Henning. "Er hat hier seine Frau kennen gelernt."
"Ja", sagte der Mann langsam, vielleicht verlegen. "Sie ist vor einigen Wochen an Krebs gestorben. Ich hatte sie vor über 20 Jahren an dieser Haltestelle kennen gelernt."
"Oh, das tut mir leid", entschuldigte sich Thomas.
"Das konnten Sie ja nicht wissen. Ich habe meinen gesamten Jahresurlaub genommen, um darüber hinwegzukommen. Deshalb bin ich bei gutem Wetter immer hier. Hier kann ich mich erinnern, hier kann ich nachdenken. Es ist sehr schwer."
Sie tranken einige Gläser Pils zusammen und konnten den Mann schnell aufheitern. Die Freunde, der Mann, einige andere Gäste, alle feierten zusammen den Geburtstag des Wirtes. Sie hatten das Gefühl, dem Mann geholfen zu haben.
Nach einigen Stunden, die Sonne war schon lange untergegangen, waren sie allerdings allesamt so betrunken, dass man nicht mehr wirklich von "Helfen" sprechen konnte. Der Mann war immer noch da, hatte bereits eine Hand voll Lokalrunden gegeben und bestellte bereits die nächste.
Thomas lallte "Mensch, Winni, du kannst doch nicht so viel Geld hier lassen."
"Wieso nicht? An Geld mangelt es mir nicht, aber für Geld kann man sich seine Frau nicht zurückkaufen."
Thomas wusste nicht recht, was er sagen sollte. "Ja", war das einzige, das er nach einigen Sekunden herausbrachte.
"Die nächste Runde geht aber auf mich", rief Henning herüber, der die beiden mit angehört hatte. "Schließlich habe ich hier noch 20 Euro Wettgewinn, die ich gewinnbringend anlegen muss!"
"Behaltet ihr euer Geld mal für euch", sagte Winni. "Ich habe wirklich reichlich."
"Ja, aber du kannst uns doch hier nicht aushalten, wir kennen uns erst ein paar Stunden."
"Jetzt springt über euren Schatten! Ich bezahle und damit fertig. Ich sehe doch, dass einige hier schon zweimal nachgesehen haben, wie viele Kreuze sie auf dem Deckel haben."
"Ach, das ist Zufall."
"Jetzt sträubt euch nicht, seid doch einfach froh, dass ihr nur halb so viel bezahlen müsst. Ich bin froh, dass ihr mich hereingebeten habt. So kann ich vielleicht heute Nacht gut schlafen und bin abgelenkt. Ende der Diskussion."
"Wir lassen immer anschreiben und zahlen nur einmal im Monat. Ist also kein Problem."
"Na dann ist es ja in Ordnung. Dann lasse ich mich auch gerne einladen."
Um vier Uhr morgens konnte fast keiner der Gäste mehr stehen. Selbst der Wirt hatte vor einer halben Stunde sein erstes Bier getrunken, da nur noch seine Stammgäste anwesend waren - und Winni, der ja aber Stamm-vor-dem-Fenster-Sitzer war. Er war aber noch so bei Verstand, dass er für die Freunde ein Großraum-Taxi rief, ohne sie zu fragen.
"So, Leute, in zehn Minuten kommt euer Taxi."
Keine Widerrede. Die meisten hatten genug damit zu tun, wach zu bleiben.
"Danke, Chef", brachte Thomas noch hervor, von Henning gestützt.
Eine Viertelstunde später saßen die Freunde schon draußen auf dem Bürgersteig. Der Wirt wollte verhindern, dass der ein oder andere einschlief, also verabschiedete er sich einfach von allen und schob sie nach draußen.
Winni war auch noch dabei. Er verabschiedete sich gerade von Thomas, als Henning als letzter heraustrat - er war noch auf der Toilette. Wie sich gute Freunde so verabschieden, wenn sie betrunken sind, umarmten sich die beiden, als seien sie ein Liebespaar.
"Hey, Winni, im Taxi ist Platz für acht Leute. Sollen wir dich mitnehmen?"
"Nö, danke. Ich wohne um die Ecke."
"Was heißt um die Ecke?"
"Dreihundert Meter."
"Sollen wir dich dann nicht eben mitnehmen? Dreihundert Meter können weit sein."
"Unsinn, ein paar Meter Fußweg tun mir ganz gut jetzt!"
"In Ordnung", sagte Henning resignierend und umarmte Winni, der jetzt deutlich fröhlicher aussah als noch am letzten Abend.
So ging das noch einige Minuten weiter, bis Winni sich von allen verabschiedet hatte und das Taxi eintraf. Während Henning vorne einstieg und dem Fahrer das Ziel nannte, ging Winni links am Auto entlang zum Fahrer und fragte ihn, was die Fahrt wohl kosten würde.
"15 Euro oder so, schätze ich", antwortete der dicke, bärtige Taxifahrer.
Winni gab ihm zwanzig Euro und sagte mit Blick auf Henning "für die letzten paar Runden".
Henning war viel zu betrunken um sich zu wehren. Er winkte Winni nur noch einmal zu, während dieser sich bereits umdrehte und ging.
Die Freunde waren alle im Taxi und deuteten dem Fahrer, sich auf den Weg zu machen.
Eine Weile später nahm das Taxi die richtige Ausfahrt der Autobahn und parkte vor der Straßenbahn-Haltestelle - die Haltestelle, an der die Freunde sonst manchmal aus der Stadt ankamen. Um diese Zeit fuhr nur leider keine Bahn mehr.
Das Taxometer zeigte knapp zwanzig Euro. ‚Schon wieder teurer geworden', dachte sich Henning. Aber er war gut drauf und schließlich sollte der Fahrer für die Trunkenheit seiner Gäste entlohnt werden. Also griff Henning in seine Jackett-Tasche, um seine Geldbörse hervorzuholen.
Der Fahrer und die anderen sahen jetzt, wie Henning wie wild sein Portemonnaie suchte.
"Laß mal sein, das findet sich schon", sagte Jo und wollte das Trinkgeld sponsern. Doch auch er konnte seine Börse nicht finden.
Niemand konnte eine Geldbörse finden.
Erst am nächsten Tag fiel Henning ein, dass die Bushaltestelle vor dem Bistro erst vor einigen Jahren eröffnet wurde.
[ 18.06.2002, 02:22: Beitrag editiert von: Jens Becker ]